Der unmögliche perfekte Mord
Dank neuer Methoden in der Forensik wird der perfekte Mord immer schwieriger. Aber nicht alle Innovationen hielten, was sie versprachen. Oft landeten Unschuldige hinter Gittern.
Auf den Punkt gebracht
- Neue Methoden. Mittels forensischer Genealogie konnte unter anderem der seit Jahrzehnten gesuchte Golden State Killer gefasst werden.
- Virtuelle Obduktionen. In der Rechtsmedizin in Zürich werden dank Innovationen wie der Virtopsy sogar Obduktionen nach und nach abgeschafft.
- Falsche Forensik. Aber nicht alle Methoden hielten einer wissenschaftlichen Überprüfung stand – und sorgten für Fehlurteile.
- Wunderwaffe DNA? Die DNA-Analyse brachte die Wissenschaft zurück in die Forensik, aber auch sie hat ihre Mankos.
Barbara Rae-Venter ist gelernte Patentanwältin. Doch bei der Erforschung ihres eigenen Stammbaums hatte sie sich so sehr in die Genealogie hineingesteigert, dass es fast schon zu ihrem Beruf wurde. Mit einer eigenen Website unterstützt sie seither adoptierte Menschen bei der Suche nach deren leiblichen Eltern.
Im Frühling 2015 bekam Rae-Venter eine Mail, die ihr Leben verändern sollte. Absender war Peter Headley vom San Bernardino County Sheriff’s Department in Kalifornien. Es ging um eine junge Frau namens Lisa Jensen.
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Die Mail im Wortlaut: „Ich arbeite an einem ungeklärten Fall, bei dem ein Kind entführt wurde, als es circa zwei Jahre alt war; es wurde im Alter von circa fünf Jahren wiedergefunden. Wir kennen ihren richtigen Namen, ihr Geburtsdatum usw. nicht. Sie ist jetzt in ihren Dreißigern und die einzige bekannte Überlebende eines Kriminalfalls. Wir versuchen, ihr zu sagen, wer sie ist. Wir haben uns bei der Plattform Ancestry DNA angemeldet und einen Treffer für einen Cousin zweiten Grades erhalten. Ich möchte Sie fragen, ob Sie weitere Ratschläge haben.“
Eine neue forensische Methode wird geboren
Rae-Venter griff sofort zum Hörer, erzählt sie dem Pragmaticus:
„Lisas Geschichte und ihr Kampf um ihre Identität bewegten mich, und ich meldete mich freiwillig, um auf jede erdenkliche Weise zu helfen. Lisas DNA-Test hatte mehrere hundert genetische Übereinstimmungen ergeben. Als Peter Headley die lange Liste der Namen betrachtete, wurde ihm klar, dass er nicht wusste, was er mit den Informationen anfangen sollte. Das war der Punkt, an dem er beschloss, dass er Hilfe brauchte. Headley bot mir an, die Leitung des DNA-Teils des Falles zu übernehmen, und am 3. März 2015 schloss ich mich dem Team an. Ich war eine freiwillige genetische Genealogin ohne jegliche Erfahrung in der Strafverfolgung, doch plötzlich stand ich im Mittelpunkt eines ungeklärten Kriminalfalls. Wie um alles in der Welt war das passiert? “
Tatsächlich konnte Rae-Venter die wahre Identität der Frau lüften. Doch das war erst der Anfang.
