Adipositas: Ursachen und neue Hoffnung

In Österreich ist jeder zweite übergewichtig. Adipositas gehört zu den größten globalen Gesundheitsrisiken. Betroffene werden immer jünger. Sind neue Medikamente die Lösung?

Eine Frau geht in England an einem Werbespot vor einem Fastfood-Laden vorbei. England hat eine der höchsten Adipositas-Raten in Europa, die den staatlichen Gesundheitsdienst NHS jedes Jahr 5 Milliarden BIP kostet. Derzeit gelten über 60 Prozent der Erwachsenen und ein Drittel der 10- und 11-Jährigen als übergewichtig oder fettleibig.
Ab 2024 soll in Großbritannien ein weitreichendes Verbot von Fastfood-Werbung in Kraft treten. Im Internet könnte dann Werbung für ungesunde Lebensmittel komplett untersagt und im TV nur noch nachts ausgestrahlt werden. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Starker Anstieg. Seit den 1970ern hat sich der Anteil der Adipösen weltweit verdreifacht.
  • Immer jünger. Insbesondere junge Menschen sind vielfach zu schwer.
  • Schnelles Essen. Ein entscheidender Grund für den Anstieg könnte der Konsum von ultra-verarbeiteten Lebensmitteln sein.
  • Neue Hoffnung. Linderung versprechen sich Patienten wie Ärzte durch neue Medikamente.

Im Jahr 1982 stimmten zehn Aborigines einem Experiment zu: Wie würde sich ihre Gesundheit verändern, wenn sie dem westlichen Lebensstil abschwörten und für sieben Wochen wieder als Jäger und Sammler lebten? Jahrelang wohnten die Versuchsteilnehmer schon in einer Siedlung der nordwestaustralischen Stadt Derby und hatten ihren traditionellen Lebensstil aufgegeben.

In dieser Zeit wurden sie alle vom tödlichen Quartett befallen. So nennt man die vier Faktoren, die das metabolische Syndrom ausmachen, das als Ursache vieler zivilisatorischer Erkrankungen gilt: Fettleibigkeit, hoher Blutdruck, Stoffwechselstörung und Insulinresistenz. Alle zehn litten an Typ-2-Diabetes.

Krokodil statt Fertigpizza

Für sieben Wochen kehrten sie also zurück in den Busch und hatten keinen Zugang zu Supermärkten oder industriell erzeugten Nahrungsmitteln; sie aßen Fische, Krokodile, Yamswurzeln, Honig und was auch immer sie sonst fanden oder erlegten. In diesen sieben Wochen verloren sie durchschnittlich acht Kilogramm, der Stoffwechsel normalisierte sich, die Blutzuckerwerte gingen zurück. Das Studienergebnis war ein klarer Hinweis, dass der westliche Lebensstil der Gesundheit nicht sehr zuträglich ist.

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Zahlen & Fakten

Von 1975 bis heute hat sich der Anteil der Übergewichtigen an der Gesamtbevölkerung weltweit verdreifacht. Rund zwei Milliarden Menschen über 18 Jahren sind zu schwer, 650 Millionen davon krankhaft übergewichtig – also adipös. Definiert wird das Ausmaß des Problems über den Body-Mass-Index (BMI): Menschen mit einem BMI von über 25 gelten als übergewichtig, wer die 30 überschreitet, als adipös. Zwar lässt sich einwenden, dass die Wahrheit ein bisschen vielschichtiger und der BMI nicht immer der beste Indikator ist: Muskulöse Menschen können auf einen Index-Wert von über 25 kommen, ohne zu viel Körperfett zu haben. Entscheidend ist vor allem die Relation von Fett und Muskeln. Aber das ändert nichts daran, dass immer mehr Menschen zu viel Gewicht auf die Waage bringen und damit ihre Gesundheit gefährden.

