Funktioniert das dänische „Ghetto-Paket“?
Dänemark geht rigoros gegen die negativen Folgen der Zuwanderung vor und setzt bei der Integration auch auf Zwang. Wie erfolgreich ist das „Ghetto-Paket“ wirklich?

Auf den Punkt gebracht
- Migration. Dänemark beschränkt die Einwanderung durch Beseitigung möglicher Pull-Faktoren und will Zuwanderer mittels Zwangsmaßnahmen besser integrieren.
- „Ghettos“. Wohnviertel mit hohem Ausländeranteil, hoher Kriminalität, geringem Bildungsstand und niedrigem Einkommen sollen bis 2030 aufgelöst werden.
- Integration. Kinder müssen ab dem ersten Geburtstag Dänisch lernen, gefährdete Wohngebiete sollen sozial besser durchmischt werden.
- Gleichbehandlung. Da viele Maßnahmen auf die Herkunft der Betroffenen abzielen, ist nicht nur ihr Erfolg, sondern auch ihre Rechtskonformität fraglich.
Bessere soziale Durchmischung von Wohngebieten, Verringerung der Arbeitslosigkeit und Kriminalität unter Zuwanderern sowie die Erhöhung ihrer Bildungschancen – die Ziele von Dänemarks Regierung sind unumstritten. Die Maßnahmen sind es keineswegs. 2018 hat die damalige liberal-konservative Regierung unter Ministerpräsident Lars Løkke Rasmussen den 22-Punkte-Plan „Ein Dänemark ohne Parallelgesellschaften – keine Ghettos im Jahr 2030“ entwickelt.
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Am umstrittensten ist das Herzstück des Projekts: das Gesetz L38, mit dem die Bevölkerungsstruktur in Brennpunktvierteln mithilfe drastischer Maßnahmen, darunter Zwangsumsiedlungen, verändert werden soll.
Weil davon nur Wohnviertel betroffen sind, in denen ein bestimmter Teil der Bewohner einen nichtwestlichen Hintergrund hat, sind gegenwärtig Klagen wegen Diskriminierung aufgrund der ethnischen Herkunft beim Obersten Gerichtshof Dänemarks und beim Europäischen Gerichtshof (EuGH) in Luxemburg anhängig. Aus Sicht der dänischen Regierung ist die freiheitseinschränkende und den Gleichheitsgrundsatz aufweichende Politik gerechtfertigt, weil die Probleme in manchen Wohngebieten so groß seien, dass es keine geeigneten milderen Mittel zu ihrer Lösung gäbe.
Zwischen 2018 und 2021 wurde ein Wohnviertel als „Ghetto“ klassifiziert, wenn es mehr als 1.000 Bewohner hatte, von denen über 50 Prozent nichtwestlicher Herkunft waren, was Personen mit dänischer Staatsangehörigkeit und einem Elternteil aus einem nichtwestlichen Land einschließt.
Die sozialdemokratische Regierung, die 2019 ins Amt kam, hat den belasteten Begriff „Ghetto“ 2021 aufgegeben und durch „Parallelgesellschaftsgebiete“ ersetzt. Inhaltlich jedoch haben die Sozialdemokraten unter Mette Frederiksen das Paket sogar verschärft: Seit 2023 dürfen in Vierteln, die bald die Kriterien für ein solches Gebiet erfüllen könnten oder bereits als solches identifiziert werden, nur noch maximal 30 Prozent der Bewohner nichtwestlicher Herkunft sein.
Zahlen & Fakten

Die Ghetto-Kriterien
Neben der Einwohnerzahl (mehr als 1.000 Bewohner) und dem Anteil nichtwestlicher Bewohner (maximal 30 Prozent) müssen zusätzlich zwei von vier Kriterien erfüllt sein, um ein Gebiet als „Parallelgesellschaft“ auszuweisen:
- Der Anteil der 18- bis 64-Jährigen, die weder in Arbeit noch Bildung sind, lag in den letzten beiden Jahren über 40 Prozent.
- Der Anteil an Bewohnern im Alter von 30 bis 59 Jahren, der nur eine Volksschulbildung vorweisen kann, ist größer als 60 Prozent.
