Über die Langeweile
Sie verschont uns von allem. Und genau das ist ihr Fluch. Sie zeigt uns kein Ende auf. Sie flüstert uns ein: Alles ist ewig und ewig gleich. Die Langeweile schreit nach Erlösung und wehrt sich zugleich dagegen.
Ich bin ein Mann ewiger Sorge. Wenn das Telefon klingelt, denke ich: Bitte, nicht! Lieber erfahre ich nichts Gutes als etwas Schlechtes. Ich habe gelernt, in allem Guten sei auch etwas Schlechtes enthalten, im Schlechten aber nichts Gutes. Und dennoch bin ich Optimist. Mein Optimismus ist von der Art, die sagt: Du wirst es überstehen. Am Ende meint Leben doch nur das, was du überstanden hast. Optimisten nennen das Abenteuer.
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Wir sollten ernsthaft über das Abenteuer nachdenken. Wir sehnen uns nach dem Abenteuer, aber wenn wir in ihm verstrickt sind, leiden wir meistens, und wenn wir aus ihm entlassen werden, sind wir nicht selten verwundet. Aber wenn die Wunden verheilt sind, weisen wir stolz die Narben vor.
Dem Abenteuer entgegen steht die Langeweile, diese hinterfotzige Dämonin, die sich hinter ihrem harmlosen Namen versteckt. Ich, sagt sie, bin vielleicht lästig, aber doch nicht gefährlich. Komm in meine Arme, sagt sie, fürchte dich nicht vor mir, gib dich mir hin, ich bin ein Synonym für Ruhe, nichts weiter!
Blaise Pascal, Philosoph und Mathematiker im 17. Jahrhundert, ein gottesfürchtiger Mann, hat diese Ausgeburt der Hölle durchschaut. „Nichts“, so schreibt er, „nichts ist dem Menschen unerträglicher als völlige Untätigkeit, also ohne Leidenschaften, ohne Geschäfte, ohne Zerstreuungen, ohne Aufgaben zu sein. Dann spürt er seine Nichtigkeit, seine Verlassenheit, sein Ungenügen, seine Abhängigkeit, seine Ohnmacht, seine Leere. Also gleich wird dem Grunde seiner Seele die Langeweile entsteigen und die Düsternis, die Trauer, der Kummer, der Verdruss, die Verzweiflung.“
Das Böse ist, wenn einer mit was auch immer nicht aufhören kann.
„Abhängigkeit“ – auf dieses Wort soll besonders achtgegeben werden! Langeweile führt zu Abhängigkeit, Langeweile macht süchtig. Was ist das Böse? Das Böse ist, wenn einer mit was auch immer nicht aufhören kann. Dann kann ihn nichts mehr begeistern. Wenn ich nachts in den Himmel schaue, hinein in unsre Milchstraße und darüber hinaus bis zu dem verschwommenen Pünktchen des Andromedanebels, und mir nichts einfällt, als mit der Schulter zu zucken und zu denken: Na und? – dann, ja dann bin ich verloren.
Sinnstiftende Abenteuer
Die Sorge gilt beiden, der Langeweile und dem Abenteuer. Im Abenteuer kann ich untergehen, kann ich umkommen, kann ich verloren gehen. Das Abenteuer führt uns die Gefährlichkeit der Welt vor. Es kann gut ausgehen. Dann hat unser Leben einen Sinn gehabt – nicht unbedingt gleich das ganze Leben von A bis Z. Aber wir dürfen prahlen: Eine gewisse Strecke hatte unser Leben einen Sinn. Geadelt wurde unser Leben dadurch, dass wir dem Tod ins Auge gesehen haben.
Reden wir nicht darum herum, machen wir uns nichts vor: Nur wenn wir dem Tod ins Auge sehen, dürfen wir von Abenteuer sprechen. Urlaub ist kein Abenteuer, auch wenn uns auf Prospekten ein Abenteuerurlaub versprochen wird. Bei einem echten Abenteuer steht es mindestens fünfzig zu fünfzig, ob wir davonkommen oder nicht.
Tom Sawyer und der Tod
In dem Roman Tom Sawyers Abenteuer von Mark Twain versteckt sich der Titelheld mit seinen Freunden auf der Jackson-Insel im Mississippi und spielt tot. Sein Abenteuer besteht in der Auferstehung nach einigen Tagen. Im Roman Huckleberry Finns Abenteuer macht der kleine Held Ernst: Er inszeniert den Tod, aber nicht, um bald aufzuerstehen, sondern um abzuschließen mit seinem bisherigen Leben. Er taucht ein ins Abenteuer, bedingungslos.
Das Glück ist ein geiziges Kerlchen, mehr als Augenblicke gönnt es uns nicht.
Wir sorgen uns um Huck. Über die Lektüre des Buches hinaus sorgen wir uns. Was wird aus ihm? Um seinen Freund Tom sorgen wir uns nicht. Aus ihm kann in dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten alles werden – ein Millionär, ein Präsident, ein Gangster oder ein Prediger. Huck wünschen wir ein langes und glückliches Leben. Ein langes, fürchten wir, wird sich bei ihm nicht ausgehen – ein glückliches schon. Das Glück ist ein geiziges Kerlchen, mehr als Augenblicke gönnt es uns nicht. Und solche Augenblicke lässt Mark Twain seinen Helden erleben: Als Huckleberry oben auf dem Berg sitzt und ein Gewitter aufzieht – da ist er frei und glücklich.
Vertreibt sie aus der Hölle!
Die Langeweile konfrontiert uns nicht mit dem Tod. Sie verschont uns. Sie verschont uns von allem. Und genau das ist ihr Fluch. Sie zeigt uns kein Ende auf. Sie flüstert uns ein: Alles ist ewig und ewig gleich. Wenn aber alles ewig und alles gleich ist, dann spielt es keine Rolle, ob du geradeaus gehst oder im Kreis. Dann tust du immer das Gleiche und kannst nicht aufhören damit.
Nicht die Abwechslung macht süchtig, nicht das Abenteuer, die Langeweile ist es. Die Langeweile schreit nach Erlösung und wehrt sich zugleich dagegen. Robert Menasse nannte einen seiner größten Romane Die Vertreibung aus der Hölle. Ja, aus der Hölle der Langeweile muss man vertrieben werden. Wie man aus der Sucht vertrieben werden muss.
In seinem Großessay Betrachtungen eines – Unpolitischen schreibt Thomas Mann über den Ausbruch des Erstes Weltkriegs: Endlich, endlich die Erlösung! – Krieg als Erlösung? Erlösung wovon? Von Verdruss, Überdruss, Langeweile. Europa, ein Kontinent der existenziellen Langeweile. Wehe, wehe!