Untauglich wegen Übergewicht

Es gibt nur mehr wenige Staaten auf der Erde, in denen Untergewicht für mehr Todesfälle verantwortlich gemacht werden kann als Übergewicht. Global betrachtet ist es eine außerordentliche Leistung, dass die Zahl der Menschen, die Hunger leiden, so stark gesunken ist. Auf einer individuellen Ebene wurde das reichliche Nahrungsangebot jedoch für viele zum Problem; sie müssen ständig darum kämpfen, nicht zu viele Kalorien zu sich zu nehmen. Eine solche Situation hatte die Evolution eigentlich nicht vorgesehen.

Zuletzt wurde mehr als ein Viertel aller männlichen Rekruten aufgrund ihres Übergewichts als untauglich eingestuft.

Die Situation in Österreich ist leider nicht besser, im Gegenteil: Laut jüngsten Zahlen (aus dem Jahr 2019) sind mehr als die Hälfte der über Fünfzehnjährigen zu dick. 34,4 Prozent gelten als übergewichtig, 16,6 Prozent als adipös. Mehr als die Hälfte aller Adipösen (53,2 Prozent) gibt laut Daten des Instituts für Höhere Studien (IHS) an, aufgrund ihres Gewichts andauernde gesundheitliche Probleme zu haben. Fast die Hälfte (47,3 Prozent) kann wegen der gesundheitlichen Einschränkungen alltägliche Aktivitäten häufig nicht verrichten. Und das Problem beginnt bereits in jungen Jahren. Zuletzt wurde mehr als ein Viertel aller männlichen Rekruten aufgrund ihres Übergewichts als untauglich eingestuft.

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Zahlen & Fakten

Adipositas-Prävention: Bevor es zu spät ist

Gerade deshalb ist es unerlässlich, bei der Bekämpfung der Adipositas bereits in jungen Jahren anzusetzen. Danach könnte es schon zu spät sein, erklärt Kurt Widhalm, Leiter des Österreichischen Akademischen Instituts für Ernährungsmedizin:

„Wir müssen der Entwicklung von Übergewicht vorbeugen, also präventiv vorgehen; das günstigste Alter für Prävention ist der Beginn der Schulzeit mit sechs bis sieben Jahren. Denn es ist gut belegt, dass circa 80 Prozent der Jugendlichen mit Übergewicht oder Adipositas auch als Erwachsene übergewichtig oder adipös sein werden. Wenn wir präventive Maßnahmen nach der Pubertät beginnen, ist es meist zu spät.“

An drei Wiener Schulen läuft ein Präventionsprogramm, das Widhalms Institut leitet. Grundsätzlich seien die Schüler in vier Kategorien einzuteilen:

Normalgewichtige55-60 Prozent
Untergewichtigerund 2-3 Prozent
Übergewichtigerund 15–25 Prozent
Adipöserund 15–25 Prozent

Experte Widhalm meint zur Erkennung der Gewichtsprobleme:

„Solche Daten wären für präventive, aber auch therapeutische Maßnahmen extrem wichtig; sie sind aber leider von anderen Schulen nicht verfügbar. Es werden zwar alle Kinder in den Schulen gewogen und gemessen, aber diese Zahlen werden weder ausgewertet noch publiziert. Das ist eigentlich eine Schande. Um gezielte Maßnahmen zu setzen – es bestehen offenbar auch große Unterschiede zwischen den Schulen –, wären diese Daten unabdingbar.“

„Nimm erst mal ab und komm dann wieder “

Die Gründe für Übergewicht und Adipositas sind bei Kindern und Jugendlichen die gleichen wie bei Erwachsenen: zu viel Kalorienzufuhr und zu wenig Kalorienabbau. Die Kinder essen zu viel und zu ungesund, und sie bewegen sich zu wenig. Widhalm:

