Macherin im Kloster

Hildegard von Bingen legt sich mit Autoritäten an, gewinnt den Papst für sich und nutzt die so gewonnenen Freiheiten konsequent. Heute erlebt ihr Name sein x-tes Revival in der Wellness- und Gesundheitsindustrie.

Porträt von Hildegard von Bingen.
Als Benediktiner-Äbtissin schuf Hildegard von Bingen einen sicheren Ort für Frauen – und eine Weltmarke. Stich aus dem Jahre 1701. © Getty Images

Fast jeder kennt Hildegard von Bingen als Universalgelehrte, erste Mystikerin Deutschlands, Nonne und Äbtissin, zu Lebzeiten als Heilige verehrt und dann auch noch als Europas „erste schriftstellernde Ärztin“.

Doch wer kann schon von sich behaupten, eine brand in die Welt gesetzt zu haben, die über 900 Jahre Bestand hat – noch dazu mit Produkten, die sich Ernährungs- oder Wellnessberater der Gegenwart nicht besser ausdenken könnten? Hildegards ganzheitlich ausgerichtete Pflanzenheilkunde erfreut sich heute wachsender Beliebtheit. Die Bandbreite reicht vom einfachen Erkältungsmittel bis zur Psychotherapie.

Pflanzen wie Dinkel, Fenchel oder Galgant – in welchem ernährungsbewussten Haushalt, auf welcher Instagram-Wellness-Seite dürfen sie fehlen? – wurden schon von der mittelalterlichen Nonne gepriesen. Heute gibt es außerdem Hildegard-Kuren, Hildegards Wechselkräuter und natürlich Hildegard-Tropfen, einen „milden Kräutergeist mit 5 Hildegard-Heilpflanzen für die Seele“.

Ein wegweisendes Erlebnis

Zugegeben, der Name „Hildegard-Medizin“ stammt aus den 1970er-Jahren. Aber die Produkte hat sie schon in ihrem zwischen 1150 und 1160 verfassten Weltbestseller Causa et Curae beschrieben. Und als Unternehmerin darf sie gelten, weil sie ihre Heilmittel systematisch erzeugt und vertrieben hat.

Ihren Anfang nimmt diese Erfolgsgeschichte im Jahre 1106. Als zehntes Kind ihrer Eltern wird die achtjährige Hildegard in kirchliche Obhut übergeben. Schon damals hört sie Stimmen, empfängt, nach eigener Wahrnehmung, göttliche Eingebungen. Schließlich wird sie Nonne. Als 30 Jahre später ihre Mentorin und Lehrerin Jutta von Sponheim stirbt, entdecken Hildegard und weitere Nonnen, dass Jutta jahrelang einen Bußgürtel am Oberschenkel getragen hat und davon anhaltende starke Schmerzen gehabt haben muss. Ein wegweisendes Erlebnis für Hildegard, die fortan diese Art der Askese ablehnen wird.

Kurz darauf tritt sie Juttas Nachfolge als Magistra der Frauenklause an. Doch sie gerät zunehmend in Konflikte mit Abt Kuno, dem das Benediktinerkloster und die Frauenklause unterstehen. Hildegard weiß, dass der einzige Weg zur Lösung dieser Probleme die Gründung eines eigenen Klosters ist.

Visionärin, im Wortsinn

Drei Jahre nach Juttas Tod werden Hildegards Visionen stärker und zur Grundlage ihres Denkens, ihrer Morallehre, ihrer Religiosität. Und sie helfen ihr, Dinge zu erreichen, die einer Frau ihrer Zeit unmöglich waren, nämlich: zu predigen und gehört zu werden. Das hat sie auch ihren Kritikern zu verdanken, die sie als Hexe verunglimpfen. Also befasst eine Kommission im Jahre 1147 Papst Eugen III. mit der Sache. Doch der befindet, dass Hildegards Visionen echte Eingebungen Gottes seien – und dass sie diese Eingebungen verschriftlichen darf. Noch dazu bekommt sie als erste Frau die Erlaubnis, zu predigen.

Nun unternimmt sie sogenannte Predigtreisen nach Bamberg, Mainz, Würzburg, Metz, Bonn und Köln. Sogar über die Grenzen des Heiligen Römischen Reichs hinaus wird sie bekannt als Theologin, Ärztin und spirituelle Beraterin von Königen und Fürsten. Sie ist jetzt eine mächtige Frau über 50. Und nun, endlich, ist die Zeit reif für ihr eigenes Kloster.

Fröhliche Nonnenschar

Dieses entsteht in den 1150er-Jahren in Bingen, an der Mündung des Flusses Nahe in den Rhein. Bäume werden gerodet, Straßen angelegt, Bautrupps hämmern und schreinern. Schneller als gedacht entsteht hier Hildegards eigener Konvent. Niemand wagt es jetzt noch, ihren Befehlen nicht zu gehorchen – weder die Bauarbeiter noch ihre Nonnen, noch die Grundherren aus der Nachbarschaft, die sie sogar als Spender für das Kloster gewinnt. Und kaum ist es fertig, kann sie sich des Zulaufs nicht erwehren, obgleich sie nur adlige Mädchen aufnimmt. Gott, so sagt Hildegard dazu lapidar, würde auch unterscheiden und dennoch alle lieben. Und dann gründet sie einfach noch ein Tochterkloster, Eibingen, in dem auch bürgerliche Mädchen Aufnahme finden.

Dass ihren Klöstern solcher Zulauf beschieden ist, hat ganz wesentlich mit ihrer Art der Führung und ihren „Unternehmenswerten“ zu tun. Sie sind freundlicher und sinnlicher, menschlicher und moderner als alles, was es in dieser Zeit auf dem Gebiet gibt. In Hildegards Klöstern darf Freude herrschen, und die Sinne dürfen auf ihre Rechnung kommen. Etwa wenn ihre Nonnen zu Festen in leuchtend weißen Kleidern mit Kronen auf dem Haupt und goldenen Ringen an den Fingern Gott loben und preisen. Das Schamgebot des heiligen Paulus gelte, so entgegnet sie Kritikern ihrer fröhlichen Nonnenschar, nur für Ehefrauen, nicht für Jungfrauen. Und so können wir annehmen, dass ihre Klöster auch zu frühen Horten der weiblichen Emanzipation wurden.

Erfolgreich seit 900 Jahren

Bis ins hohe Alter schützt Hildegard ihre Gemeinschaft, schreibt und komponiert unter dem Namen Symphonie der Harmonie der himmlischen Erscheinungen 77 liturgische Gesänge, die die Gregorianik revolutionieren und bis heute in den Charts von YouTube zu finden sind. Außerdem liest sie den Herrschenden, darunter Kaiser Friedrich Barbarossa, die Leviten.

In ihrem Kloster produzieren Nonnen Heilkräuter, pflegen Kranke und entbinden Kinder. Als Hildegard mit 81 Jahren stirbt, hat sie längst eine Weltmarke und ein dazugehöriges Unternehmen geschaffen. Zwar gehen ihre beiden Klöster in den Wirren des Dreißigjährigen Krieges und der Säkularisierung unter, doch heute stellen Nonnen des neu gegründeten Hildegard-Klosters wieder Salben und Tinkturen in ihrem Namen her – und genießen damit UNESCO-Welterbe-Status. Wenn das kein unternehmerischer Erfolg ist!

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