„Es gelang mir, Lisas Mutter als eine Frau namens Denise Beaudin aus Manchester, New Hampshire, zu identifizieren. Ich konnte auch eine Familie von fünf Brüdern identifizieren, von denen einer ihr Vater sein musste. Es stellte sich heraus, dass Lisas Großvater noch am Leben war, und auf die Frage, wer Lisas Vater sei, antwortete er: ‚Bob Evans.‘ Headley zeigte dem Großvater ein Foto des Mannes, der Lisa entführt hatte. ‚Ja‘, sagte er, ‚das ist Bob Evans.‘ Und mit dieser Antwort änderte sich der gesamte Verlauf des Falles – von einem Fall unbekannter Abstammung zur Identifizierung eines Serienmörders. “
Zahlen & Fakten
Innovationen der Forensik (I): Obduktionen
Obduktionen als Werkzeug zur Aufklärung von Verbrechen werden erstmals in den „Aufzeichnungen zur Tilgung von Ungerechtigkeit“ vom chinesischen Arzt Song Ci im Jahr 1247 erwähnt: „Es gibt keine wichtigere Frage als den Totschlag. Jedermann weiß, dass das Verbrechen durch die Wunden der Leiche nachgewiesen wird. Manchmal sind die Symptome der Verwundung deutlich oder undeutlich, verschieden oder übereinstimmend. Dadurch können schlechte Menschen Betrug üben. Die Protokolle können dann nicht abgeschlossen werden; ist dieses nicht eine schwierige Frage? Ach!“
Lisas Vater, Bob Evans, war zu diesem Zeitpunkt bereits tot. Er hieß auch nicht Bob Evans, sondern Terry Peder Rasmussen – besser bekannt als „The Chameleon Killer“. Er lebte sein Leben unter verschiedenen Pseudonymen und gab sich vermutlich jedes Mal eine andere Identität, nachdem er gemordet hatte. Er wird posthum verdächtigt, bereits 1978 seine damalige Freundin und ihre Kinder ermordet zu haben. Ihre Überreste wurden in den Jahren 1985 und 2000 in zwei Fässern einige hundert Meter voneinander entfernt gefunden.
Erschlagen und in Katzenstreu begraben
Die Identität der Leichen in den Fässern konnte erst geklärt werden, als Rae-Venter und Headley dem Killer Rasmussen auf die Fährte gekommen waren und seine DNA abgleichen konnten. Vermutlich ermordete er 1981 auch Lisas Mutter Denise Beaudin, aber Beweise dafür gibt es nicht, weil ihre Leiche nie gefunden wurde. 2002 – da nannte er sich Larry Vanner – wurde er wegen Mordes verhaftet: Er hatte seine damalige Frau erschlagen und in Katzenstreu begraben. 2010 starb er in Haft, Jahre bevor das wahre Ausmaß seiner Verbrechen bekannt wurde.
Zum ersten Mal wurde damit ein Fall mittels forensischer Genealogie gelöst. Nur wenig später gelang es Rae-Venter, auch den seit Jahrzehnten gesuchten „Golden State Killer“ zu identifizieren, der zwischen 1974 und 1986 mindestens dreizehn Menschen ermordet hatte. Bislang, sagt Rae-Venter, wurden allein in den USA mehr als tausend Fälle durch diese neue Methode geklärt.
Die Zukunft der Rechtsmedizin
Die Genealogie ist nur eine von mehreren neuen Methoden der Forensik, die es Verbrechern immer schwerer machen. An vielen weiteren wird am Institut für Rechtsmedizin in Zürich geforscht. Dort wird das Fach Hand in Hand mit der Wissenschaft weiterentwickelt, digitalisiert und virtualisiert. Institutsleiter Michael Thali glaubt, dass die über Jahrhunderte wichtigste Methode der Gerichtsmedizin bald überholt sein könnte: die Obduktion.
„Bildgebende Verfahren, bekannt aus dem Krankenhaus, wie Computertomografie (CT) und Magnetresonanz werden nun auch bei Verstorbenen eingesetzt. Diese Methoden sind bereits heute so genau, dass bei einem Drittel der Verstorbenen am Zürcher Institut für Rechtsmedizin auf eine rechtsmedizinische Autopsie verzichtet werden kann. Das Gutachten der Rechtsmedizin basiert dann nur auf den Befunden, welche mit modernster Bildgebungstechnologie erhoben wurden. In Zürich wird bei jedem Verstorbenen ein CT durchgeführt. So kann innert Minuten entschieden werden, ob eine klassische Autopsie noch nötig ist. “
Zahlen & Fakten
Innovationen der Forensik (II): Toxikologie
1833 war der Chemiker James Marsh Gutachter in einem Mordprozess. Ein Mann wurde verdächtigt, seinen Großvater mit Arsen im Kaffee vergiftet zu haben. Mit der damals üblichen Methode konnte Marsh das Arsen zwar nachweisen, das Arsentrisulfid, das er gewinnen konnte, zerfiel allerdings zu schnell und taugte nicht als Beweis. Der Verdächtige wurde freigesprochen. Das veranlasste James Marsh, die nach ihm benannte Marshsche Probe zum Nachweis für Arsen zu entwickeln.
