Der Tag danach in Gaza

Eine durchdachte Nachkriegsordnung könnte die Basis für  einen israelisch-palästinensischen Frieden bilden. Die Juristin Netta Barak-Corren hat gemeinsam mit den Experten Danny Orbach, Netanel Flamer und Harel Chorev einen Friedensplan dafür entwickelt.

Das Bild zeigt eine Frau und drei Männer in einem Jeep. Dabei trägt die Frau die israelische Fahne auf ihrer Uniform am Oberarm und die Männer die jordanische, ägyptische bzw. saudi-arabische Fahne. Das Bild illustriert einen Artikel über einen möglichen israelisch-palästinensischen Friedensplan.
Zukunftsvision: die Vier im Jeep. Zur Sicherung der Ordnung im Gazastreifen wird Israel auch arabische Länder beiziehen müssen. Etwa Jordanien, Ägypten und Saudi-Arabien. © Michael Pleesz
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Auf den Punkt gebracht

  • Nachkriegsordnung. Eine durchdachte Nachkriegsordnung könnte die Basis für einen israelisch-palästinensischen Frieden bilden.
  • Lehren. Historische Präzedenzfälle wie Deutschland und Japan zeigen die Bedeutung eines pragmatischen Umgangs mit bestehenden Strukturen.
  • Fehler. Erfahrungen im Irak und Afghanistan verdeutlichen die Gefahren eines starren Ansatzes und die Notwendigkeit einer vollständigen Niederlage.
  • Wiederaufbau. Gaza benötigt Reformen, stabile Institutionen und die Einbindung internationaler Akteure für eine friedliche Zukunft.

Der israelisch-palästinensische Konflikt ist eine der hartnäckigsten und emotionalsten Auseinandersetzungen der modernen Geschichte. Vielen gilt die Zweistaatenlösung als das wünschenswerteste Ergebnis – eine Vision von zwei Nationen, die Seite an Seite in Frieden leben. 

Die Ereignisse der letzten Jahre, insbesondere der brutale Konflikt, der nach dem Hamas-Anschlag vom 7. Oktober ausgebrochen ist, haben diese Vision jedoch in weite Ferne rücken lassen. Die Herausforderung geht über die Einstellung der Kampfhandlungen hinaus. Es bedarf eines nachhaltigen Plans für den Gazastreifen, der die Ursachen des Konflikts angeht und die Grundlage für einen umfassenderen Frieden schafft. 

Wir haben uns zusammengetan, um einen solchen Plan auszuarbeiten, und dabei unser Fachwissen in den Bereichen Recht, Geschichte, Konfliktlösung und Naher Osten kombiniert. Wir untersuchten frühere Fälle von Wiederaufbau nach einem Krieg mit ähnlichen Merkmalen wie im Gaza-Konflikt und konzentrierten uns dabei sowohl auf erfolgreiche Präzedenzfälle wie Deutschland und Japan als auch auf erfolglose wie den Irak und Afghanistan. 

Neu an unserem Ansatz ist die detaillierte Analyse dieser historischen Fälle und die Anpassung der daraus zu ziehenden Lehren an die Herausforderungen, mit denen Gaza heute konfrontiert ist. Unser Plan wurde in Israel breit diskutiert und erregte internationale Aufmerksamkeit. Hier skizzieren wir seine Schlüsselelemente.

Aus der Geschichte lernen

Beim Versuch, einen Nachkriegs-Plan zu entwerfen, sind historische Präzedenzfälle hilfreich. Solche, in denen Nationen nach verheerenden Konflikten zu stabilen, friedlichen Staaten wurden – und andere, in denen dies nicht gelang. 

Zu den positiven Beispielen gehört die Entwicklung Deutschlands und Japans nach dem Zweiten Weltkrieg. Beide Länder lagen in Trümmern, ihre politischen und sozialen Strukturen waren zerrüttet. Dank umfassender Bemühungen unter der Führung der Alliierten erholten sie sich nicht nur, sondern wurden zu blühenden Demokratien, die in die Weltgemeinschaft integriert sind.