„Viele der übergewichtigen Jugendlichen haben bereits Knieprobleme oder Knorpelveränderungen, können teilweise nicht länger als zehn Minuten Sport machen. Manchmal werden sie vom Turnunterricht befreit, dann sitzen sie erst recht nur vor dem -Computer und bewegen sich nicht. Die Fettleber bei Jugendlichen ist oft unerkannt, aber ein Risikofaktor für später auftretende Erkrankungen. Vielfach vernachlässigt sind psychische Probleme: Diese Jugendlichen vereinsamen. Sie werden diskriminiert und ausgeschlossen, weil sie nicht in das gewohnte Körperbild passen. Ein jobsuchender Jugendlicher mit starkem Übergewicht hat mir erzählt, dass ihn sogar das AMS mit den Worten ‚Nimm erst mal ab, und komm dann wieder‘ nach Hause geschickt hat. Das ist natürlich Unsinn: Er schafft das allein nicht. “

Es darf auch mal Schokolade sein

Wer einmal Übergewicht hat, tut sich mit dem Abnehmen wahnsinnig schwer. 7.000 bis 8.000 Kalorien müssen eingespart werden, um ein einziges Kilogramm an Körperfett loszuwerden. Sport ist für Dicke viel anstrengender, und er kann auch schädlich sein, wenn er Knochen und Gelenke zu sehr beansprucht.

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Zahlen & Fakten

Der Preis einer Tafel Schokolade

Eine Illustration, die zeigt, wie lange man Tätigkeiten ausüben muss, um die Kalorien einer Tafel Schokolade zu verbrennen.
Rund 540 Kalorien hat eine Tafel Schokolade. So lange muss man diese Tätigkeiten ausüben, um diese Kalorien wieder zu verbrennen. © Julia Zott

Sogar das Gehirn verändert sich: Menschen mit Übergewicht haben mehr Hungerhormone und werden langsamer satt. Und es ist ja bekannt, dass radikale Fastenkuren meistens keinen langfristigen Effekt haben. Es geht um die vielbeschworene nachhaltige Verhaltensänderung, sagt Widhalm:

„Unser Institut führt jetzt eine Kampagne zum ‚gesunden Warenkorb‘ durch. Wir wollen davon wegkommen, dass Dinge wie Mehlspeisen grundsätzlich etwas Böses sind. Stattdessen zeigen wir, wie der Warenkorb für ein Wochenende oder ein paar Wochentage aussehen kann. Dabei ist der Fleischkonsum zu reduzieren, dafür soll es mehr Obst, Gemüse und kalorienarme Lebensmittel geben. Aber im Warenkorb dürfen trotzdem Schokolade, Eis und auch ein gezuckertes Getränk sein. Es geht darum, das langfristige Essverhalten zu ändern, und dafür brauchen wir wirksame Mechanismen. Übergewichtige wissen oft am besten Bescheid, wie eine gesunde Ernährung aussehen würde. Aber sie halten sich nicht daran.“

Alles zu verbieten, was gut schmeckt, wird nicht zum Ziel führen. Kinder und Jugendliche haben oft ein zusätzliches Problem: Sie sind davon abhängig, dass die Eltern ihr Verhalten ändern oder zumindest das Problem ernst nehmen:

„Studien zeigen, dass Jugendliche am Wochenende und in den Ferien besonders stark zunehmen. Vor allem gilt das für die Adipösen, weil bei ihnen daheim zu wenig auf eine gesunde und altersgerechte Ernährung geachtet wird. Während der Covid-19-Pandemie in den Jahren 2020 und 2021, als die Schulen lange geschlossen waren, nahmen die Kinder im Vergleich zu 2019 um 1,8 Kilogramm mehr zu. Dabei schieben die Eltern übergewichtiger Kinder die Schuld oft nur auf die Schule und die Ernährung dort.“