Das ist nicht nur innovativ, es bringt sowohl für Angehörige als auch für Ermittler Vorteile. Thali beschreibt das so:
„Diese Vorgehensweise wird von vielen Angehörigen geschätzt. Angehörige mancher Glaubensgemeinschaften – wie etwa Juden und Muslime – befürworten sie, weil eine Leichenöffnung in diesen Religionen eigentlich nicht gestattet ist. Auch bei Katastrophen wie Flugzeugabstürzen oder großen Bränden haben sich forensische Bildgebungsmethoden insbesondere zu Identifizierungszwecken bereits bewährt. Dieses Verfahren, bei dem das Körperinnere wie die Körperoberfläche digital dokumentiert werden, nennen wir Virtopsy. So entsteht vom Körper der Leiche ein digitaler Datensatz, sozusagen ein digitaler Zwilling, der den Verwesungsprozess überdauert. “
Viropsy: In Österreich erfunden, in der Schweiz umgesetzt
Die Virtopsy wurde eigentlich von einem österreichischen Gerichtsmediziner entwickelt, doch hierzulande interessierte sich niemand dafür. Das Verfahren kann eine Menge: Gasansammlungen im Körper, Luftembolien oder abgebrochene Tatwerkzeuge sind durch die Virtopsy viel besser darstellbar als durch eine herkömmliche Obduktion. Aus den Bildern können 3D-Modelle errechnet werden; sie sind so genau, dass sich bei einem Schädel mit Einschussloch sogar das Kaliber der Waffe am Schirm feststellen lässt. Der Schusskanal wird in der Virtopsy sichtbar gemacht, und man kann auch genau erkennen, wo wie viel Gehirnstruktur zerstört wurde.
Der virtuelle Zwilling sei erst der Beginn, sagt Thali. Mittlerweile werden ganze Tatorte virtuell nachgebaut:
„Weil auch die Polizei begonnen hat, Tatorte und involvierte Fahrzeuge bei Verkehrsunfällen zu digitalisieren, können mit den digitalen Körperdaten gesamtheitliche Rekonstruktionen gemacht werden. So lassen sich Straftaten und Unfallereignisse aufgrund der digital erfassten Daten von Menschen, Gegenständen und Tatorten virtuell nachbauen und die Abläufe analysieren. In den letzten Jahren gelang es, diese forensische Rekonstruktionen mit 3D-Brillen via Virtual Reality und Augmented Reality in die Dreidimensionalität zu überführen. “
Tausende Substanzen nachweisbar
Im Gerichtssaal der Zukunft könnten Geschworene und Richter via 3D-Brille zum Tatzeitpunkt virtuell am Tatort sein. Sie könnten an der Stelle stehen, an der ein Zeuge stand, als ein Verbrechen passierte; sie könnten sich in die Lage der Augenzeugen hineinversetzen, könnten überprüfen, ob deren Aussagen Sinn ergeben. Sie könnten aber etwa auch Schusskanäle legen, um festzustellen, aus welcher Richtung der Schuss gekommen sein musste. Sollten Mörder angesichts dessen auf Vergiften setzen: Keine gute Idee, sagt Michael Thali.
„Auch die Toxikologie hat sich enorm entwickelt. Die Zeiten von ‚Arsen und Spitzenhäubchen‘ sind definitiv vorbei. Konnte man früher nur Alkohol und circa zehn gängige Drogen und Medikamente analysieren, gelingt es heute, in einem Durchlauf hunderte, wenn nicht tausende Substanzen in Blut oder Urin zu detektieren. Der Hightech-Maschine bleibt nichts verborgen. In der Toxikologie läuft ein richtiger Wettstreit zwischen der Entwicklung neuer Substanzen in illegalen Drogenlaboren und deren Detektion durch die Forensiker. Mit der sogenannten Haaranalytik ist es heute auch möglich, den Konsum von Medikamenten und Drogen über die zurückliegenden Wochen oder sogar Monate zu bestimmen. Je länger das Haar, desto weiter reicht die Analyse zurück. “
Michael Thali ist überzeugt, dass Mörder kaum noch eine Chance haben, mit ihren Verbrechen ungestraft davonzukommen – jedenfalls solange man sich die Rechtsmedizin auch etwas kosten lässt und wissenschaftlich anerkannte Methoden einsetzt.
