Polen: Reif für eine Führungsrolle in der EU

Seit dem Zerfall des Ostblocks strebt Polen eine wirtschaftliche Integration mit der EU und militärische Kooperation mit den USA an. Dies führte oft zu schwierigen Balanceakten, während Warschaus Warnungen vor Russland lange ignoriert wurden. Heute hört Europa Polen endlich zu.

Beitragsbild zum Thema: Europa Polen. Aufnahme einer Bronzestatue eines Seiltänzers die über den Fluss Brda gespannt ist. Im Hintegrund sieht man Häuser des Ortes Bydgoszcz.
Die Statue „Gleichgewicht“ des Bildhauers Jerzy Kędziora wurde 2004 in Bydgoszcz anlässlich des polnischen EU-Beitritts über dem Fluss Brda installiert. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Westintegration. Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion war Westeuropa Polens wirtschaftliche Perspektive, die USA die militärische Schutzmacht.
  • Kassandra-Rufe. Polen warnte jahrelang vor Russlands Neo-Imperialismus und Putins Bedrohung, wurde aber lange ignoriert.
  • Achterbahn: Von der EU-skeptischen PiS-Regierung (2015-2023) über Tusks pro-europäische Koalition durchlebte Polen bedeutende Kurswechsel.
  • Neue Lokomotive. Polen gibt bereits fünf Prozent seines BIP für Verteidigung aus und könnte als neue europäische Führungskraft die schwächelnde deutsch-französische Achse ergänzen.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion waren sich alle politischen Kräfte in Polen einig: Wir wollen Teil des Westens sein. Diese Bemühungen mündeten 1999 in den NATO-Beitritt und 2004 in die EU-Mitgliedschaft. Doch so harmonisch das in der Rückschau wirken mag, lief es nicht immer ab. Tatsächlich waren die nach Westen orientierten Blöcke oft zwischen europäischen und amerikanischen Positionen hin- und hergerissen. Heute ist Polen dank seiner militärischen und wirtschaftlichen Stärke endlich imstande, die europäische Politik aktiv mitzugestalten.

Zwischen den Fronten

Schon zu Beginn des 21. Jahrhunderts wurde das Land unmittelbar mit den Spannungen in den transatlantischen Beziehungen konfrontiert. Als junges NATO-Mitglied gehörte Polen zu den wenigen Ländern, die die amerikanische Intervention im Irak im Frühjahr 2003 unterstützten und eigene Truppen entsandten.

Diese Haltung stieß auf scharfe Kritik europäischer Verbündeter, insbesondere Frankreichs. Die Spannungen innerhalb der EU und der NATO wurden zusätzlich vom damaligen US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld angeheizt, der zwischen den „mutigen Staaten der neuen EU“ und den „schwachen Mitgliedern der alten EU“ unterschied.

Missachtete Europa Polen zu lange?

In den folgenden Jahren warnte Polen immer wieder vor Russland – vor dessen Neo-Imperialismus und der westlichen Naivität gegenüber Putin. Doch niemand wollte die Rufe hören, Polen hatte damals einfach zu wenig politisches Gewicht. Die Hoffnung auf eine Verwestlichung Russlands erwies sich indes bald als Illusion. Als Russland im August 2008 Georgien angriff, konnte die EU keine Sanktionen gegen Putins Regime verabschieden – nur Polen, die skandinavischen und baltischen Staaten hatten darauf gedrängt.

Wir brauchen keinen Reset mit Russland. Wir wollen einen schnellen Vorlauf.

Herman Van Rompuy, 2010

Sechs Monate nach der Invasion strebten sowohl die EU als auch die USA unter dem neuen Präsidenten Barack Obama einen sogenannten „Reset“ mit Putin an – eine Neuordnung und Verbesserung der Beziehungen. Der Präsident des Europäischen Rats, Herman Van Rompuy, ging 2010 noch weiter und erklärte: „Wir brauchen keinen Reset. Wir wollen einen schnellen Vorlauf.“

Diese Haltung manifestierte sich etwa darin, dass die USA 2009 den vereinbarten Bau eines Raketenabwehrschilds im polnischen Redzikowo stoppten. Jahre später wurde zwar eine Anlage errichtet, jedoch mit deutlich geringerer Reichweite und reduzierten Fähigkeiten – ganz nach den Wünschen Russlands.

Reifes Mitglied

Im zweiten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts sah Europa Polen erstmals als bedeutendere Stimme. Mit der ersten polnischen EU-Ratspräsidentschaft in der zweiten Jahreshälfte 2011 streifte das Land seine Kinderschuhe ab und erwies sich als reifes Mitglied. Trotz anfänglicher Bedenken führte Polen die EU sechs Monate lang effizient. Donald Tusks Wahl zum Präsidenten des Europäischen Rates würdigte Polen als stabiles, berechenbares Land und Vorbild erfolgreicher Transformation.

Polen stand mit seiner Kritik an der Russland-Politik weitgehend allein da.

Dennoch stießen polnische Warnungen vor dem imperialen Russland weiterhin auf mangelndes Verständnis der westlichen Partner. Die EU war nach der Eurokrise hauptsächlich damit beschäftigt, ihre Wirtschaft zu sanieren. Selbst der Krieg im Donbass und die russische Annexion der Krim 2014 boten keinen ausreichenden Anlass für einzelne EU-Mitgliedstaaten, ihre stark gekürzten Verteidigungsausgaben zu erhöhen. Nur direkte Nachbarländer Russlands – darunter Polen und Lettland – stockten ihre Militärausgaben auf.

Wie gut die Beziehungen zwischen der EU und Russland trotz aller Warnsignale damals waren, zeigte sich nicht zuletzt im Energiebereich. Vor allem Deutschland und Österreich importierten enorme Mengen an Erdgas aus Russland. Polen stand mit seiner Kritik an dieser Politik weitgehend allein da.

