Netanyahu zwischen den Stühlen
Ein Geiseldeal mit der Hamas liegt auf dem Tisch. Die Hälfte der Israelis ist dagegen, aber aus ganz unterschiedlichen Gründen.
Schilder, auf denen Benjamin „Bibi“ Netanyahu Teufelshörner trägt, Kotz-Emojis unter Interviews mit ihm und natürlich Zuschreibungen wie Kriegstreiber, Faschist und Hitler. Videoaufnahmen der Demonstrationen gegen ihn und für einen Geiseldeal, die hier in Israel in unterschiedlichen Städten seit fast einem Jahr jeden Samstag stattfinden, sah man insbesondere die letzte Woche vor allem auf pro-palästinensischen Accounts und im deutschen Fernsehen.
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Was damit bezweckt wird, ist klar: Schaut, ihr nennt uns hier im Westen Antisemiten, weil wir das Vorgehen der israelischen Regierung kritisieren, aber die Israelis gehen selbst gegen die aktuelle Situation auf die Straße. Das verzerrt nicht nur die Realität, sondern funktionalisiert Juden und Israelis, um die eigene Agenda zu untermauern.
Fakt ist, dass selbstverständlich alle Israelis die Geiseln zurückwollen und das am liebsten durch die absolute Kapitulation der Hamas, die es längst gäbe, würden ihre Führer nicht in Katar sitzen und Hummer essen. Selbst Hitler wusste, wann es Zeit ist, sich die Kugel zu geben. Aber dafür musste erst einmal Halb-Deutschland weggebombt werden. Nach insgesamt zwölf Jahren Diktatur und sechs Jahren Krieg. Hier haben wir es mit 18 Jahren Diktatur und elf Monaten Krieg zu tun. Dennoch wird es eine Kapitulation der Hamas voraussichtlich nicht geben. Denn ihr Volk in Gaza ist ihnen einfach scheißegal und die Nachrüstung der Terroristen in der Westbank stand in den letzten Monaten im Fokus.
Wer ist denn das israelische Volk? Die 49 oder die 43 Prozent?
Die demonstrierenden Israelis, die tagelang auf deutschen Fernsehern flimmerten, sind trotzdem nicht alle für denselben Geiseldeal. In einer Umfrage von Kan News, dem staatlichen Nachrichtenkanal, sprachen sich 49 Prozent gegen den militärischen Abzug von der Philadelphi Passage aus. Die Passage ist ein schmaler Streifen Land entlang der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten, über den in der Vergangenheit die Waffen- und Raketenarsenale der Hamas in den Gazastreifen geschmuggelt worden sind. 43 Prozent waren dafür. Das heißt, etwa die Hälfte der Bevölkerung ist gegen den aktuellen Deal, die Hälfte dafür. Dazwischen Bibi, dem alle vorwerfen, er würde sich gegen das israelische Volk stellen. Aber wer ist denn „das israelische Volk“? Die 49 oder die 43 Prozent?
Verwundete Gesellschaft
Über die militärische Relevanz des Landabschnitts zwischen Ägypten und Gaza schrieb ich bereits vor zwei Monaten. Denn hier in Israel weiß man sehr wohl, gibt man die militärische Kontrolle über die Grenze zwischen Ägypten und Gaza ab, fängt alles wieder von vorne an und die letzten zwölf Monate waren quasi umsonst.
Damit sage ich nicht, Bibi sei hier besonders beliebt. Die meisten hassen ihn. Auch, weil Mr. Security, als der er sich jahrelang verkaufte und die Wahlen gewann, das Land in die größte sicherheitspolitische Krise der letzten Jahrzehnte manövriert hat. Aber auch, weil viele sein Vorgehen für nicht hart genug erachten.
Dennoch sind auch jene, die für den aktuellen Geiseldeal sind, nicht mit den Linken „Ceasefire Now“-Grölenden im Westen vergleichbar. Denn sie wissen, wer die Hamas ist. Sie wissen von ihrer genozidalen Absicht und haben keinerlei Illusionen, dass sie dieser jederzeit zum Opfer fallen könnten. Hier hält niemand, außer vielleicht ein paar versprengte B’tselem-Mitarbeiter, die Terrorgruppe für eine Widerstandsbewegung. (B’tselem ist eine israelische NGO, die in Israel von vielen als staatsfeindlich oder gar terrorunterstützend betrachtet wird, Anm.)
