Der Rückbau der öffentlichen Freiheit

Das Judentum kommt seit Jahrtausenden mit denselben 613 Verboten und Geboten aus. Daran könnten wir uns ein Beispiel nehmen.

Illustration von mehreren Verbotsschildern, das vorderste stellt einen Sonntags geschlossenen Laden dar. Das Bild illustriert einen Report über Verbote und Gebote.
Ob Ladenöffnungszeiten, Apothekenpflicht für alle Medikamente oder Verbrenner-Verbot: Zwar gewinnen wir im Privatleben an Freiheit, die Freiheit im öffentlichen Raum wird jedoch sukzessive weiter eingeschränkt. © Michael Pleesz
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Auf den Punkt gebracht

  • Gott. Seit jeher regeln Religionen das Gemeinwesen mit Geboten und Verboten. Erst mit Beginn der Aufklärung wird die Allmacht Gottes in Frage gestellt.
  • Kreativität. Vorschriften können kreativ machen: Seit Jahrtausenden befassen sich jüdische Gelehrte nicht zuletzt damit, wie man sie umgehen kann.
  • Moderne. Im Westen haben säkulare Glaubensgemeinschaften, die Wahnideen mit religiösem Eifer verfolgen, die Religion abgelöst.
  • Freiheit. Während wir im Privaten an Freiheit gewinnen, gehen bürgerliche Freiheiten im öffentlichen Raum verloren; die Verbotskultur nimmt überhand.

Es gibt im Judentum 613 sogenannte „Mitzwot“, die jeder Jude befolgen sollte, 365 Verbote und 248 Gebote – was man auf keinen Fall tun darf und was man unbedingt tun muss, wenn man ein gottgefälliges Leben führen will. Dass es mehr Verbote als Gebote gilt, kommt vor allem den Gelehrten zugute, weil das Verbotene ausführlicher erklärt werden muss als das Erlaubte. So ist im Laufe der Zeit der „Talmud“ entstanden, eine Sammlung rabbinischer Gutachten zu allen möglichen Fragen des Alltags. Weltliche Juristen würden diese Praxis eine „Einzelfallprüfung“ nennen, wobei es nicht nur auf die Regel, sondern auch auf die jeweiligen Umstände ankommt.

Verboten am Schabbat war – und ist es immer noch – unter anderem das Anzünden von Feuer zum Kochen und Braten, um nasse Kleider zu trocknen und die Hütte zu wärmen. Das Verbot konnte leicht umgangen werden, indem man zum Beispiel den Kessel mit dem Essen über der Feuerstelle platzierte, das Feuer kurz vor dem Anbruch des siebten Tages entfachte und im Stand-by-Modus auf kleiner Flamme hielt. Ging es vor dem Ende des Feiertages aus, hatte man ein Problem – oder musste einen nichtjüdischen Nachbarn bitten, die Feuerstelle wiederzubeleben. 

Verbote können das kreative Denken auch befördern.

Auf diese Art kamen Speisen zustande, die seit Jahrhunderten zum Standardprogramm der jüdischen Küche gehören, wie das oder der Tscholent, ein Bohnen-Kartoffeln-Graupen-Eintopf, mit Fleisch vom Lamm oder neuerdings auch ohne, eine Konzession an den vegetarischen Zeitgeist, der auch fromme Juden ereilt hat.

Verbote machen kreativ

Entgegen der in liberalen Kreisen weit verbreiteten Überzeugung, Verbote würden das freie Denken behindern und dem Fortschritt im Wege stehen, ist das nicht generell der Fall. Verbote können das kreative Denken auch befördern. In Jerusalem gibt es ein von strenggläubigen Juden gegründetes „Institute for Halacha and Science“, das sich darauf spezialisiert hat, Wege und -Umwege zu finden, um die „Halacha“, die Sammlung der 613 Gebote und Verbote, mit den Erkenntnissen und Möglichkeiten der Wissenschaft zu verknüpfen. An diesem Institut wurde unter anderem ein Aufzug erfunden, mit dem Hotelgäste samt Gepäck auf ihre Zimmer gelangen, ohne einen Kollaps zu riskieren: Der „Shabbat Elevator“ wird auf „Automatik“ gestellt und hält auf jeder Etage an, aufwärts wie abwärts. Die Stop-and-Go-Fahrt dauert etwas länger als auf der Direttissima ohne Zwischenhalte, dafür hat man aber kein Verbot verletzt, allenfalls geschickt umgangen. 