Diese Erfahrung lehrt uns, wie wichtig ein pragmatischer Umgang mit den bestehenden bürokratischen und pädagogischen Strukturen ist. In Japan wurden viele Beamte der kaiserlichen Regierung übernommen, sofern sie nicht direkt in Kriegsverbrechen verwickelt und bereit waren, sich an die neue, friedliche Ordnung zu halten. In ähnlicher Weise wurde in Deutschland der Entnazifizierungsprozess sorgfältig gesteuert, um die vollständige Zerschlagung von Verwaltungs- und Bildungseinrichtungen zu vermeiden. Dieser Ansatz trug zur Stabilisierung dieser Gesellschaften bei, indem er die Kontinuität bewahrte und das Fachwissen derjenigen nutzte, die mit den lokalen Gegebenheiten vertraut waren.

Strategische Fehler

Im Gegensatz dazu verdeutlichen die Erfahrungen im Irak und in Afghanistan die Gefahren eines allzu starren Ansatzes. Die Entscheidung der USA, die irakische Armee aufzulösen und eine weitreichende Ent-Baathifizierung (das irakische Pendant zur Entnazifizierung in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg – die Baath-Partei war die Partei Saddam Husseins, Anm.) durchzuführen, schuf ein Machtvakuum, das Aufstände und Gewalt förderte.

In Afghanistan wurden die Bemühungen um die Bildung einer demokratischen Regierung durch den Ausschluss wichtiger Akteure untergraben, die mit den Taliban verbunden waren. Das ließ die Kämpfe wieder aufflammen. Die Gewalt schlug in Terror um, der sich gegen Wiederaufbauprojekte richtete. Schulen, Regierungseinrichtungen und Mitarbeiter der neuen Regierung wurden terrorisiert.

Die wichtigste Lehre aus historischen Erfahrungen für den Wiederaufbau ist die Bedeutung einer vollständigen Niederlage.

Das zeigt, wie gefährlich es sein kann, wenn übermäßig Druck ausgeübt wird. Zu den strategischen Fehlern gehörte auch die Entfremdung der einheimischen Bevölkerung und das Versäumnis, die Grenzen vor dem Eindringen von Terroristen zu schützen. In Summe brachten all diese Faktoren die Bemühungen um einen demokratischen Wiederaufbau zum Scheitern.

Der Gazastreifen befindet sich in einer humanitären Krise. Die Infrastruktur wurde weitreichend zerstört, es fehlt an lebensnotwendigen Gütern, die Bevölkerung ist nach den monatelangen Angriffen traumatisiert. Trotzdem behauptet die Hamas weiterhin ihre politische Autorität, und allein ihre Präsenz wird von vielen als Garantie für künftige Gewalt betrachtet.

Die Tyrannei der Hamas

Die Hamas ist nicht nur eine Terrororganisation. Sie ist auch zu einem tyrannischen Regime geworden, das die Bevölkerung des Gazastreifens seit fast zwei Jahrzehnten unterdrückt. Die Hamas hat systematisch Hass geschürt und zu Gewalt erzogen, während sie jegliche Opposition zum Schweigen brachte oder sogar ermordete. Deshalb wird es eine immense Herausforderung, den Gazastreifen zu deradikalisieren und politische Institutionen aufzubauen.

Abgesehen von ihrer brutalen Taktik hat die Hamas ein korruptes System etabliert, das humanitäre Hilfe für den eigenen Bedarf abschöpft, Gelder und Materialien, die für den Wiederaufbau bestimmt waren, in den Aufbau von Terrorinfrastruktur umleitet und die Macht durch eine Kombination aus Einschüchterung und Vetternwirtschaft absichert. Zwar hatten Korruption und Radikalisierung bereits vor der Herrschaft der Hamas existiert, doch die Organisation hat sie auf ein neues Niveau gehoben.