Die Adipositas beginnt im Supermarkt

Für viele Menschen beginnt Adipositas im Supermarkt. Dass die Aborigines im Busch abnahmen, ist kein Wunder: Es verbraucht wahnsinnig viele Kalorien, den gesamten Nahrungsbedarf selbst zu sammeln und zu jagen. Und wer nichts findet oder erbeutet, muss hungrig schlafen gehen. Wer dagegen auf seine Health-App blickt, um nachzuschauen, wie viele Kalorien auf dem Weg zum Supermarkt verbrannt werden, wird eher ernüchtert sein. Dabei kann eine Tiefkühlpizza um 2,99 Euro mit knapp 1.000 Kalorien bereits den halben Energiebedarf für einen Tag decken. Wir müssen uns mit einem Überangebot an stets verfügbaren Kalorien herumschlagen, und anstatt vor uns wegzulaufen, schreien alle Produkte: „Kauf mich!“,  „Keine Sorge, ich bin total gesund!“

Es gibt Tiefkühlpizza mit grünem A und Olivenöl mit rotem E. Laut Nutri-Score sind Cornflakes gesund und Nüsse ungesund. Wie kann das sein?

Friedrich Hoppichler, ärztlicher Leiter Krankenhaus Barmherzige Brüder Salzburg

Natürlich stimmt Letzteres nicht. Um den Konsumenten bei der Suche nach gesundem Essen mehr Orientierung zu geben, wurden Lebensmittelkennzeichnungen erfunden. Während die EU noch darüber diskutiert, welche Kennzeichnung EU-einheitlich eingeführt werden soll, setzt sich eine davon, der Nutri-Score, in den Supermarktregalen bereits durch. Ein grünes A steht für ein besonders gesundes, ein rotes E für ein besonders ungesundes Lebensmittel. Aber wie definiert der Nutri-Score gesund und ungesund? Friedrich Hoppichler, Ärztlicher Leiter des Krankenhauses Barmherzige Brüder in Salzburg und Initiator von SIPCAN (Special Institute for Preventive Cardiology and Nutrition), erklärt die Idee dahinter:

„Auf der Grundlage einer speziellen Berechnungsmethode werden Punkte für bestimmte Nährstoffe und Zutaten vergeben. Energie, Zucker, gesättigte Fettsäuren und Natrium erhöhen die Punktezahl, Proteine, Ballaststoffe und ein hoher Anteil von Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten verringern diese Zahl. Je niedriger die Gesamtpunktzahl eines Produkts am Ende ist, desto besser ist das Nährwertprofil und damit das Ergebnis der Nutri-Score-Bewertung.“

Die Idee ist gut, doch die Umsetzung ist es nicht

Das mag eine gute Idee sein, doch viele kleine und große Details lassen den Nutri-Score ein wenig absurd erscheinen: Es gibt Tiefkühlpizza mit grünem A und Olivenöl mit rotem E. Laut Nutri-Score sind Cornflakes gesund und Nüsse ungesund. Wie kann das sein? Leider sei das System nicht so klar und einfach, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag, räumt Hoppichler ein:

„Beim Nutri-Score werden bestimmte Nährwertfaktoren überbewertet, während andere unbeachtet bleiben. So werden beim aktuellen Berechnungsmodell Süßstoffe nicht berücksichtigt, obwohl immer mehr Studienergebnisse auf Gesundheitsrisiken hindeuten. Auch andere unvorteilhafte Zusatzstoffe wie zum Beispiel Farbstoffe und Konservierungsmittel werden nicht bewertet. Unberücksichtigt bleibt zudem die Portionsgröße, weil der Nutri-Score immer für 100 Gramm beziehungsweise 100 Milliliter berechnet wird. Allerdings wird zum Beispiel eine Tiefkühlpizza in deutlich größeren Mengen verzehrt als etwa Öl oder Ketchup. Zudem dient der Nutri-Score ausschließlich innerhalb einer Produktgruppe (zum Beispiel Joghurt) als Vergleichs- und Orientierungskriterium, ist jedoch nicht übergreifend anwendbar. Frühstückscerealien mit grünem Nutri-Score A sind ja nicht zwangsläufig gesünder als die mit einem roten E bewerteten Nüsse.“

