Die neue Lust am Verbot

Theoretisch wäre es einfach: Ein funktionierendes Gemeinwesen braucht so viele Regeln wie unbedingt nötig und so wenige wie möglich. Wir leben in der Praxis des Gegenteils.

Die Anzahl an Paragrafen und Artikeln von Bundesgesetzen wächst mit atemberaubender Geschwindigkeit. Kam Österreich im Jahr 1970 noch mit rund 8.400 Vorschriften aus, waren es 2021 bereits 56.000. Die Zahl der Verordnungen stieg im selben Zeitraum von rund 2.800 auf 38.400. Mangelnden Fleiß kann man den gesetzgebenden Organen nicht vorwerfen.

„Deregulierung“ ist also zu Recht in aller Munde. Hat sich doch – im Namen der Fürsorge für das Volk – eine Verbotskultur entwickelt, die einem dystopischen Roman entsprungen sein könnte, wie Henryk M. Broder feststellt. Als Gegenmittel empfiehlt er, sich am jüdischen Regelwerk zu orientieren: Das kommt seit Jahrtausenden mit 613 Geboten und Verboten aus.

Im Prinzip sind wir heute freier als je zuvor. Doch seit zwei Jahrzehnten droht diese Entwicklung ins Gegenteil zu kippen, warnt der Philosoph Alexander Grau. Mit dem zunehmenden Wohlstand der Massen hat sich eine Alltagskultur entwickelt, die Freiheit und Gleichheit verwirklichen will. Doch Ungleichheit ist der Preis der Freiheit, und der Versuch, Gleichheit zu erzwingen, bringt immer eine unfreie Gesellschaft hervor.

Nicht alles, was man nicht tun soll, ist explizit verboten. Nudging, auf Deutsch Anstupsen, nennt man die Methode, Menschen mithilfe der Psychologie dazu zu bringen, die für sie – vermeintlich oder tatsächlich – richtigen Entscheidungen zu treffen. Der Wirtschaftswissenschaftler Gilles Saint-Paul beschreibt die Risiken und Nachteile dieser Art von Manipulation.

Der Zweck heiligt niemals die Mittel, mahnt die ehemalige deutsche Familienministerin Kristina Schröder. Beim Klimaschutz drohen die Grundrechte ähnlich schnell abgeräumt zu werden wie in der Pandemie. Rationale Abwägungen bleiben auf der Strecke. Zumal für weite Teile der Bewegung Klimaschutz nur ein Hebel ist, um das verhasste kapitalistische System zurückzudrängen.

Tu felix Austria

Die Österreicher ficht die Fülle der Vorschriften indes kaum an, wie die aktuelle Pragmaticus-Umfrage zeigt. Sie sind im Großen und Ganzen zufrieden mit dem staatlichen Paternalismus; nicht einmal ein Drittel fühlt sich vom Staat bevormundet. Der Störfaktor, den Sie in den Grafiken zu den einzelnen Fragen sehen, ergibt sich aus der Summe der Befragten, die sich vom jeweiligen Gebot oder Verbot „sehr“ oder „eher schon“ gestört fühlen.

Dem überwiegend geringen Störfaktor der Vorschriften steht ein lauter Ruf nach strengeren Regeln gegenüber. Das Vertrauen in den Staat korreliert mit dem Misstrauen gegenüber den Nachbarn: Zwei Drittel der Befragten stimmen der Aussage zu: „Viele Menschen verhalten sich aus eigenem Antrieb nicht vernünftig und rücksichtsvoll gegenüber ihren Mitmenschen, Verbote sind notwendig.“

Freiheit ist unbequem, und nicht jeder fühlt sich bei dem Gedanken wohl, die Folgen seiner Entscheidungen selbst verantworten zu müssen. Der österreichische Liedermacher Georg Danzer sang schon 1979: „Die Freiheit ist ein wundersames Tier, und manche Menschen haben Angst vor ihr.“ Etwas mehr Mut würde unserem Land guttun.

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