- Die 15- bis 64-Jährigen – mit Ausnahme derjenigen, deren Bildungserwerb noch nicht abgeschlossen ist – verfügen über weniger als 55 Prozent des Durchschnittseinkommens in ihrer Region.
- Der Anteil der Bewohner, die in den letzten beiden Jahren für Straftaten verurteilt wurden, ist dreimal so hoch wie im Landesdurchschnitt.
Die Herkunft entscheidet
Welche Konsequenzen mit dieser Klassifizierung für die Bewohner einhergehen, hängt davon ab, ob ihr Viertel nur als „Ghetto“ oder als „hartes Ghetto“ beziehungsweise seit 2021 als „Parallelgesellschafts-“ oder als „Transformationsgebiet“ eingestuft wird. Die Kriterien sind jeweils die gleichen, der einzige Unterschied ist die Anzahl an Jahren, in denen ein Gebiet als Problemviertel gelistet wird.
Seit 2021 gilt: Findet sich ein Viertel in fünf aufeinanderfolgenden Jahren auf der Liste, wird es zum Transformationsgebiet erklärt – mit massiven Folgen für die Bewohner. Denn in diesem Fall muss der Anteil der Sozialwohnungen bis 2030 auf maximal 40 Prozent reduziert werden. Da in vielen dieser Gegenden Sozialwohnungen 95 bis 100 Prozent des Baubestandes ausmachen, wird das erschwingliche Wohnungsangebot erheblich verringert. Im innenstadtnahen Kopenhagener Stadtteil Mjølnerparken setzt man vor allem auf den Verkauf der Wohnungen an private Investoren und die Sanierung des Baubestandes. In städtischen Randlagen wie im Aarhuser Stadtteil Gellerup kommt es hingegen verstärkt zum Abriss und Neubau.
Die sanierten oder neuen Wohnungen sind häufig kleiner und deutlich teurer. So soll die soziokulturelle Durchmischung von Stadtteilen auch durch soziale Verdrängung erreicht werden: Ethnische Dänen aus der Mittelschicht sollen in die gentrifizierten Wohnungen einziehen, Angehörige unterer sozialer Schichten (vor allem Zuwanderer) sollen wegziehen. Die mit dem Umbau der Viertel beauftragten Wohnungsbaugesellschaften sind zwar verpflichtet, den bisherigen Mietern Ersatzwohnungen in anderen Vierteln zuzuweisen, die neuen Unterkünfte müssen aber nicht gleich erschwinglich sein, und die Bewohner haben bei der Auswahl kein Mitspracherecht.
Wer partout nicht umsiedeln will, kann zwangsgeräumt werden. Manche Dänen mit nichtwestlichem Migrationshintergrund ziehen vorsorglich nicht mehr in Gegenden, die bald von der 30-Prozent-Quote betroffen sein könnten, weil sie befürchten, dass sie über kurz oder lang umsiedeln müssten. Ein Teil der Dänen unterliegt demnach allein aufgrund ihrer Herkunft Einschränkungen bei der Wohnungssuche.
Senkung der Kriminalität
Zu den Bausteinen des „Ghetto-Pakets“ gehört auch, dass Gesetzesbrüche, die in einem Parallelgesellschaftsgebiet begangen werden, mit einem doppelt so hohen Strafmaß geahndet werden sollen wie im Rest des Landes. Das soll die Kriminalitätsrate verringern.
Inwiefern diese Rechnung aufgeht, ist noch offen. Zwar zeigt die Statistik einen Rückgang an Straftaten in diesen Vierteln, aber die wesentliche Frage ist: Werden Menschen seltener kriminell, wenn ihnen ein doppeltes Strafmaß droht, oder verlagern sie ihre kriminellen Aktivitäten lediglich in andere Stadtteile? Und vielleicht noch wichtiger: Höhlt Dänemark mit diesem Vorgehen einen tragenden Pfeiler des Rechtsstaats aus, der besagt, dass vor dem Gesetz alle gleich sind?
Integration per Sanktion
Ein dritter wichtiger Baustein des Gesetzespakets ist die Pflicht, dass Kinder in Parallelgesellschaftsgebieten ab dem ersten Geburtstag mindestens 25 Stunden pro Woche eine Kindertagesstätte besuchen müssen, um die dänische Sprache und Kultur zu lernen. Kommen die Eltern dieser Verpflichtung nicht nach, werden ihnen Transferleistungen gestrichen. Auf diese Art sollen die Bildungschancen von Kindern nichtdänischer Muttersprache und ihre kulturelle Integrationsfähigkeit verbessert werden.
