Gendern als Folge des langen Friedens

Es herrscht Babylon. In Friedenszeiten streben die Individuen auseinander. Das lässt sich auch in der Sprache beobachten.

Illustration zum Thema Gendern: Ein Mann prüft Texte und hält einen Stempel mit Gender-Sternchen in der Hand, womit er Papiere stempelt.
Sprache ist Abbild einer Gesellschaft – lässt sie sich von oben steuern? © Team Rottensteiner Red Bull

Eine Gesellschaft betrachten wie ein Historiker, der vierhundert Jahre zurückblickt – so sollten wir auf unsere Zeit schauen können! Dann wären wir gescheiter. Ebenso interessant wie sein Blick zurück auf unsere Gegenwart wäre unser Blick nach vorne in seine Gegenwart. Oder ihre … oder … xxx. Wie viele Geschlechter sind dann Standard? Oder sind es wieder nur zwei? Oder nur eines – das Mensch. Wäre in seinen … ihren … xxx … Überlegungen das Gendern, das uns heute so aufregt, selbstverständlich? Würde er … sie … xxx … unser Sprechen als einen Skandal empfinden wie wir die Sklaverei? Oder würde das Thema unter „Kuriositäten aus alter Zeit“ laufen?

Versuchen wir zu tun, als ob uns ein Blick aus seinen … ihren … xxx Augen gelänge: Sie hatten einen langen Frieden – das ist das Erste, was kommende Generationen über uns sagen werden. Im Frieden – das gilt nicht nur im Umgang zwischen den Nationen und den Völkern, sondern auch in kleineren Bereichen bis zur Familie – wächst das Individuum. Das Bewusstsein, einem Kollektiv anzugehören, dagegen schrumpft. 

In Zeiten des Krieges dagegen reduziert sich das Individuelle, das Kollektive bläht sich auf. Es wird für „eine Sache“ gekämpft, nicht für meine Haut. Die „Sache“ kleidet sich in Ideologie, die Ideologie in Moral, und die baut sich die Sprache zurecht. So wird zum Beispiel aus dem trockenen Begriff der Nation das „Vaterland“. Der Trick besteht darin, ein emotional hoch aufgeladenes Wort – „Vater“ – einem neutralen Wort voranzustellen, und schon lädt sich auch ein an und für sich fader Begriff mit Gefühlen auf, unter Umständen mit Gefühlen, die uns einreden, es sei gut, unser Leben hinzugeben und andere Leben zu nehmen. 

Die Nation, was ist sie anderes als ein historisch politisches Gebilde? Auch eine Verkehrstafel ist ein historisch politisches Gebilde, aber niemand würde von mir erwarten, dass ich, wenn ich ein Stoppschild vor mir sehe, in martialischen Jubel ausbreche. 

Gott individualisierte die Gesellschaft

Kriegszeiten entwickeln eine gesellschaftliche Anziehungskraft, eine Ballung; in Friedenszeiten hingegen herrscht eine Zentrifugalkraft, die Individuen streben auseinander. Das lässt sich in vielen Bereichen beobachten. Auch in der Sprache.

In der Genderdebatte schlägt sich die historisch einmalige Zersplitterung nieder.

Die Sprache ist das wichtigste Bindeglied zwischen den Individuen, sie ist das mächtigste Instrument, soll aus verstreuten Ichs ein Wir werden. Sprache setzt im selben Maß Einigung voraus, wie sie Einigung erzeugt. Die in Friedenszeiten rasant zunehmende Individualisierung drückt sich in der Art aus, wie wir miteinander reden. Sprache ist immer Abbild einer Gesellschaft. In der Genderdebatte schlägt sich diese historisch einmalige Zersplitterung der Gesellschaft nieder. Gendern ist – so gesehen – eine Kollateralfolge unseres lang andauernden Friedens.

