Fehlurteile: Fatale forensische Mängel

Ob Bissspuren oder Brandanalysen: Die Aussagen von Experten vor Gericht werden oft für bare Münze genommen. Sie führen zu tausenden Fehlurteilen.

Tyrone Hood hat Tränen in den Augen, nachdem er am 14. Januar 2015 aus dem Gefängnis entlassen wurde. Seine 50-jährige Haftstrafe wurde vom damaligen Gouverneur des Bundesstaates Illinois, Pat Quinn, aufgehoben. Das Bild illustriert einen Artikel über Fehlurteile aufgrund forensischer Methoden, die nicht wissenschaftlich sind.
Tyrone Hood, nachdem er am 14. Januar 2015 aus dem Gefängnis entlassen wurde. Seine 50-jährige Haftstrafe wurde vom damaligen Gouverneur des Bundesstaates Illinois, Pat Quinn, aufgehoben. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Unschuldig hinter Gittern. Immer wieder landen Menschen, die nichts verbrochen haben, im Gefängnis.
  • Falsche Forensik. Hinter vielen dieser Fehlurteile stecken forensische Methoden, die nicht wissenschaftlich sind.
  • Ungehörte Warnungen. Viele Experten warnen seit Jahren genau davor, doch Richter urteilen noch immer aufgrund dieser Methoden.
  • Gesetzeslücken. In vielen US-Bundesstaaten gibt es keine Möglichkeit, Fehlurteile zu revidieren.

„Wir, die Geschworenen, befinden die Angeklagte des Mordes für schuldig.“ Das waren die letzten Worte, die JoAnn Parks hörte, bevor sie zum Tod im Gefängnis verurteilt wurde. Lebenslänglich ohne Bewährung. Wir wissen jetzt, mehr als zwanzig Jahre später, dass sie eine unschuldige Mutter war, die gerade ihre drei Kinder bei einem tragischen Hausbrand verloren hatte. Sie ist nicht die Einzige, die diesen Albtraum durchlebt. Erstaunlich viele unschuldige Menschen sind aufgrund eines sehr unvollkommenen Justizsystems zu Unrecht inhaftiert oder sogar zum Tode verurteilt worden.

Im Jahr 2004 wurde Brandon Mayfield zu Unrecht verhaftet und als Terrorist eingestuft, nachdem in einem Madrider Bahnhof eine Bombe explodiert war, die über 190 Menschen in den Tod riss. Obwohl Mayfield Spanien nie besucht hatte, waren sich drei FBI-Agenten einig, dass ein Fingerabdruck auf dem Beutel mit Auslösern für die Sprengkörper mit 100-prozentiger Sicherheit mit Brandon Mayfield übereinstimmte. Hätten die spanischen Behörden nicht eingegriffen und den Fehler des FBI korrigiert, säße Mayfield heute zweifellos im Gefängnis; ohne die Möglichkeit, seine Unschuld zu beweisen.

Fehlurteile wegen falscher Bissspurenanalyse

William Richards wurde nach vier Schwurgerichtsprozessen zu Unrecht wegen Mordes an seiner Frau verurteilt. Im vierten Verfahren führte die Staatsanwaltschaft als vorgeblichen Beweis eine Bisswunde des Opfers an. Ein „Experte“ für Bissspuren erklärte den Geschworenen, dass er aufgrund seiner mehr als 40-jährigen Erfahrung mit Bissspuren belegen könne, dass Richards das Opfer gebissen habe, was auf seine Schuld hindeutete. Jahre später widerrief derselbe Experte seine Aussage vor Gericht und erklärte, seine Schlussfolgerungen seien wissenschaftlich nicht korrekt. Mehr als zwei Jahrzehnte später wurde Richards entlastet und für unschuldig befunden.

Leider gibt es in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt Tausende von Personen, die zu Unrecht verurteilt wurden.

Wie konnte das Strafrechtssystem so versagen? Die Antwort: fehlerhafte forensische Wissenschaft und von sich selbst überzeugte, falsche Experten. Leider gibt es in den Vereinigten Staaten und auf der ganzen Welt Tausende von Personen, die zu Unrecht verurteilt wurden. Um zu verstehen, wie und warum so viele Menschen fälschlicherweise für Verbrechen verurteilt wurden, die entweder gar nicht stattgefunden haben oder die von jemand anderem begangen wurden, muss man die Geschichte der forensischen Wissenschaft verstehen.