Kindertagesstätten in den betreffenden Gebieten dürfen maximal 30 Prozent der dort wohnhaften Kinder aufnehmen. Das führt einerseits dazu, dass Tagesstätten freie Plätze haben, die sie nicht füllen können, andererseits müssen Kinder nicht selten Einrichtungen besuchen, die weit entfernt von ihrem Wohnort liegen. Integrationspolitisch ergibt die 30-Prozent-Deckelung Sinn; die Starrheit, mit der sie angewendet wird, ist jedoch zu hinterfragen. Die Maßnahme besteht noch nicht lange genug, um bewerten zu können, ob sie sich positiv auf den Bildungserwerb und die kulturelle Identifikation der Kinder ausgewirkt hat.
Das gilt auch für die übrigen Maßnahmen, die erst seit wenigen Jahren gelten und deren Umsetzung teilweise noch nicht abgeschlossen ist. Die jährlich veröffentlichte „Parallelgesellschaftsliste“ vermittelt den Eindruck einer erfolgreichen Politik: Standen 2018 noch 29 Viertel auf der Liste, waren es 2023 nur noch 12.
Ein genauerer Blick auf die Daten zeigt jedoch, dass der zahlenmäßige Erfolg nur bedingt aussagekräftig ist: So wurde im Dezember 2023 der besonders berüchtigte Stadtteil Mjølnerparken von der Liste gestrichen, weil die Einwohnerzahl auf 966 gesunken war. Arbeitslosenquote, Bildungsstand und Einkommen haben sich jedoch nicht wirklich verbessert, auch der Anteil der Bewohner nichtwestlicher Herkunft lag weiterhin bei fast 87 Prozent. Zudem ist fraglich, ob die Umsiedlungspolitik zur Lösung von sozialen Problemen überhaupt geeignet ist oder ob sich die Probleme nur in andere Stadtteile verschieben. Ein neuer Wohnort und sozial besser durchmischte Nachbarschaften allein bringen niemanden in Arbeit, dessen Zugang zum Arbeitsmarkt aufgrund fehlender Qualifikation schwierig ist.
Grundsatz der Gleichbehandlung
Entscheidend ist jedoch die Frage: Heiligt das legitime Ziel der besseren sozialen Durchmischung von Wohngebieten das rechtsstaatlich fragwürdige Mittel der Ungleichbehandlung von Menschen aufgrund ihrer Herkunft? Genau darum wird es am 30. September vor dem EuGH gehen, wenn die Klage wegen Verletzung der „EU-Richtlinie zur Anwendung des Gleichbehandlungsgrundsatzes ohne Unterschied der Rasse oder der ethnischen Herkunft“ behandelt wird. Dass die Kläger recht bekommen, gilt als wahrscheinlich, da Dänemark Freiheitseinschränkungen von einem bloßen Abstammungsmerkmal abhängig macht.
Wer also mit der Übernahme der dänischen Anti-Parallelgesellschafts-Strategie liebäugelt, wird sich der Herausforderung stellen müssen, sie so zu gestalten, dass sie eindeutig rechtsstaatlichen Ansprüchen genügt.
Conclusio
Brennpunktviertel. Kein anderes Einwanderungsland hat mit Dänemark vergleichbare Maßnahmen entwickelt, um Stadtteile mit einem hohen Anteil an Migranten aus außereuropäischen Ländern soziokulturell besser zu durchmischen.
Zwangsumsiedlung. Personen nichtwestlicher Herkunft sind in der Wahl ihres Wohnorts eingeschränkt, unabhängig von Einkommen oder Staatsbürgerschaft. Ob die Integrationsziele damit erreicht werden können, ist noch offen.
Rechtsstaatlichkeit.Wer die dänische Strategie zur Vermeidung von Parallelgesellschaften nachmachen möchte, wird die gesetzlichen Bestimmungen so gestalten müssen, dass sie eindeutig rechtsstaatlichen Ansprüchen genügen.