Sprache beruht auf Einigung. Wenn ich mich mit meinem Gegenüber nicht einigen kann, was ein Tisch ist und was nicht, dann herrscht Babylon. In der biblischen Geschichte vom Turmbau in dieser Stadt heißt es: 

Alle Menschen hatten die gleiche Sprache und gebrauchten die gleichen Worte. Sie sagten zueinander: Auf, bauen wir uns eine Stadt und einen Turm mit einer Spitze bis zum Himmel, und machen wir uns damit einen Namen, dann werden wir uns nicht über die ganze Erde zerstreuen. Da stieg der Herr herab, um sich Stadt und Turm anzusehen, die die Menschenkinder bauten. Er sprach: Seht nur, ein Volk sind sie, und eine Sprache haben sie alle. Und das ist erst der Anfang ihres Tuns. Jetzt wird ihnen nichts mehr unerreichbar sein, was sie sich auch vornehmen. Auf, steigen wir hinab, und verwirren wir dort ihre Sprache, so dass keiner mehr die Sprache des anderen versteht.

Die Babylonier waren ein kriegerisches Volk. Gott zersplitterte ihre Sprache – er individualisierte die Gesellschaft. Auch, weil er fürchtete, die kriegerischen Gelüste könnten sich eines Tages gegen ihn richten.

Sprache verändert sich

Wie soll man schreiben? Wie darf man schreiben? Sprache, sagten wir, beruht auf Einigung. Einigung aber benötigt Gesetze. Es gibt Wörterbücher, die „schreiben vor“, wie zu schreiben ist. Allerdings – die schwerste Sanktion für Verstöße ist ein „Nicht genügend“. In liberalen Gesellschaften wird niemand wegen falscher Grammatik oder falsch verwendeter Verben eingesperrt. 

Sprache aber ändert sich, sie hat sich immer verändert, und die Nachschlagwerke haben sich den Veränderungen angepasst. Das hat zu Diskussionen und Protesten geführt. Erinnern wir uns: Zeitungen und Verlage haben angekündigt, ihre Produkte nicht nach der neuen Rechtschreibung auszurichten. Anfänglich fühlte ich mich abgestoßen, wenn ich statt „daß“ „dass“ las, heute erlebe ich es umgekehrt. 

Die Sprache, das ungezogene Kind

Das generische Maskulinum ist ebenso wenig mit Keilen in Steintafeln gehämmert wie das scharfe S am Ende eines Wortes. Aber anders als bei diesem wurde nicht eine Alternative angeboten, sondern ein Begriff wurde in zwei gleich gültige aufgeteilt. Man sprach nicht mehr von der „Arbeiterbewegung“, sondern von der „Arbeiter- und Arbeiterinnenbewegung“. Das machte das Schreiben und auch das Lesen umständlich, zäh und oftmals unverständlich. Manche sagten: hässlich. 

Ästhetische Kriterien spielten allerdings bei Sprachumgestaltungen noch nie eine Rolle. Also wurde vorgeschlagen, beim Schreiben ein Binnen-I einzusetzen oder einen Doppelpunkt. Beim Lesen sollte nach dem Maskulinum ein winziger Stopp eingelegt und dann das „innen“ angefügt werden. Als Folge der weiter fortschreitenden Individualisierung gab es weitere Einwände: Die geschlechtliche Identität, ob sie nun biologisch oder gesellschaftlich argumentiert wird, lasse sich nicht mehr auf weiblich und männlich beschränken – ich habe mich erkundigt, es gebe bis zu sechzig: androgyner Mensch, androgyn, bigender, weiblich, Frau zu Mann, gendervariabel, genderqueer, intersexuell (oder auch inter*), männlich, Mann zu Frau, weder-noch, geschlechtslos, nicht-binär, weitere, pangender, trans, transweiblich, transmännlich, Transmann, Transmensch und so weiter … Auch dies müsse die Sprache abbilden.

Es wurde zwar immer wieder beobachtet, dass neue Wörter „künstlich“ erzeugt wurden, aus welchen Gründen auch immer, dass sich diese Wörter aber so gut wie nie durchgesetzt haben. 

Sprache benötigt immer wenigstens einen Zweiten. Außer man ist Gott.