Die dunkle Seite der Forensik
Das Problem ist: So perfekt läuft es oft nicht. Nur wenige Staaten leisten sich Hightech-Institute für Rechtsmedizin wie jenes in Zürich. Oft fehlt es schon an den Basics: Weltweit sinken die Obduktionsraten rapide. Wurde 1984 in Österreich noch jede dritte Leiche obduziert, ist es heute nur mehr jede zehnte. Und vieles von dem, was wir in Krimiserien sehen, von Blood-Spatter bis hin zu Bissspuranalysen, beruht auf Methoden, die weniger oder gar keine wissenschaftliche Basis haben – aber trotzdem in Gerichtssäle Einzug gehalten haben.
Zahlen & Fakten
Innovationen der Forensik (III): Fingerabdrücke
Ihr Freund hatte gesagt, er würde sie sofort heiraten – wären da nicht ihre beiden Kinder. Am 29. Juni 1892 wurden die Kinder von Francisca Rojas in ihrem Haus in Necochea, Argentinien, tot aufgefunden. Die Mutter hatte eine Schnittwunde an der Kehle. Ihr Nachbar habe die Kinder getötet und sie selbst verletzt, behauptete Rojas gegenüber der Polizei. Der Beschuldigte hatte allerdings ein Alibi. Obwohl der Tatort schon Tage alt war, fand ein Polizist einen blutigen Fingerabdruck, den er Rojas zuordnen konnte. Sie hatte ihre Kinder ermordet und sich die Wunde am Hals selbst zugefügt. Als weltweit erster Mensch wurde sie aufgrund eines Fingerabdrucks verurteilt.
Die US-amerikanische Anwältin Raquel Barilla arbeitet für die kalifornische NGO The Innocence Center und versucht, zu Unrecht verurteilte Menschen aus dem Gefängnis zu holen. Zu den Fällen, die sie bis heute beschäftigen, gehört der von JoAnn Parks aus Los Angeles: Am 9. April 1989 ging sie schlafen, nachdem sie ihre drei Kinder ins Bett gebracht hatte, so wie jeden Abend. Doch diesmal wachte sie gegen Mitternacht auf, weil sie ihre Kinder schreien hörte. Das Haus brannte, überall war Rauch. Sie rannte zu den Nachbarn, um die Polizei zu rufen. Es war zu spät. Ihre Kinder starben in den Flammen. Parks’ Martyrium war damit aber noch nicht zu Ende, erzählt Barilla:
„‚Wir, die Geschworenen, befinden die Angeklagte des Mordes für schuldig.‘ Das waren die letzten Worte, die JoAnn Parks hörte, bevor sie zum Tod im Gefängnis verurteilt wurde. Lebenslänglich ohne Bewährung. Mehr als zwanzig Jahre später wissen wir jetzt, dass sie eine unschuldige Mutter war, die ihre drei Kinder bei einem tragischen Hausbrand verloren hatte. Sie ist nicht die Einzige, die einen solchen Albtraum erlebte. Erstaunlich viele unschuldige Menschen wurden aufgrund eines sehr unvollkommenen Justizsystems zu Unrecht inhaftiert oder sogar zum Tode verurteilt.“
Im Fall von JoAnn Parks dauerte es 29 Jahre, bis sie endlich freikam. Viele Justizopfer teilen ein ähnliches Schicksal, manche sitzen noch immer hinter Gittern oder wurden fälschlich jahrelang als Verdächtige geführt. Verantwortlich dafür waren forensische Methoden, die sich als fehleranfällig oder komplett unwissenschaftlich herausstellten.
Forensik ohne Wissenschaft
Brandon Mayfield etwa wurde als Terrorist verhaftet und beschuldigt, für das Bombenattentat in Madrid 2004 verantwortlich zu sein, bei dem 190 Menschen getötet wurden. Wichtigstes Indiz war ein Fingerabdruck auf dem Auslöser, der laut FBI zu 100 Prozent jener des Verdächtigen war. Bloß: Mayfield, ein US-Bürger, war nie in Spanien gewesen, konnte dort also keine Fingerabdrücke hinterlassen haben.
Zahlen & Fakten
Innovationen der Forensik (IV): Kriminalistik
Der Österreicher Hans Gross gilt als Gründer der Kriminalistik; er prägte auch den Begriff. Gross war der Erste, der anregte, Täterprofile zu erstellen oder Suchhunde einzusetzen. Im Lehrbuch für den Ausforschungsdienst der k. k. Gendarmerie stellte er auch einen Tatortkoffer mit Materialen zur Spurensicherung vor – inklusive Bonbons, um verängstigte Kinder zum Reden zu bringen.