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Zahlen & Fakten

Die wichtigste Lehre aus historischen Erfahrungen ist die Bedeutung einer vollständigen Niederlage, um die für einen Wiederaufbau erforderliche Stabilität zu erreichen. Die Entmachtung der Hamas ist ein notwendiger Schritt für eine langfristige Friedenslösung, reicht aber allein bei weitem nicht aus. Im Gazastreifen muss die Grundlage für eine stabile und friedliche Gesellschaft geschaffen werden. Dies erfordert die Schaffung stabiler Institutionen, die Förderung einer zivilen und politischen Kultur, die ein friedliches Zusammenleben unterstützt, sowie die Einbeziehung lokaler und internationaler Akteure.

Vertrauen fördern

Der erste Schritt nach dem Krieg besteht in der Deckung des unmittelbaren humanitären Bedarfs der Bevölkerung. Dies erfordert die rasche Einrichtung einer Übergangsverwaltung, die die Bedürftigen mit Nahrungsmitteln, Medikamenten und Unterkünften versorgt. Die Beteiligung internationaler und regionaler Akteure, insbesondere gemäßigter arabischer Staaten, ist von entscheidender Bedeutung, um diesen Bemühungen Legitimität zu verleihen und sie effizient durchzuführen. 

Historische Präzedenzfälle wie der Marshallplan in Europa und die Bereitstellung humanitärer Hilfe für Japan nach dem Zweiten Weltkrieg zeigen die entscheidende Rolle, die großzügige Hilfe bei der Stabilisierung von Regionen nach Konflikten und für einen längerfristigen Wiederaufbau spielt. Gleichzeitig muss unbedingt verhindert werden, dass die Hamas wieder an die Macht kommt. Dies erfordert robuste Überwachungs- und Sicherheitsmaßnahmen, um sicherzustellen, dass die humanitäre Hilfe nicht von der Hamas geplündert oder manipuliert wird und dass die Hamas sie nicht zum Wiederaufbau ihres eigenen Einflusses nutzen kann. Die Nutzung von lokalem Wissen, insbesondere von Mitarbeitern der Palästinensischen Autonomiebehörde, die 2007 von der Hamas entlassen wurden, kann bei der Bewältigung dieser Aufgabe helfen und in der lokalen Bevölkerung das Vertrauen fördern.

Eine friedliche Vision

Langfristiges Ziel sollte die Schaffung eines staatlichen Rahmens sein, der schrittweise durchzuführende nachhaltige Reformen anstelle einer abrupten Demokratisierung vorsieht. Die Erfahrungen aus Deutschland und Japan zeigen, wie wichtig der Aufbau stabiler Institutionen und die Förderung einer Vision für eine friedliche Zukunft sind. In Gaza bedeutet dies die Schaffung einer Regierungsstruktur, die in der Lage ist, die Ordnung aufrechtzuerhalten, Dienstleistungen zu erbringen und die Rechtsstaatlichkeit zu fördern.

Eine Schlüsselkomponente dieses Plans ist der pragmatische Ansatz, Bürokraten und Pädagogen aus der Vorkriegsverwaltung zu inkludieren. Dies ist notwendig, um die Kontinuität in der Verwaltung zu wahren und das Chaos zu vermeiden, das im Irak und in Afghanistan entstand, als zu viele Beamte entlassen wurden.

Beim Wiederaufbau des Gazastreifens müssen große Teile des Hamas-Personals an Ort und Stelle bleiben.

Es mag schwer zu verstehen sein, aber ähnlich wie in Japan und Deutschland sollte es im Staatsapparat keine umfassende Säuberung geben. Beim Wiederaufbau des Gazastreifens müssen große Teile des Hamas-Personals an Ort und Stelle bleiben. Natürlich kann das nur für jene gelten, die nicht direkt in Terroraktivitäten verwickelt waren und bereit sind, sich an einen friedlichen Verhaltenskodex zu halten.