Der Anfang der Verbotskultur

Halten wir also auf halber Strecke fest: Auch Verbote sind nur Gebote. Von den Zehn Geboten enthalten nur zwei Anweisungen für das richtige Handeln: „Du sollst den Feiertag heiligen“ und „Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren“. Die übrigen acht sagen, was man nicht tun darf.

Nachdem Moses auf dem Berg Sinai die Zehn Gebote empfangen hatte, machte er sich wieder auf den Weg ins Tal, wo die Israeliten auf ihn warteten. „Ich habe eine gute und eine schlechte Nachricht“, rief Moses seinem Volk zu. „Die gute ist: Ich habe Ihn auf zehn runtergehandelt. Die schlechte: Ehebruch ist noch immer dabei.“ Die Verbotskultur hat also früh angefangen, spätestens mit dem Inkrafttreten der Zehn Gebote, deren erstes lautet: „Ich bin der Herr, dein Gott. Du sollst keine anderen Götter haben neben mir.“

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Zahlen & Fakten

Bis zum Beginn der Aufklärung im frühen 18. Jahrhundert wagten es nur wenige Ketzer, die Allmacht Gottes anzuzweifeln. Die Regenten regierten von Gottes Gnaden, Recht oder Unrecht wurde im Namen des Herrn gesprochen, Krieg mit Gottes Segen geführt. Bis die Menschen damit begannen, ihre irdische Existenz zu hinterfragen und der Aufforderung von Immanuel Kant Gehör zu schenken: „Habe Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen!“ Es war eine gute Idee, aber keine nachhaltige.

Die Befreiung aus der Sklaverei des Glaubens machte den Weg frei zu einem Phänomen, das der britische Schriftsteller Gilbert Keith Chesterton (1874–1936) mit den Worten beschrieb: „Seit die Menschen nicht mehr an Gott glauben, glauben sie nicht an nichts, sie glauben allen möglichen Unsinn.“ Chesterton, der im Alter von 48 Jahren auf der Suche nach dem wahren Glauben vom Protestantismus zum Katholizismus übertrat, hatte erkannt, dass säkulare Bewegungen, die mit dem Anspruch antreten, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, ebenso brutal, totalitär und zerstörerisch agieren können wie deren klassisch religiös motivierte Vorgänger. 

Moderne Glaubensgemeinschaften

Auch der Kommunismus und der Nationalsozialismus mit all ihren Unter- und Nebenströmen waren, genau genommen, Glaubensgemeinschaften, die Wahnideen mit religiösem Eifer verfolgten – die klassenlose Gesellschaft auf der einen Seite, eine Welt ohne Juden auf der anderen. Inzwischen ist es der „menschengemachte Klimawandel“, der eine mächtige ökumenische Bewegung zum Leben erweckt hat; ein weiterer Beweis dafür, wie recht G. K. Chesterton mit seiner Feststellung hatte.

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Zahlen & Fakten

Was die aktuelle Situation unübersichtlich macht, ist die Gleichzeitigkeit von Permissivität und Repressivität. Noch nie konnten Individuen zwischen so vielen Freiheiten wählen. Es gibt die Ehe für alle. Gleichgeschlechtliche Paare können Kinder adoptieren. Homosexualität wurde entkriminalisiert, Abtreibung weitgehend legalisiert, Scheidung erleichtert, und mit dem sogenannten „Selbstbestimmungsgesetz“ in Deutschland wird jeder Mensch ab vierzehn selbst bestimmen können, ob er ein Mann oder eine Frau sein möchte, unabhängig vom „biologischen Geschlecht“, das ohnehin nur ein „soziales Konstrukt“ sei.

Der Zugewinn an Freiheit im Privaten geht einher mit einem Rückbau bürgerlicher Freiheiten im öffentlichen Raum.

Die LGBTQIA+-Community wird immer inklusiver, auch „Asexualität“ gilt inzwischen als eine Form sexueller Verwirklichung. Jede „Fraktion“ hat ihre eigene „Sexual Identity Flag“, so wie einst jedes Regiment der preußischen Infanterie unter einer eigenen Fahne ins Feld zog. Die Erweiterung privater Freiräume findet vor allem in zwei Bereichen statt: dem der sexuellen bzw. geschlechtlichen Vielfalt und der Familienpolitik. Die SPD plant allen Ernstes, den Begriff „Familie“ durch „Verantwortungsgemeinschaft“ zu ersetzen bzw. zu ergänzen. An einem solchen Konstrukt sollen bis zu vier Personen teilnehmen können, die füreinander „Verantwortung“ übernehmen, in allen möglichen Zusammensetzungen: vier Männer oder vier Frauen, drei Männer und eine Frau, zwei Männer und zwei Frauen, drei Frauen und ein Mann.

