Wir, die Kerkermeister

Der Anspruch des modernen Wohlfahrtsstaates, jedes mit der Freiheit verbundene Risiko abzufedern, führt in eine autoritäre Gesellschaft. Schuld daran sind nicht die Politiker, sondern wir alle.

Illustration von mehreren Verbotsschildern, das vorderste stellt einen rauchenden Mann dar.
Die Einschränkung der Freiheit wird zwar durch Institutionen und mithilfe staatlicher Gesetze und Verordnungen exekutiert. Doch solche gäbe es nicht, wenn die tragende Ideologie dahinter nicht fest in der Alltagskultur westlicher Gesellschaften verankert wäre. © Michael Pleesz
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Auf den Punkt gebracht

  • Selbstbestimmung. Immer mehr Verbote sowie Phänomene wie Cancel Culture und Political Correctness bedrohen unsere mühsam erworbenen Freiheiten.
  • Autoritäre. Vor allem Gruppen in der Tradition der 1968er-Bewegung und der neuen Linken entwickeln rigide paternalistische gesellschaftspolitische Programme.
  • Widerspruch. Freiheit und Gleichheit sind gleichzeitig nicht zu haben. Der Versuch, Gleichheit zu erzwingen, hat eine hochgradig unfreie Gesellschaft zur Folge.
  • Freiheit. Freiheit ist kein Wert unter vielen, sondern die Basis für moralisches Handeln. Ohne Freiheit verkommt Moral zu einer totalitären Ideologie.

Nie waren wir freier als heute. Zumindest im sogenannten globalen Westen genießen die Menschen Freiheiten und Freiheitsrechte, von denen frühere Generationen nicht einmal zu träumen wagten. Und das liegt nicht nur daran, dass die Staaten der westlichen Hemisphäre seit dem 19. Jahrhunderts sukzessive liberaler und weniger autoritär geworden sind. Auch die Alltagskultur hat in den letzten einhundertfünfzig Jahren gewaltige Liberalisierungsprozesse durchlaufen.

Die westlichen Gesellschaften sind offener geworden, repressive Traditionen wurden abgeschafft, die Hierarchien wurden flacher, das Miteinander entspannter, die Umgangsformen weniger reglementiert. Allein das Beispiel Sexualmoral zeigt, wie sehr sich unsere Gesellschaften insbesondere im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert haben.

Die Freiheit kollabiert

Seit zwei Jahrzehnten jedoch droht diese Entwicklung in ihr Gegenteil zu kippen. Statt ein Mehr an Freiheit sehen viele Menschen zunehmend Verbote, Vorschriften, Gängelungen und Überwachung. Die emanzipierte und liberale Gesellschaft scheint abzudanken. Cancel Culture und Political Correctness bestimmen die Debatten.

Ein nicht unerheblicher Teil der Bürger sieht seine Lebensgewohnheiten bedroht. Auto fahren, Fleisch essen, fliegen, rauchen, mal einen zotigen Witz machen: Vieles von dem, was Menschen als Ausdruck eines freien, unbekümmerten Lebens ansehen, wird durch politische Parteien und Aktivisten infrage gestellt. Verstärkt wird dieser Eindruck durch die unübersehbaren Bemühungen der Politik, die Bürger mittels verschiedenster Nudging-Strategien zu einem sozialverträglichen, gesunden und nachhaltigen Lebensstil zu erziehen. Diese politpädagogischen Maßnahmen werden als Vorstufe für rigidere Formen gesellschaftspolitischer Steuerung wahrgenommen.

Die autoritären Erben der 1968er

Nimmt man das gesamte historische Panorama der Moderne in den Blick, könnte man den Eindruck gewinnen, dass Freiheit, Autonomie und Selbstbestimmung, also die Kernanliegen des Liberalismus, im Moment ihres Triumphes kollabieren. Dies gilt umso mehr, als diese Prinzipien nicht von ihren traditionellen Gegnern infrage gestellt werden, also von Reaktionären, Fundamentalisten, Orthodoxen und Autoritären aller Art und aller Couleur. Es sind vielmehr politische Formationen in der Tradition des Liberalismus selbst, die zentrale Werte liberalen Denkens offen zur Disposition stellen. Am auffälligsten ist das bei jenen Parteien und politischen Vorfeldorganisationen, die sich in der Tradition der 1968er-Bewegung und der neuen Linken bewegen. Ursprünglich als antiautoritäre und obrigkeitsfeindliche Bewegungen gestartet, werben ihre politischen und kulturellen Erben ganz offen mit einer hochgradig paternalistischen und reglementierenden gesellschaftspolitischen Programmatik.