William Richards wurde 1997 verurteilt, weil ein Experte aussagte, dass es seine Bissspuren waren, die an der Hand des Opfers gefunden worden waren. Auch Richards war unschuldig. Doch bis sich das endlich beweisen ließ, hatte der bedauernswerte Mann bereits 25 Jahre im Gefängnis verbracht.
Auf die Unwissenschaftlichkeit vieler forensischer Methoden wird seit Jahren hingewiesen; das beeindrucke aber leider nicht alle Richter, berichtet Raquel Barilla:
„Schon ab dem Jahr 2009 schlugen verschiedene Organisationen Alarm und kritisierten, dass es vielen forensischen Disziplinen an einer wissenschaftlichen Grundlage mangelt. Sie wiesen Richter, Geschworene und Sachverständige darauf hin, dass es in den über 15 forensischen Disziplinen verheerende Mängel gibt. Das U. S. National Institute of Standards and Technology (NIST) hat etwa festgestellt, dass es für die Analyse von Bissspuren keinerlei wissenschaftliche Belege gibt. Dennoch lassen einige Richter diese im Gerichtssaal weiterhin zu, was zu Verurteilungen auf der Grundlage von unwissenschaftlichen Methoden führt.“
Warum es brennt
Für die Analyse von Brandursachen gilt dasselbe, vor allem, wenn es zu einem Flashover kommt. So wird das Phänomen genannt, wenn ein kleines Feuer schlagartig in einen Vollbrand übergeht – wie das im Haus von JoAnn Parks passiert ist. Auch das sollte mittlerweile weithin bekannt sein, meint Barilla:
„Experten wissen längst, dass ein Flashover Brandmuster verändern, auslöschen und erzeugen kann. Da sich ein Experte auf Brandmuster verlässt, wird es deshalb sehr schwierig oder sogar unmöglich, den korrekten Brandursprung zu bestimmen. Die American Association for the Advancement of Science stellte schockiert fest: ‚Die Wahrscheinlichkeit, dass ein Ermittler den korrekten Ursprung eines Brandes nach einem Flashover richtig bestimmt, ist möglicherweise nicht höher, als wenn er raten würde.‘ Bis heute haben wir nicht genügend Daten, um abzuschätzen, wie oft Brandherde falsch bestimmt werden, wenn ein Flashover im Spiel war. “
In Österreich gibt es keinerlei Daten über die Gründe, die zu Fehlurteilen führen. In den USA sei der Anteil forensischer Irrtümer hoch, sagt Barilla. Und es gebe noch ein weiteres Problem:
„Tatsächlich beruhen etwa 25 Prozent der 3.431 seit 1989 nachgewiesenen Fehlurteile in den Vereinigten Staaten auf falschen Methoden der Forensik. Manche der zu Unrecht verurteilten Menschen werden freigelassen. Doch zu viele müssen im Gefängnis bleiben, weil das Justizsystem einfach keinen Weg vorsieht, einen derart ungeheuerlichen Fehler zu korrigieren. Derzeit gibt es nur in sieben US-Bundesstaaten Gesetze, die es ermöglichen, ein falsches Urteil aufzuheben, wenn es auf fehlerhaften forensischen Beweisen beruhte. “
DNA: Eine forensische Revolution mit Schattenseite
Vor diesem Hintergrund war die Etablierung der DNA-Analyse – auch bekannt als genetischer Fingerabdruck – eine echte Revolution für die Forensik, erzählt Jay D. Aronson, Direktor des Center for Human Rights Science an der Carnegie-Mellon-Universität in Pennsylvania und Autor des Buchs Genetic Witness: Science, Law, and Controversy in the Making of DNA Profiling:
„Als der genetische Fingerabdruck Mitte der 1980er-Jahre Teil von strafrechtlichen Ermittlungsverfahren wurde, war die forensische Wissenschaft in Aufruhr. Die Techniken, auf die sich Ermittler jahrzehntelang verlassen hatten, wurden zwar als wissenschaftlich und objektiv angepriesen, beruhten aber vielfach auf der Übereinkunft aller Beteiligten, dass sie gültig und zulässig seien. Der genetische Fingerabdruck hingegen kam aus der Wissenschaft und wurde durch Forschungsarbeiten validiert. Die Schlussfolgerungen kamen durch statistische Analysen zustande, nicht durch subjektive Beurteilung. “
Zahlen & Fakten
Innovationen der Forensik (V): DNA-Analyse
Die weltweit erste Verurteilung aufgrund einer DNA-Analyse verhinderte zugleich ein Fehlurteil: Die britische Polizei hatte sich bereits auf einen Verdächtigen eingeschossen, als der britische Genetiker Alec Jeffreys aufgrund von Spermaspuren nachweisen konnte, dass es ein anderer Mann gewesen sein musste, der in Narborough, England, zwei Teenager vergewaltigt und ermordet hatte.