Wesentlicher Bestandteil dieses Prozesses ist eine Bildungsreform. In den Schulen müssen Mäßigung und Gewaltlosigkeit gefördert werden, nicht wie bisher Dschihad und Hass. Dies ist der Weg zu einem langfristigen Frieden, der bei früheren Versuchen einer Konfliktlösung nie ernsthaft beschritten wurde. Ein solcher Prozess muss mit der palästinensischen Kultur und Erzählung übereinstimmen und sollte idealerweise von friedenssuchenden Palästinensern geleitet werden. Moderate arabische Staaten, darunter die Vereinigten Arabischen Emirate und Saudi-Arabien, die in den letzten Jahren selbst ähnliche Prozesse durchlaufen haben, können als Vorbild dienen. 

Bürger statt Flüchtlinge

Auch dies ist eine Lehre aus der Geschichte: Als die Alliierten Ersatz für die Schulbücher der Nazis suchten, griffen sie auf gewaltfreie Erzählungen in der deutschen Geschichte und Kultur zurück. Sie erkannten die Bedeutung einer kulturell angepassten Bildungsreform. Nicht nur die Gebäude im Gazastreifen sind zerstört und müssen neu aufgebaut werden. Man wird sich auch mit den sozialen und kulturellen Faktoren beschäftigen müssen, die zur Radikalisierung beitrugen. So waren etwa die riesigen Flüchtlingslager eine Brutstätte des Extremismus und müssen in moderne Stadtviertel mit angemessenen Lebensbedingungen umgewandelt werden. Deradikalisierung kann nur funktionieren, wenn den Bewohnern des Gazastreifens ein dauerhaftes Wohnrecht in ihren Häusern zugestanden wird – anstellte des permanenten Flüchtlingsdaseins. 

Die Einbindung gemäßigter religiöser Führer ist ebenfalls von entscheidender Bedeutung. Der Islam ist ein integraler Bestandteil der Kultur und Identität des Gazastreifens. Daher können sunnitische Ulama (Gelehrte, Anm.), auch solche von außerhalb des Gazastreifens, die bereit sind, religiöse Toleranz und Koexistenz mit Israel zu unterstützen, eine Schlüsselrolle bei diesen Bemühungen spielen. Natürlich birgt so ein Prozess zahlreiche Risiken. Die Erfahrungen im Irak und in Afghanistan zeigen sehr klar, wie gefährlich es werden kann, wenn es nicht gelingt, eine tragfähige Alternative zum vorherigen Regime aufzubauen. 

Planung für den Notfall

Im Gazastreifen könnten ähnliche Fehler zu einer Wiederholung der aktuellen Krise unter noch schlimmeren Bedingungen führen. Deshalb müssen unbedingt Notfallpläne vorhanden sein, die umgesetzt werden können, wenn die ursprünglichen Strategien auf Widerstand stoßen oder nicht die gewünschten Ergebnisse bringen. 

Eine wichtige Lehre aus historischen Beispielen sowie aus der israelisch-palästinensischen Geschichte ist, dass eine Machtübergabe an substanzielle, messbare Fortschritte geknüpft sein muss und nicht an Wunschdenken oder willkürliche Fristen. Diese Struktur ermöglichte den Erfolg Deutschlands und Japans. Ihr Fehlen führte zum Zusammenbruch des Irak und Afghanistans sowie zum Scheitern des Oslo-Prozesses. Dieses Mal müssen wir es richtig machen.

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Conclusio

Zweistaatenlösung. Der angestrebte Erfolg eines sorgfältigen Wiederaufbaus im Gazastreifen könnte als Pilotprojekt dienen und ein Modell für die Bewältigung des israelisch-palästinensischen Konflikts im weiteren Sinne darstellen.
Risiken. Dieser Prozess ist hochriskant und bietet keinerlei Erfolgsgarantie. Doch viele Wendungen in der Geschichte der Menschheit – vom Ende der Sklaverei bis zum Untergang von Imperien – waren völlig unvorhersehbar.
Chancen. In den letzten Jahrzehnten sind sämtliche Lösungsversuche für den Konflikt gescheitert. Der potenzielle Erfolg – ein stabiler Gazastreifen und ein Entwurf für einen breiteren Frieden in  der Region – ist die Mühe wert.

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