Zwischen den Fronten im Gender-Krieg
Kathleen Stock, ehemals Professorin an der Universität Sussex, wurde wegen ihrer kritischen Haltung zur Gender-Identitätspolitik Ziel massiver Proteste und musste 2021 ihre Stelle aufgeben. Zu Unrecht. Was der Fall über den Trans-Diskurs aussagt.

Auf den Punkt gebracht
- Hohe Strafe. Die Universität Sussex wurde von der britischen Hochschulaufsicht OfS zu einer Strafe von 585.000 Pfund verurteilt, da sie die Meinungsfreiheit nicht geschützt hat.
- Chill Baby, chill. Das interne Gleichstellungskonzept der Universität, das eine positive Darstellung von Transpersonen verlangte, führte laut OfS zu einem „chilling effect“ – einer Atmosphäre, die offene Debatten verhinderte.
- Kein Einzelfall. Auch im deutschsprachigen Raum mehren sich ähnliche Entwicklungen, in denen gut gemeinte Gleichstellungsvorgaben zunehmend mit der Wissenschaftsfreiheit kollidieren.
Badass. So lautet eine der häufigsten Zuschreibungen für die 52-jährige Philosophin Kathleen Stock in der britischen Öffentlichkeit seit jenem mittlerweile ikonographischen Foto, das sie im Mai 2023 auf dem Weg zu einer Debatte an der Oxford Union zeigt, dem traditionsreichen und international bekannten Debattierclub der gleichnamigen Universität. Schnörkellos, in Jeans, Adidas-Kappe und Sonnenbrille, lakonisch-selbstbewusst, flankiert von Sicherheitskräften. Entschlossenheit, Gelassenheit, Coolness. Selten verkörperte eine Akademikerin unter Druck all dies so überzeugend.
Ganz so gelassen war die Lage allerdings nicht. Die Tage zuvor waren geprägt von Protesten, Cancelling-Forderungen und Debatten über Meinungsfreiheit. Sogar der damalige Tory-Premierminister Rishi Sunak sah sich gezwungen, Stellung zu beziehen: Natürlich, so Sunak, müsse Kathleen Stock, die schlagfertige, nüchterne und zugleich moderate ehemalige Professorin der Universität Sussex, ihre Positionen zur menschlichen Zweigeschlechtlichkeit und zu den gesellschaftlichen Folgen der Gender-Identitätspolitik offen vertreten dürfen. Das wäre auch den Studierenden an einer der Eliteuniversitäten des Landes zumutbar.
Scharfe Geschütze in den Gender Wars
Eine absurde Zuspitzung, wie sie Großbritannien in den „gender wars“ seit Jahren kennt: Eine lesbische Intellektuelle, die über Realität, Geschlecht und Identität spricht, wird zur Hassfigur. Tatsächlich galt das, worüber Stock spricht, bis vor wenigen Jahren noch quer durch Politik, Medien, Universitäten und Zivilgesellschaft als common sense. Dass nämlich das biologische Geschlecht real und bedeutsam ist und nicht einfach durch eine subjektive Geschlechtswahrnehmung – der „Gender-Identität“ – ersetzt werden kann.
In der Zwischenzeit scheint dieser Realitätsbezug an vielen Stellen verloren gegangen zu sein.
Zahlen & Fakten
Die 6 Dimensionen von Geschlecht
- Chromosomales Geschlecht: Dieses wird durch die Geschlechtschromosomen festgelegt, etwa XX, XY oder XXY.
- Gonadales Geschlecht: Es wird durch die Keimdrüsen bestimmt, also durch Eierstöcke oder Hoden.
- Genitales Geschlecht: Bestimmt durch die primären Genitalien.
- Juristisches Geschlecht: Dies wird kurz nach der Geburt durch die Geburtshelfer zugewiesen und bezeichnet das staatlich anerkannte Geschlecht.
- Soziales Geschlecht: Geprägt durch soziale Anerkennung und das Geschlecht, das durch das soziale Umfeld zugewiesen wird.
- Identitätsgeschlecht: Definiert durch die eigene Geschlechtsidentität, also das Geschlecht, zu dem sich eine Person zugehörig fühlt.