Die Wissenschaft hatte in der Forensik wieder Einkehr gehalten. Und auch wenn es zu Beginn skeptische Stimmen gab: Innerhalb weniger Jahre waren die meisten Anwälte und Wissenschaftler, die dem genetischen Fingerabdruck ursprünglich noch kritisch gegenüberstanden, von der Methode überzeugt, sagt Aronson.
„Die Technologie wurde so weit verbessert, dass sie heute weithin anerkannt ist. Der genetische Fingerabdruck half beispielsweise, Fehlurteile zu korrigieren. Er legte die Unzulänglichkeiten und den Rassismus des amerikanischen Strafrechtssystems offen, weil mithilfe der DNA klar wurde, wie viele Unschuldige hinter Gittern saßen. Sowohl die Verteidigung als auch die Staatsanwaltschaft können mit DNA-Analysen arbeiten; das macht diese Technik in den Augen der Öffentlichkeit noch wirkungsvoller. “
In Österreich trat die DNA-Analyse ab 1994 ihren Siegeszug an. Damals wurde diese in den späten 1980er-Jahren entwickelte Methode zum ersten Mal vor Gericht zugelassen – und zwar in einem spektakulären Prozess: Jack Unterweger war des Mordes an elf Prostituierten angeklagt. Ein Haar in seinem BMW besiegelte sein Schicksal. Es gehörte laut DNA-Analyse einem der Opfer.
Das Phantom und seine Lehren
Bald darauf wurde in Innsbruck eine DNA-Datenbank etabliert. Mittlerweile ist Kriminalistik ohne den genetischen Fingerabdruck undenkbar geworden. Aber auch die DNA-Analyse sei keine Wunderwaffe, sagt Experte Aronson:
„Obwohl sich mittlerweile fast alle einig sind, was die Genauigkeit und Zuverlässigkeit von DNA-Beweisen angeht, ist ein Teil der ursprünglichen Kritiker (darunter auch ich) wachsam geblieben. Jedes Verfahren hat seine Schwachstellen, und es wäre auch falsch, zu glauben, dass eine Technologie soziale und politische Probleme lösen kann. Wir weisen immer wieder darauf hin, dass Technik nicht von den Menschen und Institutionen getrennt werden kann, die sie entwickeln und verwenden. Wo immer Menschen beteiligt sind, bleibt das Potenzial für Voreingenommenheit, Fehler, versteckte subjektive Urteile und sogar Betrug. Die Rechtswissenschaftlerin Erin Murphy bezeichnete das als die ‚dunkle Seite der DNA‘. “
Ein eindrucksvolles Beispiel dafür ist das „Phantom von Heilbronn“: Als am 5. April 2007 die Polizistin Michèle Kiesewetter in Heilbronn erschossen und einer ihrer Kollegen durch einen Kopfschuss schwer verletzt wurden, fand die Polizei am Tatort die DNA einer unbekannten weiblichen Person, die bereits an verschiedenen anderen Tatorten sichergestellt worden war. Nach zwei Jahren erfolgloser Fahndung schrieb die Polizei 300.000 Euro für Hinweise zur Identität dieser Frau aus. Die Verbrechen des Phantoms ergaben auch für die erfahrensten Polizisten keinen Sinn.
An über vierzig Tatorten war ihre DNA gesichert worden, und nichts passte zusammen. Die Art der Verbrechen folgte keinem System: Warum sollte eine kaltblütige Mörderin in einen Wohnwagen in Rheinland-Pfalz einbrechen, um dort Kekse zu essen? Warum spritzte sie in einem Waldstück Heroin? Warum mischte sie sich in eine Familienfehde ein, die mit Schüssen ausgetragen wurde?