Viele forensische Methoden haben Mängel

Sie ist zwar schwer zu definieren, kann aber vereinfacht als die Anwendung der Wissenschaft im Rechtssystem bezeichnet werden. Beispiele für die forensische Wissenschaft sind die DNA-Analyse, die Analyse von Fingerabdrücken, die Untersuchung von Spuren diverser Tatwerkzeuge, die Untersuchung von Bränden und Sprengstoffen und verschiedene Untersuchungen von Spuren wie Haaren, Fasern und Bisswunden. Mit Ausnahme der DNA-Analyse haben die meisten forensischen Wissenschaften nicht in einem Labor begonnen, bevor sie in den Gerichtssaal gelangten. Jede dieser Wissenschaften hat, in unterschiedlichem Maße, ernsthafte Mängel.

Die bedauerliche Realität ist, dass die meisten forensischen Wissenschaften nicht so treffsicher sind, wie wir alle einst glaubten. Auch wenn ein Experte von seinen Ergebnissen überzeugt ist, bedeutet sein Vertrauen in sich selbst nicht unbedingt wissenschaftliche Korrektheit. Dies gilt insbesondere deshalb, weil die Genauigkeit eines Sachverständigen in den meisten forensischen Wissenschaften nicht geprüft wird. Außerdem werden sie von weiteren Faktoren beeinflusst: impliziter Voreingenommenheit, begrenzten Ressourcen und dem Druck der Öffentlichkeit, ein Verbrechen aufzuklären.

Fehlurteile: Ungehört Alarm geschlagen

In den vergangenen Jahren wurden verschiedene forensische Wissenschaften unter die Lupe genommen, um zu analysieren, wie Sachverständige vor Gericht eingesetzt werden und ob ihre wissenschaftlichen Gutachten zuverlässig sind. Schon ab dem Jahr 2009 schlugen verschiedene Organisationen Alarm und kritisierten, dass es vielen Disziplin an einer wirklich wissenschaftlichen Grundlage mangelt. Diese Organisationen – wie die „National Academy of Sciences“ (NAS) und die „Organization of Scientific Area Committees for Forensic Sciences“ (OSAC) – haben Richter, Geschworene und forensische Sachverständige gewarnt, dass es in den über 15 forensischen Disziplinen verheerende Mängel gibt, was deren Wissenschaftlichkeit betrifft.

Im Jahr 2009 kam die NAS zu der – eigentlich offensichtlichen – Schlussfolgerung, dass eine forensische Disziplin weniger zuverlässig ist, wenn der Experte unzuverlässige Methoden anwendet und seine Schlussfolgerungen hauptsächlich auf menschlichen Interpretationen anstatt wissenschaftlicher Methoden beruhen. In jeder forensischen Wissenschaft muss es einen systematischen Ansatz geben, mit dem ein Sachverständiger zu seinen Schlussfolgerungen kommt. Bei Branduntersuchungen müssen Sachverständige beispielsweise eine siebenstufige wissenschaftliche Methode anwenden, um festzustellen, wo das Feuer ausgebrochen ist und wie es entstanden ist. Diese Methode wurde allerdings erst 1992 eingeführt, und viele sachverständige Brandermittler weigerten sich noch Jahre später, sie anzuwenden. Vermutlich wenden viele Brandstiftungsexperten diese Methodik immer noch nicht richtig an.

Es änderte sich – nichts

Nachdem die NAS diese Ergebnisse veröffentlicht hatte, änderte sich in den Gerichtssälen – erst einmal gar nichts. Staatsanwälte verließen sich weiterhin auf forensische Disziplinen, obwohl diese Mängel aufwiesen, Richter ließen weiterhin zu, dass veraltete forensische Beweise berücksichtigt wurden und Geschworene schenkten Expertenaussagen weiterhin unbegründeten Glauben. Und, was am verheerendsten ist: Unschuldige Menschen wurden weiterhin zu Unrecht verurteilt und zu Gefängnisstrafen oder zum Tode verurteilt.