Zwang in der Gesellschaft 

Der Zugewinn an Freiheit im Privaten geht einher mit einem Rückbau bürgerlicher Freiheiten im öffentlichen Raum. Unter der Prämisse der Für- und Vorsorge für das Wohl des Volkes hat sich eine Verbotskultur in Deutschland etabliert, die einem dystopischen Roman entsprungen sein könnte. Mit einem Programm namens „Demokratie leben!“, das 182 Millionen Euro kostet, versucht die Regierung, dem Volk das richtige Bewusstsein beizubringen. Das Geld fließt an NGOs, die es an über 700 Projekte verteilen, mit dem Ziel, „Demokratie und Vielfalt zu stärken und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit entgegenzutreten“, was eigentlich eine Aufgabe der Schulen wäre, wenn diese nicht bereits mit der Integration von Kindern aus Problemfamilien überfordert wären.

Gut möglich, dass solche Projekte eine Wirkung entfalten, aber womöglich nicht die gewünschte; vor allem junge „migrantische Wutbürger“, so umschrieb eine grüne Politikerin vor kurzem das Milieu, aus dem aktuell Judenhass strömt, scheinen gegen Umerziehungsversuche immun zu sein.

Ansonsten aber kommt die Verbotskultur gut voran. Obwohl inzwischen in fast allen Kantinen veganes und vegetarisches Essen angeboten wird, gibt es immer wieder Rufe nach einer gesetzlichen Regelung, die nur vegane und vegetarische Gerichte zulässt: Tofu  für alle!

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Zahlen & Fakten

Ginge es nach Karl Lauterbach, dem deutschen Gesundheitsminister, würden alle salz-, zucker- und fetthaltigen Fertiggerichte aus den Regalen der Supermärkte verschwinden. Sein Kollege Cem Özdemir, zuständig für Ernährung und Landwirtschaft, arbeitet an einem „Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel“, um vor allem Kinder und Jugendliche vor Übergewicht und Adipositas zu bewahren. Ein allgemeines Tabakwerbeverbot ist seit Jahren in Kraft, trotzdem hat sich 2022 der Anteil der Rauchenden unter den Vierzehn- bis Siebzehnjährigen fast verdoppelt, von 8,7 auf 15,9 Prozent.

Zurück zum Nötigsten

Derzeit ist der Abbau der Bürokratie das große Thema. Bürokratie, so hört man es jeden Tag, bremse alles aus, vor allem den Wohnungsbau. 400.000  neue Wohnungen sollten letztes Jahr errichtet werden. Als absehbar war, dass es höchstens 280.000 sein würden, gab die zuständige Ministerin, Klara Geywitz, eine bedeutungsschwere Erklärung ab: „Wir wissen, dass wir das Ziel nicht erreichen werden, aber wir halten daran fest!“ Vor allem das deutsche Baurecht mit seinen etwa 20.000 „baurelevanten Regelungen“ müsse dringend verschlankt werden. Am besten auf 613 Gebote und Verbote, das jüdische Regelwerk, das sich seit Jahrtausenden bewährt hat.

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Conclusio

Am Anfang war das Wort, und das Wort war ein Verbot. Im Judentum sind es 613 Gebote und Verbote, deren Auslegung und gegebenenfalls auch geschickte Umgehung jede Menge Kreativität entfachte. Nachdem sich die Menschen von ihren Göttern befreit hatten, fielen sie weltlichen Glaubensgemeinschaften anheim. Doch die Wahnideen von Nationalsozialismus und Kommunismus agierten nicht weniger brutal und zerstörerisch als ihre religiös motivierten Vorgänger. Heute dominiert die ökumenische Bewegung des „menschengemachten Klimawandels“. Unsere Gesellschaft ist nachgiebig und autoritär zugleich. Während wir im Privaten an Freiheit gewinnen, wird die Freiheit im öffentlichen Raum sukzessive eingeschränkt. Gut gemeinte Projekte erzeugen oft eine gegenteilige Wirkung. Auf der Strecke bleibt die  Eigenverantwortung.

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