Kurswechsel mit Folgen

Im Sommer 2015 drehte sich der politische Wind in Polen, was zu Konfrontationen mit der EU führte: Andrzej Duda, Kandidat der rechten Partei „Recht und Gerechtigkeit“ (PiS), wurde Präsident, anschließend gewann die PiS auch die Parlamentswahlen und blieb bis 2023 an der Macht. Die Partei nahm eine konfrontativere Haltung gegenüber Brüssel ein und ging zeitweise auf Kollisionskurs. Polen wurde nach Ungarn das zweite EU-Land, gegen das ein Verfahren zur Aussetzung bestimmter Mitgliedstaatenrechte eingeleitet wurde.

Entgegen weitverbreiteter Annahmen plädierte die PiS während ihrer Regierungszeit bis 2023 aber niemals öffentlich für Polens EU-Austritt. Die Partei versuchte vielmehr, die EU zu reformieren und deren nationalstaatlichen Charakter zu bewahren, während sie selbst konservative Werte betonte. Zudem konzentrierte sich die PiS auf bilaterale Beziehungen zu den USA, insbesondere während Trumps erster Amtszeit.

Neue Balance an der Spitze

Im Herbst 2023 gewann eine liberal-linke Koalition unter Donald Tusks Führung die polnischen Parlamentswahlen. Diese nahm eine pro-europäische Haltung ein und verbesserte die Beziehungen zu Frankreich und Deutschland. Doch trotz des Vorrangs, den die Regierung nun wieder den Beziehungen zur EU einräumte, blieben die starken transatlantischen Verbindungen Polens bestehen.

Im Juni heurigen Jahres fand die bis dato jüngste Kehrtwende in der polnischen Politik statt. Karol Nawrocki, ein PiS-Kandidat, wurde zum Präsidenten gewählt. Er wird voraussichtlich wieder eine EU-skeptischere Politik verfolgen und engere Beziehungen zu den USA fördern.

Verteidigung als oberste Priorität

Polen profitierte zweifellos von der nach 1989 entstandenen Weltordnung. Doch derzeit verschiebt sich die globale Ordnung. An die Stelle des globalen Austauschs und der möglichst guten Handelsbeziehungen tritt die Rivalität einzelner Großmächte. Die Rückkehr von Donald Trump als US-Präsident hat die westliche Zusammenarbeit erschüttert.

Polen will sich nun stärker an der Entwicklung der Gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik (GSVP) der EU beteiligen. Die NATO und damit die USA bleiben jedoch von größter Bedeutung. Polen möchte, dass die europäische Sicherheitspolitik die NATO ergänzt, anstatt eine separate Struktur zu bilden. 

Polen gibt bereits jetzt fünf Prozent seines BIP für Verteidigung aus und will weiter investieren. Um Trump zu gefallen, betont man die Zusammenarbeit mit der amerikanischen Rüstungsindustrie – während zugleich die EU-Verteidigungskooperation bestärkt wird.

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Zahlen & Fakten

Daher unterstützt Polen seit mehreren Monaten Initiativen wie „Security Action for Europe“ (SAFE) und die Schaffung einer schnellen Eingreiftruppe. Polen setzt sich für den Ausbau der europäischen Rüstungsindustrie ein und drängt darauf, mehr mittel- und osteuropäische Unternehmen in diese Initiativen einzubeziehen. Warschau möchte die politische und militärische Macht der Union stärken, damit Europa auf der globalen Bühne größeren Einfluss erlangt. Die aktuelle Situation zeigt deutlich, dass wirtschaftliche Stärke allein geopolitische Interessen nicht vollständig schützen kann. 

Eine große Herausforderung stellen Russlands hybride Kriegstaktiken dar: Desinformationskampagnen in sozialen Medien, Migrationsdruck an Polens Ostgrenze und Sabotageakte wie Lagerbrände, die mit russischen Agenten in Verbindung stehen. Anti-ukrainische, ausländerfeindliche und kriegsgegnerische Stimmungen – oft von Russland angeheizt – nehmen zu, ebenso wie Desinformation, die darauf abzielt, EU-Skepsis zu verstärken.

Darum braucht Europa Polen

Die entstehende neue Weltordnung erfordert ein noch größeres Engagement Polens sowohl in der EU als auch in der NATO. Polen muss eine Führungsrolle bei der Stärkung der europäischen Säule der NATO und der politischen Transformation der EU übernehmen. Die französisch-deutsche-Lokomotive reicht jetzt nicht mehr aus. Der Kontinent braucht eine neue, zusätzliche Kraft – darum benötigt Europa Polen in einer Koalition mit skandinavischen Ländern und mitteleuropäischen Staaten.

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Conclusio

Transformation. Polen hat sich seit 1989 erfolgreich in westliche Strukturen integriert, dabei jedoch oft zwischen EU- und US-Positionen navigieren müssen, während seine frühen Warnungen vor Russland lange ignoriert blieben. 

Schlüsselrolle. Diese Entwicklung zeigt, dass Polen dank seiner wirt­schaftlichen und militärischen Stärke eine entscheidende Position einnimmt, um die NATO-Ostflanke zu stärken und die EU-Verteidigungspolitik voranzutreiben. 

Koalition. In einer Koalition mit skandinavischen und mitteleuropäischen Staaten, könnte sich Warschau als zusätzliche „Lokomotive“ neben der deutsch-französischen Achse etablieren und somit dem Kontinent mehr Zusammenhalt bringen.

Weiterführende Quellen:

Erklärvideo der Medienplattform Der Standard: Die wichtigsten Antworten zum Artikel-7-Verfahren

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