Wenn für eine Disziplin keine Fehlerquote bekannt ist, können sie Geschworene für fehlerlos halten.

Im Jahr 2016 unterzog das „President's Council of Advisors on Science and Technology“ (PCAST) die forensischen Disziplinen einer erneuten Bewertung. Diesmal kam der PCAST zu dem Schluss, dass Geschworene häufig von einem Experten in die Irre geführt werden, wenn die tatsächliche Fehlerquote in Bezug auf eine wissenschaftliche Schlussfolgerung unbekannt ist. Wenn für eine Disziplin keine Fehlerquote bekannt ist, können sie Geschworene für fehlerlos halten. Wie Brandon Garrett in seinem Buch Autopsy of a Crime Lab schreibt: „Wenn wir nicht wissen, wie zuverlässig eine forensische Technik ist, sollten wir sie nicht anwenden, bis diese grundlegende Frage beantwortet ist.“ Allerdings sind die Fehlerquoten in vielen forensischen Wissenschaften nicht gut dokumentiert oder gar nachgewiesen.

Nicht besser als der Zufall

Im Jahr 2017 beschäftigte sich die „American Association for the Advancement of Science“ (AAAS) mit den Fehlerquoten bei Branduntersuchungen von Flashover-Bränden. Flashover wird das Phänomen genannt, wenn sich ein kleiner Brand schlagartig in einen Vollbrand übergeht. Experten sind sich seit langem darüber im Klaren, dass ein Flashover Brandmuster verändern, löschen und erzeugen kann. Da sich ein Experte bei der Bestimmung des Brandursprungs auf Brandmuster verlässt, wird es dadurch sehr schwierig oder sogar unmöglich, den korrekten Brandursprung zu bestimmen, um herauszufinden, wo das Feuer ausgebrochen ist.

Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Brandermittler den korrekten Ursprung eines Brandes nach einem Flashover richtig bestimmt, ist möglicherweise nicht höher als würde er raten.

Die AAAS stellte schockiert fest: „Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Brandermittler den korrekten Ursprung eines Brandes nach einem Flashover richtig bestimmt, ist möglicherweise nicht höher als würde er raten.“ Bis heute haben wir nicht genügend Daten, um wirklich zu wissen, wie oft ein Brandermittler den Brandherd falsch bestimmt, wenn der gesamte Raum durch einen Flashover in Brand gerät. Das hat Staatsanwälte, Richter und Sachverständige jedoch nicht davon abgehalten, dieser fehlerhaften Methode Einlass in den Gerichtssaal zu gewähren, was zu weiteren unrechtmäßigen Verurteilungen wegen Brandstiftung führte.

Niemand weiß, wer gebissen hat

Ähnliches gilt für Bissspuren: Das U.S. National Institute of Standards and Technology (NIST) hat festgestellt, dass es für die Analyse von Bissspuren keinerlei wissenschaftliche Belege gibt. Dennoch lassen einige Richter weiterhin Bissspuren im Gerichtssaal zu, was zu Verurteilungen auf der Grundlage von unwissenschaftlichen Methoden führt.

Sie fragen sich vielleicht, warum dies weiterhin geschieht. Das liegt zumindest in den USA daran, dass wir uns in der Rechtsprechung an früheren Entscheidungen orientieren, um herauszufinden, wie wir Recht sprechen können. „Präzedenzfälle“ nennt man diese Entscheidungen. Wenn wir etwas in einem rechtlichen Rahmen schon einmal getan haben, können wir es wieder tun. Nur in zwingenden Fällen, die in der Regel vom Gesetzgeber oder den Wählern bestimmt werden, können wir das Gesetz ändern und uns von überholten Präzedenzfällen lösen.

Die Wissenschaft dagegen stellt sich selbst ständig in Frage und entwickelt sich weiter. Die Tendenz des Rechts, starr zu sein und jene der Wissenschaft, ständig im Wandel zu sein, widersprechen sich. Und diese Konstellation hat leider schwerwiegende Folgen gehabt, darunter viele Jahre unrechtmäßiger Inhaftierung oder im schlimmsten Fall die unrechtmäßige Verhängung der Todesstrafe.

