Experten-Forum: Wie sicher ist Europa?

Stellen Sie sich vor, es ist Krieg und die Amerikaner gehen heim. Würde Russland die Nato durch einen Angriff provozieren, könnten die Europäer ohne US-Hilfe wenig entgegensetzen. Wie sich Europa selbst schützen kann, diskutierten hochkarätige Gäste beim Experten-Forum am Dienstag auf Einladung von Der Pragmaticus im Palais Coburg.

Experten-Forum zur Sicherheit Europas. Die vier Diskutanten sitzen auf einer Bühne unter einer Leinwand mit dem Logo von Der Pragmaticus.
Experten-Forum zur Verteidigung Europas – vlnr: Andreas Schnauder, Elisabeth Hoffberger-Pippan, Franz-Stefan Gady, Michael von Liechtenstein © Matthias Nemmert

Nato-Planer sind sich der Achillesferse des Bündnisses bewusst: Nur eine enge Landbrücke verbindet das Baltikum mit den restlichen NATO-Ländern. Von Belarus und der russischen Exklave Kaliningrad aus hätte Moskau die Möglichkeit, in einer Zangenbewegung die drei kleinen baltischen Staaten einzuschließen. Verschiedenste Szenarien werden in den Führungsstäben durchexerziert, eines haben sie alle gemein: Es wird eng und ohne US-Unterstützung könnte kein europäisches Land die Verteidigung organisieren. Wie Europa eine effektive und autonome Abschreckung aufbauen kann, wurde am Dienstag in der Hohen Kasematte des Palais Coburg in Wien beim Experten-Forum von Der Pragmaticus angeregt debattiert. 

Doch noch bevor die Diskussion richtig losging, bat Moderator und Der Pragmaticus Chefredakteur Andreas Schnauder das Publikum zu drei Sicherheitsthemen per App abzustimmen. Die Fragen stammen aus unserer repräsentativen Umfrage zum Thema Sicherheit. Die Antworten des Publikums wurden direkt mit jenen der breiten Bevölkerung verglichen.

  • Kommt es in den nächsten zehn Jahren zu einem Krieg auf EU-Boden?
    Ergebnis: Das Publikum war hier – sehr ähnlich wie die Bevölkerung – ziemlich 50:50 gespalten in seiner Einschätzung.
  • Würde die USA im Ernstfall Europa zur Hilfe eilen?
    Die Gäste des Experten-Forums waren sich mehrheitlich einig, dass auf die USA Verlass sei. Auch die Umfrageteilnehmer glauben mehrheitlich an US-Schützenhilfe, doch der Anteil der skeptischen Stimmen war deutlich höher.
  • Sollte sich Österreich militärisch an der Verteidigung der EU beteiligen?
    Hier zeigte sich eine große Diskrepanz: Während die Gäste der Veranstaltung zu rund 80 Prozent dafür waren, dass Österreich seinen EU-Partnern auch militärisch helfen sollte, sind nur rund 30 Prozent der Bevölkerung dafür und knapp 60 Prozent sprachen sich dagegen aus.

Die Ergebnisse sprechen eine klare Sprache: Die Kriegsgefahr wird ernst genommen, und die USA sind in den Augen vieler Bürger kein Garant für den Schutz Europas. Dabei sei es sekundär, wer das anstehende Rennen um das Weiße Haus gewinnt, wie Militärexperte Franz-Stefan Gady am Dienstag den über 100 geladenen Gästen darlegt: „Die US-Streitkräfte sind auf einen Zweifrontenkrieg in Europa und Asien ausgelegt und können sich nicht kurzer Zeit strukturell verändern.“

Der Experte rechnet vor, was die USA im Ernstfall überhaupt nach Europa schicken könnten. Das US-Militär hat eine Personalstärke von rund zwei Millionen. Mit Blick auf China und andere potenzielle Schauplätze würden die USA nur rund 280.000 Truppen nach Europa schicken, davon wären lediglich 25.000 bis 30.000 Kampftruppen für die Front verfügbar. „Eine schrecklich kleine Zahl“, lautet das Fazit.

Franz-Stefan Gady
Franz-Stefan Gady © Matthias Nemmert

Trump hat einen Punkt

Sicherheitsexpertin Elisabeth Hoffberger-Pippan betont, dass der ehemalige und womöglich künftige US-Präsident Donald Trump als eine „unguided missile“ agiere, wenn er die transatlantische Partnerschaft infrage stellt. Allerdings gibt die Expertin dem führenden Republikaner recht, wenn er von den Europäern mehr Investitionen in Rüstung einfordert. Viele NATO-Partner verfehlen das ausgemachte Ziel, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Verteidigung auszugeben. Aber auch die Forscherin am Leibniz-Institut für Friedens- und Konfliktforschung geht davon aus, dass unter einem Präsidenten Trump das Bündnis so weit hält, dass die USA im Ernstfall den Europäern zur Seite stehen. Dennoch stellt sich die Frage, wie Europa seine eigene Sicherheit garantieren kann, angesichts der zunehmend begrenzten Kapazitäten und isolationistischen Tendenzen Washingtons.