Und genau das ist auch der Knackpunkt. Die Identifikation mit den Geiseln ist hier selbstverständlich omnipräsent. „Oh, so würde man also reden und handeln und nicht-handeln, wäre ich in einem Tunnel in Gaza“. Das ist der Gedanke, mit dem hier jeder jeden Morgen aufwacht und jeder jeden Abend schlafen geht. Das führt zu einer lähmenden Angst. Die Menschen, die hier wutentbrannt auf die Straße gehen, gehen auch für ihr zukünftiges Ich auf die Straße und die Hoffnung darauf, dass, wenn ihnen dasselbe wie Hersh, Naama und Noa am 7. Oktober passiert, anders gehandelt würde.
Sie hassen Bibi aus völlig unterschiedlichen Gründen.
Gleichzeitig ist die am 7. Oktober ausgelöste Unsicherheit und der totale Kontrollverlust, mit dem die israelische Gesellschaft konfrontiert wurde, auch ein großes Hindernis, die Dinge realistisch zu sehen. Die illusorische Vorstellung, man hätte schon längst mit der Hamas einen Geiseldeal beschließen können, scheint wie eine psychologische Antwort darauf, dass die Tatsache der immer noch fehlenden Kontrolle über die Situation nicht ausgehalten werden kann.
Bibi, dem viele mittlerweile eine schwere mentale Umnachtung vorwerfen, muss diese Gesellschaft und dieses Land, das ihm in Teilen schon vor dem Schwarzen Schabbat nicht mehr vertraute, durch eine existenzielle Krise führen, die gleichzeitig sein gesamtes politisches Vermächtnis definieren wird. Und man muss Bibi nicht in- und auswendig kennen, um zu verstehen, dass dieser Mann alles für die richtige Erzählung über seine Person täte. So wie im Übrigen alle Menschen in Machtpositionen und weniger mächtigen Positionen. Seine politischen Entscheidungen der letzten Jahre haben dem Land extrem geschadet.
Uneinige Mehrheit und dazwischen Netanyahu
Das sehen viele, aber eben nicht alle so. Er hat nach wie vor eine Basis, die ihn unterstützt. Die Mehrheit allerdings will ihn so schnell wie möglich loswerden. Diese Mehrheit ist sich politisch allerdings überhaupt nicht einig, so dass es keinen Nachfolger geben könnte, der von ihr gemeinschaftlich gewählt würde.
Sie hassen Bibi aus völlig unterschiedlichen Gründen. Die einen wollen den aktuellen Geiseldeal und keinen Krieg mehr. Die anderen wollen den aktuellen Geiseldeal und dass danach der Krieg weitergeht. Die einen wollen einen Geiseldeal, aber eben nicht den aktuellen, und dass der Krieg endet. Die anderen wollen einen Geiseldeal, aber nicht den aktuellen, und dass danach der Krieg weitergeht. Die einen wollen überhaupt keinen Geiseldeal, finden Bibi hätte längst radikaler gegen den Terrorismus vorgehen müssen, und halten ihn deshalb für einen Schlappschwanz. Die anderen glauben immer noch an Frieden mit den Palästinensern und engagieren sich in fragwürdigen Organisationen wie Standing Together (eine israelisch-arabische Bewegung, die gegen die Besatzung mobilisiert, Anm.).
In deutschen Medien und auf deutschen Aktivisten-Accounts werden die Demonstranten mit ihren unterschiedlichen Beweggründen alle über einen Kamm geschert. Dass öffentlich behauptet wird, sie wären eine homogene Masse, verdeutlicht, dass Israel ununterbrochen als Projektionsfläche für die eigene politische Position herhalten muss. Komplex darf das jüdische Volk offensichtlich nicht sein. Dazwischen Bibi, mit dem vermutlich kein politischer Führer weltweit aktuell tauschen wollen würde.