Ein Viertel der Fehlurteile wegen falscher Forensik

Tatsächlich beruhen etwa 25 Prozent der 3.431 nachgewiesenen Fehlurteile in den Vereinigten Staaten auf einer Art fehlerhafter forensischer Wissenschaft – und diese Zahl spiegelt nicht die unschuldigen Menschen wider, die weiterhin inhaftiert sind, obwohl wissenschaftliche Fortschritte ihre Unschuld beweisen können. Denn während einige dieser Insassen ihre Freiheit erlangen, bleiben viele inhaftiert, weil das Gesetz einfach keinen Weg vorsieht, einen solch ungeheuerlichen Fehler zu korrigieren.

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Zahlen & Fakten

Derzeit gibt es nur in sieben US-Bundesstaaten Gesetze, die einer zu Unrecht verurteilten Person einen Weg in die Freiheit ermöglichen, wenn ihr Fall auf fehlerhaften forensischen Beweisen beruhte. Kalifornien ist einer dieser Staaten. Im Jahr 2015 erließ Kalifornien ein Gesetz über „falsche wissenschaftliche Beweise“, das den Gerichten den Weg für eine Neubewertung eines Falles ebnete, wenn eine Person eine wesentliche Veränderung in dem forensischen Bereich nachweisen konnte, der einst für ihre Verurteilung ausschlaggebend wurde. Dieses Gesetz stieß jedoch bei den Gerichten auf große Verwirrung und Widerstand. Die Hilferufe der Unschuldigen wurden sowohl durch die Abhängigkeit des Gesetzes von Präzedenzfällen als auch durch die langsamen Fortschritte der forensischen Wissenschaften gebremst.

Fehlurteile: Die dunkle Vergangenheit korrigieren

Aber Kalifornien hat seine zu Unrecht verurteilte Bevölkerung nicht aufgegeben. Um den Zweck des Gesetzes klarzustellen und jegliche Verwirrung oder Widerstände seitens der Gerichte zu beseitigen, hat die „California Innocence Coalition“, der auch Jasmin Harris vom „Innocence Center“ in San Diego angehört, einen Gesetzesvorschlag eingebracht, der jetzt im kalifornischen Strafgesetzbuch kodifiziert ist. Nach diesem Gesetz kann ein zu Unrecht Verurteilter ein neues Verfahren beantragen, wenn die Wissenschaft, die einst zur Verurteilung herangezogen wurde, Fortschritte macht und die Zuverlässigkeit der Methodik oder der Schlussfolgerungen der Expertenaussagen in Frage stellt.

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Zahlen & Fakten

Es bleibt zu hoffen, dass das neue kalifornische Gesetz die dunkle Vergangenheit der forensischen Wissenschaften zu korrigieren beginnt und die verheerenden Auswirkungen der „Junk Science“ im Gerichtssaal begrenzt. Wenn dies der Fall ist, könnte dieses Gesetz ein Vorbild für andere Staaten und Länder sein, die noch kein ähnliches Gesetz für ihre zu Unrecht verurteilte Bevölkerung haben.

Wie andere, die ebenfalls der festen Überzeugung sind, dass sich die Verwendung forensischer Beweise ändern muss, schon besser gesagt haben, kann das Gesetz nicht „die Augen vor wissenschaftlichen Veränderungen verschließen, ohne die Integrität der Justiz zu gefährden“. Und „da unser Verständnis der wissenschaftlichen Wahrheit wächst und sich ändert, muss das Gesetz der Wahrheit folgen, um die Gerechtigkeit zu sichern.“

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Conclusio

Viele der forensischen Methoden, die wir aus Filmen und Serien wie CSI kennen – etwa die Bissspurenanalyse – sind weit weniger wissenschaftlich als viele glauben. Deshalb führte ihre Anwendung über die Jahre zu hunderten Fehlurteilen. Es ist höchste Zeit, ihre Anwendung zu überdenken oder sie auf eine solide wissenschaftliche Basis zu stellen.

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