Quelle: wien.gv.at/menschen/queer/transgender/geschlechtsidentitaet.html
Kathleen Stock lehrte 18 Jahre lang an der University of Sussex, bis ihre Kritik an der gesetzlichen Verankerung von Gender-Identität zum Auslöser für eine regelrechte Hexenjagd wurde. Studierende forderten ihre Entlassung, plakatierten „Stock Out!“-Parolen und machten sie zum Ziel persönlicher Angriffe. Kollegen distanzierten sich öffentlich, die Lehrergewerkschaft schlug sich auf die Seite der Aktivisten, die Polizei riet zu Sicherheitsmaßnahmen. 2021 verließ Stock die Universität.
Nun wurde Stocks ehemaliger Arbeitgeber, die Universität Sussex, zu einer exorbitant hohen Geldstrafe verurteilt – 585.000 Pfund, verhängt von der britischen Hochschulaufsichtsbehörde Office for Students (OfS). Der Grund: Die Universität habe ihre Grundpflichten verletzt, nämlich den Schutz vor Belästigung und die Gewährleistung von Meinungsfreiheit. Eine doppelte Bankrotterklärung im akademischen Selbstverständnis. Im Zentrum der Kritik steht ein internes Regelwerk, das sogenannte Trans and Non-Binary Equality Policy Statement der Universität. Eine Vorschrift, die Lehrende aufforderte, trans Personen „positiv darzustellen“ und „transphobe Propaganda“ nicht zu tolerieren – harmlos klingend, aber in der Praxis eine rote Linie.
Wer sich kritisch mit Fragen von Geschlecht und Identität auseinandersetzte, konnte unter den Generalverdacht der „Transphobie“ geraten. Für das OfS war dies der Kern des Problems: Die Universität habe mit der Policy und ihrer Anwendung einen „chilling effect“ geschaffen – eine Atmosphäre, in der sich weder Studierende noch Lehrende getrauten, kontroverse, aber legitime Positionen offen zu vertreten.
Kein Schutz vor Mobbing
Auch die interne Governance wurde von der Aufsichtsbehörde als unzureichend eingestuft. Die Leitung habe verabsäumt, Stock vor Mobbing zu schützen und die akademische Freiheit zu sichern – nicht nur für Debatten im Hörsaal, sondern für die Lehre selbst. Gerade im Fach Philosophie, wo es um das Austesten von Wirklichkeitsannahmen geht, ist die Freiheit, auch unbequeme Thesen zu vertreten, existenziell.
Die Reaktion der Universitätsleitung fiel bemerkenswert aus: Sasha Roseneil, Vice-Chancellor der Universität Sussex, bezeichnete die beanstandete Vorgabe als „kleines Policy-Dokument“, nicht weiter der Rede wert, wie sie überraschend andeutete. Zugleich kündigte sie rechtliche Schritte gegen die Strafe an und sprach von einem „gefährlichen Eingriff“ in die Autonomie der Hochschulen. Advance HE, jene hochschulnahe Beratungsorganisation für Gleichstellungsstandards, die britischen Universitäten jahrelang trans-inklusive Richtlinien empfahl, rät inzwischen zu deren Entfernung von den universitären Webseiten – eine bemerkenswerte Volte.
Brisant wird der Fall dort, wo sich die Debatte zuspitzt: Worin unterscheidet sich der Schutz marginalisierter Gruppen – wie bei Maßnahmen gegen Rassismus oder Antisemitismus – von Policies, die eine ausschließlich positive Darstellung bestimmter Identitätskategorien verpflichtend machen? Das OfS zieht hier eine scharfe Trennlinie: Während es legitim sei, vor Hetze und Diskriminierung zu schützen, sei es überschießend, wenn Lehrenden faktisch vorgeschrieben werde, wie sie Inhalte zu behandeln oder zu bewerten haben, gerade dort, wo gesellschaftspolitische Kontroversen bestehen.
Aktivismus-Foren glühen
Wer glaubt, es handle sich hier um eine bloß britische Eigentümlichkeit, irrt. Auch an deutschsprachigen Universitäten sind die Zutaten längst vorhanden: Leitfäden, Gleichstellungspläne und „Handreichungen“, die gut gemeint sind, aber weit über Antidiskriminierungsrecht und Wissenschaftsfreiheit hinausreichen. Dazu kommen Gremien und Arbeitsgruppen, die als Aktivismus-Foren fungieren, ohne klare Bindung an das Wissenschafts- und Hochschulrecht. Die Akademie der bildenden Künste Wien erklärt sich gar zur „nicht-binären Universität“ und gibt Lehrenden Broschüren an die Hand, die zwar als Empfehlung firmieren, aber de facto die Erwartung formulieren, bestimmte theoretische Vorannahmen affirmativ zu übernehmen. Ob damit das Recht auf weltanschauliche Neutralität gewahrt bleibt, wird bislang kaum offen gefragt.