Elisabeth Hoffberger-Pippan
Elisabeth Hoffberger-Pippan © Matthias Nemmert

Auf den Punkt brachte die Lage Michael von Liechtenstein, Unternehmer und Herausgeber von Der Pragmaticus: „Wir sind über 500 Millionen Europäer, wir brauchen 350 Millionen Amerikaner, um uns gegen 140 Millionen Russen zu verteidigen – das ist grotesk.“ Der Gründer des Strategieberaters Geopolitical Intelligence Services (GIS) sieht zwei Richtungen innerhalb Europas mit Blick auf potenzielle Gefahren: In Zentral- und Osteuropa steht die Bedrohung durch Russland im Fokus, für Frankreich und die mediterranen Staaten stellt ein mögliches Machtvakuum in Nordafrika die Notwendigkeit dar, im Ernstfall einzugreifen. Eine einheitliche strategische Brille fehlt.

Was ist zu tun?

Für Franz-Stefan Gady ist klar, dass die oberste Priorität darauf liegt, die nationalen Armeen deutlich zu stärken. Debatten über eine EU-Armee oder eine europäische Nuklearmacht seien nicht sinnvoll. „Egal, was wir auf europäischer Ebene tun, wir werden die nukleare Abschreckung nicht ohne die USA gewährleisten.“ Um diesen Punkt zu illustrieren, verweist Gady auf den jüngsten Test einer Interkontinentalrakete in Russland. Diese einzelne Rakete wäre mit Sprengköpfen bestückt, die ganz Frankreich auslöschen könnten. Stattdessen sollten sich die NATO-Länder besser integrieren, ihr Milizsystem ausbauen, Truppen trainieren und in konventionelle Waffen investieren.

Die strategische Ausrichtung innerhalb Europas sei nicht gut koordiniert, wie Hoffberger-Pippan am Beispiel der „European Sky Shield Initiative“ erklärt: Deutschland und weitere teilnehmende Staaten setzten damit auf defensive Waffen, in dem Fall eine gemeinsame Beschaffung von Luftverteidigungssystemen, während Frankreich etwa, das nicht bei dem Programm mitmacht, eher auf offensive Systeme zur Abschreckung pocht. „Es wäre schön, wenn es eine gemeinsame Leitlinie innerhalb der europäischen NATO-Länder gäbe, weil die jetzigen Divergenzen zu Ineffizienz führen“, folgert die Expertin.

Ein großes Problem sei die Schwächung der europäischen Rüstungsindustrie, indem man sie in die „Schmuddelecke“ gestellt habe, betonte Michael von Liechtenstein. Das habe vor allem private Finanzierungen erschwert. Die EU hat im Rahmen der ESG-Kriterien ökologische, soziale und ethische Auflagen für Investoren der Verteidigungsbranche vorgeschrieben. Hier müsse es ein Umdenken geben: „Frieden ist auch ein Teil des ESG und Frieden kann man nicht bewahren, indem man schwach ist.“

Michael von Liechtenstein
Michael von Liechtenstein © Matthias Nemmert

Mit Blick auf Österreich stellte sich die Frage, ob die Neutralität zeitgemäß und überhaupt von Nutzen sei. Der einhellige Tenor der Runde: Die Neutralität bietet keinen Schutz und vergrämt andere Staaten. „Wir wollen ein Stück vom Kuchen haben, aber beim Backen nicht dabei sein“, fasste Hoffberger-Pippan den heimischen Ansatz zusammen.

Zahlreiche Fragen aus dem Publikum vertieften die Debatte: Wie nachhaltig ist Russland durch den Krieg in der Ukraine geschwächt? Wie sehen Kriege zukünftig aus? Wäre eine atomar bewaffnete Ukraine vor einem russischen Angriff verschont geblieben? Und vieles mehr. Die gesamte Diskussion können Sie hier nachschauen.

Weitere Eindrücke des Experten-Forums:

Andreas Schnauder, Elisabeth Hoffberger-Pippan, Franz-Stefan Gady und Michael von Liechtenstein
Andreas Schnauder, Elisabeth Hoffberger-Pippan, Franz-Stefan Gady und Michael von Liechtenstein © Matthias Nemmert
Jürgen Moosleithner, Elisabeth Hoffberger-Pippan, Franz-Stefan Gady, Michael von Liechtenstein und Andreas Schnauder
Jürgen Moosleithner, Elisabeth Hoffberger-Pippan, Franz-Stefan Gady, Michael von Liechtenstein und Andreas Schnauder © Matthias Nemmert
Yvonne Toncic
Yvonne Toncic © Matthias Nemmert
Christian Ortner
Christian Ortner © Matthias Nemmert
Velina Tchakarova
Velina Tchakarova © Matthias Nemmert
Walter Feichtinger
Walter Feichtinger © Matthias Nemmert
Wolfgang Gerstl
Wolfgang Gerstl © Matthias Nemmert
Ralph Janik
Ralph Janik © Matthias Nemmert
Johannes Berchtold
Johannes Berchtold © Matthias Nemmert
Barbara Kolm
Barbara Kolm © Matthias Nemmert
Manfred Ainedter
Manfred Ainedter © Matthias Nemmert

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