Die Nazis wollten Fremdwörter eindeutschen – anstatt Revolver der berühmt-berüchtigte „Meuchelpuffer“. Im Jahr 1999 veranstaltete der Duden einen Wettbewerb. Es sollte ein Adjektiv gefunden werden, das, vergleichbar mit dem Wort „satt“, dem Gegenteil von „hungrig“, das Gegenstück zu „durstig“ bezeichnete. Es ist ja auch kurios, dass es einen solchen Begriff nicht gibt. Die klügsten Köpfe der Linguistik hatten sich dieselben zerbrochen, warum dies so sei; sie waren auf keinen grünen Zweig gekommen, Sprache verhält sich bisweilen wie ein ungezogenes Kind. Unter den 100.000 Einsendungen waren 45.000 verschiedene Worte. Zum Gewinner erklärt wurde „sitt“. Vierzig voneinander unabhängige Personen hatten diesen Begriff vorgeschlagen. Die Dudenredakteure waren begeistert. Durch den bloßen Austausch des Vokals war das kuriose Problem endlich gelöst. Und wie elegant! Der Vokal war vom Wort „trinken“ geborgt. Außerdem war „sitt“ ein Stabreim zu „satt“. Bravo! – Haben Sie jemals nach dem fünften Bier ein sechstes mit dem Satz „Danke, ich bin sitt“ abgelehnt?

Das Paradoxon der Schönheit

(Klammer auf: Das Argument, Sprache solle doch auch schön sein, hat – da mache ich mir keine Illusionen – vor allem unter Schrifstellern, Poeten und Ästheten Gewicht. Das Paradoxon der Schönheit ist, dass sie oftmals erst bemerkt wird, wenn sie fehlt oder verlorengegangen ist. In der Architektur kann rückgebaut werden; es ist schwierig, aber möglich. In der Sprache geht das nicht. Die schöne Sprache von Goethe und Heine, von Thomas Mann und Rainer Maria Rilke kann nicht revitalisiert werden. Sie bleibt schön, aber sie ist vergangen. Wer sie retten will, wird zum Epigonen. Aber man kann von den Dichtern Schönheit fordern – zum Beispiel, wenn es darum geht, trockene Gesetze neu schön zu gestalten. So formulierte der Schriftsteller Adolf Muschg die Präambel zur Schweizer Verfassung: Die Stärke des Volkes bemisst sich am Wohl der Schwachen. Und Jacob Grimm stellte vor der Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche 1848 den Antrag, den Grundrechten zwei Sätze voranzustellen: Das deutsche Volk ist ein Volk von Freien, und deutscher Boden duldet keine Knechtschaft. Fremde Unfreie, die auf ihm verweilen, macht er frei. – Elegante Worte! – Klammer zu.)

Zeitalter der Zeichen

Die Zersplitterung der Gesellschaft in sich immer selbstbewusster voneinander unterscheidende Individuen verlangt nach einer immer enger sich differenzierenden Begrifflichkeit. Der Prozentsatz an Einpersonenhaushalten in Europa und Nordamerika wächst ständig. Die klassische Familie könnte bald zur Ausnahme werden. Immer mehr Firmen werden gegründet, in denen nur eine Person beschäftigt ist. Die Pandemie hat zwar nicht das Wort „Homeoffice“ erfunden, die Existenz desselben aber weit verbreitet. Der Aphorismus des französischen Philosophen Blaise Pascal ist geläufig – das ganze Unglück der Menschen rühre allein daher, „dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen“. Inzwischen haben es sehr viele gelernt. Man kommt mit sich selber aus. Und das ist gut so. 

Aber wie redet man mit sich selber? Benötigt das Selbstgespräch Regeln oder gar Gesetze? Nein. Sprache benötigt immer wenigstens einen Zweiten. Außer man ist Gott. Es gibt allerdings die Vermutung, Gott habe den Menschen aus einem einzigen Grund erschaffen, nämlich, damit er jemanden habe, mit dem er reden kann. 

Der Historiker in vierhundert Jahren wird vielleicht konstatieren, wir lebten in einer Zeit eines nie dagewesenen Umbruchs. In dem Zeitalter, in dem sich das „Wir“ aufgelöst hat. Das sogenannte „Gendern“ habe erst den Beginn angezeigt. Ich lege dieser zukünftigen Person – ob sie sich als männlich, weiblich oder anders definiert, geht mich nichts an, das ist allein ihre „Sache“ – in den Mund: „Es war das Zeitalter der Anführungs- und anderer Zeichen.“

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