NOVA statt Nutri

Brasilianische Wissenschaftler haben deshalb ein komplett anderes Klassifikationssystem für Lebensmittel vorgeschlagen: NOVA. Dabei geht es nur um die Frage, wie stark Lebensmittel verarbeitet wurden. Viele Experten sehen in den sogenannten ultra-verarbeiteten Lebensmitteln den wahren Grund hinter der Adipositas-Pandemie. Eduardo Nilson, der am Zentrum für epidemiologische Forschung zu Ernährung und Gesundheit an der brasilianischen Universität von São Paulo arbeitet, erklärt die Hintergründe.

„Ultra-verarbeitete Lebensmittel werden durch eine Reihe industrieller Techniken und Verfahren hergestellt. Die Verwendung von Zusatzstoffen, mit denen die sensorischen Eigenschaften der Produkte verändert werden sollen, sind ein gutes Indiz für die Ultra-Verarbeitung. Zu dieser Gruppe gehören viele verpackte Lebensmittel – von kohlensäurehaltigen Erfrischungsgetränken bis hin zu Snacks, Burgern, Pizzas, Schmelzkäse und Fertiggerichten.“

Einige Forscher sind der Meinung, dass ultra-verarbeitete Lebensmittel nicht als Lebensmittel, sondern als essbare Produkte gekennzeichnet werden sollten.

Eduardo Nilson, Universität Sao Paulo

Ultra-verarbeitete Lebensmittel sind in unserer Ernährung relativ neu. Sie entstanden erst im vergangenen Jahrhundert, werden aber immer zahlreicher. In Staaten wie den USA, Großbritannien und Kanada machen sie schon rund 80 Prozent der Ernährung eines durchschnittlichen Individuums aus. Viele Experten sind der Meinung, es sei die Verarbeitung per se, die solche Lebensmittel gefährlich macht. Eduardo Nilson sagt dazu:

„Die industrielle Verarbeitung zielte zunächst darauf ab, Lebensmittel besser zu konservieren. Doch im Laufe der Zeit verschwanden in vielen dieser Produkte die frischen Zutaten, und es wurden immer mehr Zusatzstoffe eingebracht – wie etwa modifizierte Stärke und Proteinkonzentrate. Diese Zusatzstoffe werden verwendet, um Geschmack, Farbe und Geruch zu verleihen, die Textur des Produkts zu verändern und viele andere Funktionen zu erfüllen. Einige Forscher sind der Meinung, dass ultra-verarbeitete Lebensmittel nicht als Lebensmittel, sondern als essbare Produkte gekennzeichnet werden sollten.“

Generell erhöhtes Todesrisiko

Viele Konsumenten schätzen diese essbaren Produkte sehr: Sie sind schnell zubereitet oder schon essfertig, und sie schmecken auch richtig gut, weil sie meist viel Zucker, Salz und Fett beinhalten – lauter Stoffe, die nicht unbedingt gesund sind. Auch die Lebensmittelindustrie profitiert, weil diese Waren lange haltbar sind und die Zutaten wenig kosten. Das Angebot verändert unser Essverhalten nachhaltig, glaubt Eduardo Nilson:

„Sie verändern den Zeitpunkt und die Häufigkeit des Verzehrs und werden in großen Portionen angeboten, sodass die Käufer tendenziell zu viel davon essen. Darüber hinaus zerstören sie die lokalen Esskulturen und beeinflussen die Art und Weise, wie Lebensmittel konsumiert werden, sodass auch das gemeinsame Essen seltener wird. Schließlich wirkt sich die Verdrängung traditioneller Lebensmittel auch auf die lokale Landwirtschaft aus, weil sie die Bauern davon abhält, Obst, Gemüse und Getreide anzubauen.“

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Zahlen & Fakten

Es gibt nicht nur starke Hinweise, dass ultra-verarbeitete Lebensmittel die Adipositas-Epidemie verursacht oder jedenfalls gefördert haben. Studien zeigten auch, dass der Konsum zu hohem Blutdruck, Herzinfarkten und Schlaganfällen führen kann.