Die emanzipierte und liberale Gesellschaft scheint abzudanken. Cancel Culture und Political Correctness bestimmen die Debatten.

Allerdings darf man nicht übersehen, dass schon die 68er-Bewegung autoritäre und antiliberale Züge trug. Der teilweise antibürgerliche Lebensstil und das spaßig-anarchistische Auftreten einiger prominenter Protagonisten täuschen leicht darüber hinweg, dass die studentischen Bewegungen dezidiert totalitären Politfantasien nachhingen.

Der Widerspruch der Moderne

Vergleichbares gilt allerdings auch heute. Die normativen Verschiebungen, die die westlichen Gesellschaften in den letzten dreißig Jahren erfahren haben, sind nicht so sehr das Ergebnis einflussreicher Parteien, Thinktanks, linksliberaler Medien oder politischer Vorfeldorganisationen; diese können gesellschaftliche Prozesse allenfalls aufgreifen und mit ein bisschen Glück verstärken. Letztlich sind es die alltagskulturellen Emanzipations- und Liberalisierungsprozesse der Moderne selbst, die zu grundlegenden Transformationen geführt haben.

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Zahlen & Fakten

Das Ergebnis ist eine zunehmend penetrante Moralisierung der Alltagsdiskurse, die liberale Anliegen in ihr Gegenteil verkehrt, Freiheit im Namen der Freiheit einschränkt und Toleranz mithilfe rücksichtsloser Intoleranz durchsetzen möchte. Ihre Ursachen haben diese scheinbar widersprüchlichen Anliegen in einem Grundwiderspruch der Moderne selbst. Denn diese definiert sich seit der Französischen Revolution vor allem über ihre Forderung nach Freiheit und Gleichheit. Doch diese Anliegen sind gleichzeitig nicht zu haben. Denn eine freie Gesellschaft führt zwangsläufig zu Ungleichheiten. Und der Versuch, Gleichheit zu erzwingen, hat eine hochgradig unfreie Gesellschaft zur Folge.

Der Vollkasko-Wohlfahrtsstaat

Dennoch etablierte sich mit zunehmendem Massenwohlstand eine Alltagskultur, die tatsächlich beides realisieren wollte: Freiheit und Gleichheit, Selbstverwirklichung und Gleichberechtigung. Aus Sicht der jeweiligen Individuen ist dieses Einfordern von offensichtlichen Gegensätzen sogar sinnvoll. Denn Freiheit ist gefährlich. Wer radikal seine Freiheit lebt, kann fürchterlich scheitern und am Ende des Tages zu den Benachteiligten und Unterprivilegierten gehören. Freiheit kann also zu Ungleichheit führen. Das ist der Skandal, den es zu eliminieren gilt.

Entsprechend hat der Wohlfahrtsstaat spätmoderner Prägung nicht mehr die Aufgabe, Not und Elend aufzufangen, sondern vielmehr die Emanzipationsrisiken zu kompensieren, die sich in freien Gesellschaften ergeben, und weniger Begabte, weniger Erfolgreiche, weniger Fleißige oder auch nur weniger Glückliche oder weniger Privilegierte zu unterstützen.

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Zahlen & Fakten

Das moderne Individuum möchte nicht nur gegen die ökonomischen Unwägbarkeiten der Freiheit abgesichert werden. Der Staat soll auch aktiv die Emanzipation des Einzelnen unterstützen und alle Hindernisse beseitigen, die einem freien Leben entgegenstehen. Der Staat wird vom Emanzipationsversicherer zum Emanzipationsanwalt.

Menschenrecht auf Glück?

Um diesen Schritt zu legitimieren, werden Selbstverwirklichung, Selbstfindung und das Erreichen individueller Lebensziele in den Rang von Menschenrechten erhoben. Dem jeweiligen Individuum diese Ansprüche zu verweigern käme einer Verletzung dieser Menschenrechte gleich. Politische Positionen, die diese Politik kritisieren, seien entsprechend menschenverachtend. Ihnen dürften keine öffentlichen Foren geboten werden. Ihre Ansichten und Argumente gehörten aus dem öffentlichen Diskurs ausgeschlossen.