Zahlen & Fakten
Verschiedene Geschlechtsidentitäten
Die Anzahl der Geschlechtsidentitäten ist nicht festgelegt und kann je nach Quelle stark variieren. Die in Medien häufig zitierte „über 50 Geschlechtsidentitäten“-Liste stammt aus einer Vielzahl von Quellen, darunter LGBTQIA+-Organisationen, Aktivistennetzwerke und soziale Netzwerke.
Eine Auswahl der gebräuchlichsten Begriffe:
- Agender: Personen, die sich keinem Geschlecht zugehörig fühlen.
- Bigender: Personen, die sich mit zwei Geschlechtern identifizieren.
- Cis: Personen, deren Geschlechtsidentität mit dem bei der Geburt zugewiesenen Geschlecht übereinstimmt.
- Demigender: Personen, die sich teilweise mit einem Geschlecht identifizieren und teilweise mit einem anderen.
- Genderfluid: Personen, deren Geschlechtsidentität zwischen verschiedenen Geschlechtern wechselt.
- Inter: Personen, deren biologische Merkmale weder eindeutig weiblich noch eindeutig männlich sind oder beide Merkmale gleichzeitig aufweisen.
- Neutrois: Personen, die eine neutrale Geschlechtsidentität haben.
- Nicht-binär: Personen, die die binäre Geschlechtereinteilung in Frau und Mann ablehnen und Geschlecht als ein breiteres Spektrum betrachten.
- Trans: Personen, die sich einem anderen Geschlecht zugehörig fühlen als dem, das ihnen bei der Geburt zugewiesen wurde.
Quellen: liebesleben.de/fuer-alle/geschlechtsidentitaet/geschlechtsidentitaet-und-geschlechtliche-vielfalt
stonewall.org.uk/resources/list-lgbtq-terms
Auch in Deutschland lassen sich vergleichbare Dynamiken beobachten: Im Sommer 2022 wurde die Berliner Biologin Marie-Luise Vollbrecht von der Humboldt-Universität kurzerhand ausgeladen. Ihr populärwissenschaftlicher Vortrag zur biologischen Zweigeschlechtlichkeit passe nicht zum Format der Langen Nacht der Wissenschaften, so die Begründung der Universität. Studierendengruppen orteten „transfeindliche Positionen“ und drohten mit Protesten. Die Absage wurde später zurückgenommen.
Der Fall zeigt exemplarisch, wie schnell Universitäten unter dem Druck von Aktivistengruppen die freie Lehre preisgeben, selbst dort, wo es um wissenschaftliche Selbstverständlichkeiten geht. Im Unterschied zu Großbritannien existiert in Österreich keine Aufsichtsbehörde, die im Zweifel die Freiheit der Lehre verteidigt. Was in Sussex sichtbar und nun erstmals sanktioniert wurde, passiert hierzulande meist geräuschlos.
Kathleen Stock selbst hat sich aus der Trans-Debatte mittlerweile weitgehend zurückgezogen. Derzeit arbeitet sie an einem Buch über die Gefahren assistierter Sterbehilfe – mitten hinein in eine der nächsten großen gesellschaftlichen Kontroversen im Vereinigten Königreich.
Conclusio
Brüchig. Der Fall Stock zeigt exemplarisch, wie fragile die Balance zwischen Minderheitenschutz und Meinungsfreiheit an Universitäten geworden ist – selbst grundlegende wissenschaftliche Positionen können zur Zielscheibe werden.
Unkritisch. Ideologisch aufgeladene Gleichstellungspolitiken drohen dort problematisch zu werden, wo sie nicht mehr zur offenen Debatte ermutigen, sondern zur affirmativen Übernahme bestimmter Weltbilder verpflichten.
Offen. Für die Zukunft braucht es klare Spielregeln, die Wissenschaftsfreiheit, Pluralität und Schutz vor Diskriminierung gleichermaßen sichern – ohne akademische Räume in Aktivismus-Zonen zu verwandeln.