„Ein regelmäßiger Verzehr von ultra-verarbeiteten Lebensmitteln war brasilianischen Studien zufolge mit einem um 25 Prozent erhöhten Todesrisiko generell und einem um 29 Prozent erhöhten Todesrisiko infolge Herz-Kreislauf-Erkrankungen verbunden. Eine andere Studie, die Daten aus zahlreichen Kohorten verwendet, zeigte, dass der Verzehr großer Mengen von ultra-verarbeiteten Lebensmitteln das Risiko für Typ-2-Diabetes um 31 Prozent erhöht. Auf der Grundlage dieser Ergebnisse wurde geschätzt, dass in Brasilien jährlich 57.000 vorzeitige Todesfälle auf ultra-verarbeitete Lebensmittel zurückzuführen sind – das sind 10,5 Prozent aller vorzeitigen Todesfälle. Obwohl in Brasilien nur 19 Prozent der gesamten Energiezufuhr aus ultra-verarbeiteten Lebensmitteln stammt. In den Vereinigten Staaten, Kanada und Großbritannien stammen fast 60 Prozent der Kalorien aus solchen Nahrungsquellen, sodass die ihnen zurechenbare Krankheitslast in diesen Ländern sicherlich noch größer ist.“

Willkommen in der food desert

Es ist kaum möglich, solche Produkte komplett aus dem Speiseplan zu streichen. In vielen Regionen, die von Wissenschaftlern food deserts genannt werden, sind kaum Alternativen verfügbar. Außerdem geht von diesen Nahrungsmitteln ein erheblicher Suchtfaktor aus. Versuche an Ratten haben gezeigt, dass die Tiere sogar Elektroschocks in Kauf nehmen, um an Zucker zu kommen. Eduardo Nilson fordert deshalb Maßnahmen von Politik und Lebensmittelindustrie.

„Die Bewältigung der aktuellen Gesundheitskrise wird nur gelingen, wenn man sich mit dem Konsum von ultra-verarbeiteten Lebensmitteln auseinandersetzt. Die Regierungen müssen nicht nur die Bevölkerung aufklären, sondern auch für ein Angebot sorgen, das gesunde Ernährung ermöglicht. Die Lebensmittelindustrie sollte ihre Rezepturen ändern, um die Verwendung von Zusatzstoffen zu reduzieren und mehr frische und möglichst wenig verarbeitete Zutaten zu verwenden.“

Der neue TikTok-Hype

Aber vielleicht gibt es auch noch eine andere Lösung für die Probleme der Übergewichtigen. Neue Medikamente sollen das Abnehmen ganz einfach machen. Funktioniert das? Martin Clodi ist Vorstand der Abteilung für Innere Medizin im Krankenhaus der Barmherzigen Brüder in Linz. Natürlich sei der Hype um die neuen Wundermedikamente auch in seiner Praxis bereits angekommen, erzählt er:

„Vor kurzem kam ein 28-jähriger Mann zu mir in die Ordination und erzählte mir von einem neuen Medikament, das gegen Übergewicht Wunder wirken soll. Er hatte auf TikTok davon gehört, auch Prominente wie Elon Musk sollen es nehmen. Er selbst hatte schon oft versucht, mit Diäten sein Gewicht zu reduzieren, und dabei auch abgenommen – aber danach jedes Mal wieder zugenommen. Ein bekanntes Phänomen. Nun wollte er einiges über dieses neue Medikament wissen; und schlussendlich wollte er es auch selbst nehmen.“

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Zahlen & Fakten

Was hat es mit diesen neuen Medikamenten auf sich, Herr Clodi, und wie wirken sie?