Verschärft werden diese autoritären Tendenzen dadurch, dass es zum narzisstischen Charakterbild des modernen Individuums gehört, seine angeblichen Anspruchsrechte nicht nur bezüglich individueller Lebensvorstellungen einzuklagen, sondern auch hinsichtlich seiner normativen Präferenzen. Die Welt hat nach den moralischen Vorstellungen des Einzelnen zu funktionieren, auf allen Ebenen. Wer sich diesen Anliegen widersetzt, gilt nicht nur als intolerant, sondern zugleich als reaktionär, weil er sich den progressiven Kräften der Moderne widersetzt und sich außerhalb des Rahmens legitimer Emanzipationsdiskurse bewegt.

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Zahlen & Fakten

So erwächst aus den Idealen von Freiheit und Gleichheit mit großer Konsequenz eine autoritäre Gesellschaft, in der konkrete Freiheiten im Namen des Freiheitsrechtes auf Gleichheit früher oder später beschnitten werden. Denn die Freiheit des einen kann jederzeit das Recht eines anderen auf Gleichbehandlung einschränken. Also gehört die Freiheit unterbunden.

Scheitern am eigenen Triumph

Diese Einschränkung der Freiheit wird zwar durch Institutionen und mithilfe staatlicher Gesetze und Verordnungen exekutiert. Doch solche gäbe es nicht, wenn die tragende Ideologie dahinter nicht fest in der Alltagskultur westlicher Gesellschaften verankert wäre. Die herrschende Ideologie wiederum ist nicht das Ergebnis der Einflüsterungen irgendwelcher intellektueller Zirkel, sondern entsteht aus der Mitte einer auf Emanzipation, Freiheit und Selbstverwirklichung fixierten Massenkonsumgesellschaft. Anders formuliert: Wir sind unsere eigenen Kerkermeister.

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Zahlen & Fakten

Die Verbotsgesellschaft, die langsam um uns herum entsteht, haben wir uns selbst gebaut. Sie ist das Produkt unserer Sehnsucht nach grenzenloser Freiheit und dem nicht zuletzt daraus abgeleiteten Anspruch, dass diese Freiheit nicht durch Ungleichheit eingeschränkt werden dürfe. Die liberale Gesellschaft scheitert somit nicht an ihren Gegnern, sondern an ihrem vollständigen Triumph. Denn erst die vermeintlichen Anspruchsrechte, die das freie, autonome und emanzipierte Individuum für sich in Anspruch nimmt, ließen jenen Kokon aus Verhaltensrichtlinien, Sprachregelungen, Verboten und Einschränkungen entstehen, die unseren Alltag zunehmend bestimmen. Aus dieser zunächst unangenehmen Einsicht darf man allerdings nicht die Forderung ableiten, die Prinzipien der Aufklärung und der Moderne über Bord zu schmeißen. Wir müssen sie vielmehr ernst nehmen, ernster denn je. Denn unsere Freiheit werden wir nur verteidigen, wenn wir sie wieder als die entscheidende Grundlage unseres Lebens wahrnehmen und nicht als einen Wert unter vielen.

Wer Freiheit mit irgendwelchen moralischen Normen verrechnet, hat schon den ersten Schritt getan, um Freiheit einzuschränken – im Namen der Gerechtigkeit. Doch Freiheit ist kein Wert unter anderen Werten. Sie ist die Basis, die moralisches Handeln erst ermöglicht. Ohne Freiheit verkommt Moral zum Moralismus und damit zu einer totalitären Ideologie.

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Conclusio

Nie zuvor lebte man in den westlichen Gesellschaften offener und freier als heute. Doch seit zwei Jahrzehnten dreht sich die Entwicklung ins Gegenteil. Das Mehr an Freiheit wird von immer mehr Verboten, Vorschriften und Gängelungen abgelöst. Die Entwicklung wurzelt im Zielkonflikt der Forderung der Französischen Revolution nach Freiheit und Gleichheit. Denn Freiheit führt zwangsweise zu Ungleichheit, und ein Staat, der die Freiheit unterbindet, um Gleichheit herzustellen, kippt ins Autoritäre. Der zeitgenössischen Sehnsucht nach grenzenloser Freiheit ohne gesellschaftliche Ungleichheit entspringt eine Verbotsgesellschaft. Zeit also, uns wieder auf unsere Freiheit zu besinnen und darauf, dass Freiheit einen Preis hat, der nicht ohne Verlust mit anderen, bequemeren Normen verrechnet werden kann.

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