Auch die Tatorte ließen kein Muster erkennen. Sie waren über ganz Deutschland verteilt, selbst in Österreich fanden sich Spuren des Phantoms. Doch nie war eine unbekannte Frau von irgendeinem Zeugen an irgendeinem der Tatorte gesehen worden. Es gab von ihr auch keine Finger- oder Schuhabdrücke. 200 Aktenordner stapelten sich bei den zunehmend verzweifelten Ermittlern.
Zahlen & Fakten
Innovationen der Forensik (VI): Virtopsy
Warum muss man im 21. Jahrhundert Leichen eigentlich immer noch aufschneiden? Diese Frage beschäftigte den österreichischen Forensiker Richard Dirnhofer, und er lieferte auch gleich die Antwort: Muss man gar nicht mehr. Bildgebende Verfahren wie CT oder MRT können eine klassische Obduktion ersetzen. Damit war die Virtopsy geboren. Das Verfahren ist zumindest in der Schweiz auch schon erfolgreich im Einsatz.
Im März 2009 wurde die Identität des Phantoms schließlich gelüftet: Es handelte sich um eine Fabriksarbeiterin, die (später von der Spurensicherung verwendete) Wattestäbchen in Plastikröhrchen verpackte. Sie hatte keines der Verbrechen begangen. Viele Ermittlungsverfahren, bei denen ihre DNA sichergestellt worden war, mussten komplett neu begonnen werden. Und noch etwas zeigte der Fall: dass es keinerlei Qualitätsstandards bei den Wattestäbchen gab, die zur Spurensicherung eingesetzt wurden.
Die Forensik wandelt auf einem schmalen Grat
Aber auch wenn nichts schiefgeht, sind einige der jüngsten Entwicklungen in der DNA-Technologie für Jay D. Aronson bedenklich. Sorgen bereitet ihm beispielsweise die neue Methode der DNA-Phänotypisierung: Aufgrund der DNA kann auf die Haut-, Haar- und Augenfarbe einer Person geschlossen werden. Es lässt sich auch sagen, ob sie Sommersprossen oder Haare auf dem Rücken hat. Ermittler können ein Phantombild erstellen, ohne dass diese Person jemals jemand gesehen hat. Aronsons Einwände:
„Wer sich mit der biologischen Entwicklung befasst hat, weiß jedoch, dass Organismen nicht nur ein Produkt ihrer Gene sind. Auch die Umwelt spielt eine Rolle, weshalb genetische Informationen nur einen Teil der Geschichte erzählen. Umso mehr, wenn man bedenkt, dass diese Tests nur auf Wahrscheinlichkeiten beruhen und es außerdem sehr einfach ist, das Erscheinungsbild einer Person zu verändern – etwa mit Haarfärbemitteln oder kosmetischen Eingriffen. Der Einsatz der forensischen DNA-Phänotypisierung könnte zu einer erheblichen Verschwendung polizeilicher Ressourcen führen und Menschen in Schwierigkeiten bringen, die zwar einige der gesuchten Merkmale aufweisen, aber nichts mit dem fraglichen Kriminalfall zu tun haben. “
Es ist ein schmaler Grat, auf dem die Forensik wandelt: Neue Methoden können einen wesentlichen Beitrag leisten, Verbrecher zu finden und zu überführen. Doch es muss gesichert sein, dass die Technik einer wissenschaftlichen Überprüfung standhält, und sie darf nicht dazu führen, dass Menschen unverschuldet ins Visier der Fahnder geraten – oder sogar im Gefängnis landen.
Conclusio
Neue forensische Methoden konnten in den vergangenen Jahren aufsehenerregende Fälle lösen. Unter anderem wurde der seit Jahrzehnten gesuchte „Golden State Killer“ mittels genealogischer Methoden identifiziert. An der Rechtsmedizin in Zürich müssen Leichen teilweise gar nicht mehr obduziert werden – moderne bildgebende Verfahren wie die Virtopsy treten an die Stelle traditioneller Leichenöffnung. Aber nicht alle Methoden der Forensik, die das TV-Publikum in Krimiserien wie „CSI“ sieht, sind so wissenschaftlich fundiert, wie es im Fernsehen den Anschein hat. Analysen von Bissspuren, Brandmustern oder Blutspritzern sind extrem fehleranfällig und sorgten dafür, dass unzählige Menschen unschuldig hinter Gittern landeten – und damit zugleich die wahren Täter weiter auf freiem Fuß geblieben sind.