„Es hat sich gezeigt, dass Medikamente, die ursprünglich für die Behandlung von Diabetes eingesetzt wurden, einen starken gewichtsregulierenden Effekt zeigten. Diese Arzneien gehören zur Gruppe der GLP1-Rezeptor-Agonisten. GLP1 steht für ‚Glucagon-like Peptide-1‘, das ist ein Hormon, das normalerweise nach der Nahrungsaufnahme aus dem Darm freigesetzt wird. Es führt in der Bauchspeicheldrüse zur Freisetzung von Insulin, zur Unterdrückung von Glucagon (das den Blutzucker steigen lässt), es senkt das Herzinfarktrisiko und verbessert die Herzfunktion. In der Leber führt es zur Reduktion der Glukoseproduktion, im Magen-Darm-Trakt zur Verzögerung der Magen- und Darmentleerung und speziell im Gehirn zu einer Reduktion der Energieaufnahme, das heißt zu einer Appetitregulation.“

Beeindruckende Ergebnisse

Diese Medikamente (das bekannteste heißt Semaglutid und wird unter dem Namen Ozempic vertrieben) sind auch in Österreich auf dem Markt, allerdings nur für die Behandlung von Diabetes zugelassen. Angefordert und verschrieben werden sie trotzdem auch zur Gewichtsreduktion. Anfang September forderte die Österreichische Gesellschaft für Diabetes sogar einen Verschreibungsstopp dieser Mittel zur Gewichtsabnahme, nachdem es zu einem Versorgungsengpass bei Diabetikern gekommen war. Martin Clodi wundert es nicht, dass sich die Medikamente solcher Beliebtheit erfreuen:

„Die Daten für Semaglutid zeigen eine mittlere Verringerung des Körpergewichts um fast 15 Prozent nach einer Behandlungsdauer von eineinhalb Jahren. Das ist sehr beeindruckend im Vergleich zu anderen Mitteln, mit denen wir nur eine Gewichtsreduktion zwischen fünf und maximal zehn Prozent erreichen. Ein zweites Medikament, Tirzepatid, wirkt offenbar noch besser.“

Eine neue Hoffnung gegen Adipositas

In den Fokus der medialen Aufmerksamkeit rückten mittlerweile aber auch zahlreiche Nebenwirkungen, die – in extrem seltenen Fällen – bis hin zu Schilddrüsenkrebs reichen können. Auch Martin Clodi warnt, dass langfristige Studien noch fehlen. Trotzdem hat er die Hoffnung, dass diese Medikamente eine Wende im Kampf gegen Adipositas einläuten könnten:

„Diese neuen Medikamente sind eine tolle Bereicherung der bislang doch sehr geringen pharmazeutischen Möglichkeiten. Es handelt sich allerdings trotzdem um Arzneimittel, die streng nach Indikation durch Mediziner verordnet werden sollten – und nicht durch TikTok-Videos.“

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Conclusio

Wir werden immer schwerer, weltweit und quer durch alle Bevölkerungsschichten. Seit 1975 hat sich der Anteil der krankhaft fettleibigen Menschen auf der Welt verdreifacht. Schon viele Kinder und Jugendliche sind übergewichtig – und bleiben es meist auch als Erwachsene. Die Ursachen sind vielfältig, aber grundsätzlich auf zwei Faktoren herunterzubrechen: Wir bewegen uns zu wenig, wir essen zu viel und vermutlich auch das Falsche. Viel deutet darauf hin, dass ultra-verarbeitete Lebensmittel einen großen Anteil an der steigenden Zahl der Übergewichtigen haben. Hoffnung verbreiten jetzt einige neue Medikamente, die eigentlich gegen Diabetes entwickelt wurden, aber auch das Gewicht reduzieren. Der Hype um diese Arzneien ist gewaltig. Allerdings: Langzeitstudien zu Nebenwirkungen gibt es noch nicht.

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