Was ist bloß an den US-Eliteunis los?

Eine neue ideologische Strömung, die Identitätspolitik, hat sich an vielen Universitäten breitgemacht. Der Schutz von Minderheiten gilt den Anhängern mehr als die Meinungsfreiheit.

New York, 15. November 2023: Studierende bei einer Demonstration zur Unterstützung Palästinas und für freie Meinungsäußerung außerhalb des Campus der Columbia University. Das Bild illustriert einen Artikel zum Thema Meinungsfreiheit.
New York, 15. November 2023: Studierende nehmen an einer Demonstration zur Unterstützung Palästinas und für freie Meinungsäußerung außerhalb des Campus der Columbia University teil. © Getty Images

Die Meinungsfreiheit wird in den USA traditionell hochgehalten. Sie ist im ersten Verfassungszusatz festgehalten und geht weiter als in den meisten europäischen Staaten. In den USA dürfen etwa Hakenkreuzfahnen geschwenkt werden, auch rassistische Parolen stehen nicht unter Strafe. Das sei wichtig für die Stärke der Demokratie, erklärt Erwin Chemerinsky, Dekan der UC Berkeley School of Law, dem Pragmaticus: „Sobald die Regierung wählen kann, welche Ideen erlaubt sind, gibt es für die Zensur kein Halten mehr. Auch Hassreden drücken eine Idee aus, selbst wenn wir uns wünschen, dass diese Idee nicht existiert.“

Wo Meinungsfreiheit nicht erwünscht ist

Und dennoch: Gerade im Land der unbeschränkten Meinungsfreiheit haben viele Menschen Angst davor, ihre Meinung zu sagen – vor allem an Universitäten. Dahinter steht eine Ideologie, der sich viele Progressive in den USA in den vergangenen Jahren verschrieben haben: die Identitätspolitik. Sie setzt sich zum Ziel, die Bedürfnisse verschiedener – vor allem ethnischer und sexueller – Minderheiten in den Vordergrund zu rücken. Und sie stellt dieses Ziel über die Meinungsfreiheit. Die Idee dahinter ist, positiv formuliert, keine Meinungen zuzulassen, die andere Menschen – eben vor allem Angehörige einer Minderheit – verletzen könnten. 

2020 wurde ein Professor suspendiert, weil er ein chinesisches Wort verwendet hatte, das phonetisch dem N-Wort ähnelt.

Kritiker dieser Entwicklung finden, dass aus dem Wettstreit der besten Argumente eine Meinungsdiktatur der politisch Korrekten geworden sei. „Bei der Planung von Untersuchungen und bei der Analyse der Resultate wird sofort gefragt, ob diese aus linksprogressiver, identitätspolitischer Sicht wünschenswert seien – und entsprechend gefiltert“, erzählte der Schweizer Soziologe Andreas Wimmer, der an der Columbia University in New York lehrt, kürzlich der NZZ.

Suspendiert für Phonetik

Unter dem Schlagwort Cancel Culture wird versucht, jene Lehrenden zu verdrängen, die dem Dogma nicht anhängen. Einige der dokumentierten Vorfälle sind hochgradig absurd: 2020 wurde an der University of Southern California ein Professor suspendiert, weil er im Klassenzimmer ein chinesisches Wort verwendet hatte, das phonetisch dem rassistischen N-Wort ähnelt.

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Zahlen & Fakten

Und im Vorjahr kündigte die Hamline University (in St. Paul, Minnesota) eine Professorin, weil sie in ihrem Kurs eine historische Darstellung des Propheten Mohammed zeigte (was im Islam verboten ist) – obwohl sie allen Teilnehmern zuvor die Möglichkeit gegeben hatte, den Klassenraum zu verlassen, sollten sie das Bild nicht sehen wollen. 

Der Kontext, der sie den Job kostete

Auf der anderen Seite wurde nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober offenbar, dass im Weltbild der Identitätspolitik nicht alle Minderheiten gleich viel wert sind. Israel gilt in diesen Kreisen als weißer Kolonialstaat und die Palästinenser als die zu schützende Minderheit. Antiisraelische und antisemitische Parolen an US-Eliteunis schockierten die Öffentlichkeit und kosteten einige der Dekane ihren Job.

Nicht immer agieren die Anhänger der Identitätspolitik im Einklang mit jenen Menschen, die sie schützen wollen.

„Sie wurden an den Pranger gestellt, weil sie sagten, es hänge vom Kontext ab, ob die Befürwortung des Völkermords an den Juden auf ihrem Campus bestraft werden sollte. Rechtlich gesehen hatten sie jedoch recht, auch wenn ihre Antworten aus einem PR-Blickwinkel eine Katastrophe waren“, sagt Berkeley-Dekan Chemerinsky. Er ist selbst Jude und gibt an, in seinem Leben noch nie mit so viel Antisemitismus konfrontiert worden zu sein wie seit dem 7. Oktober. Zu einem Problem wurden die Vorfälle für die Universitätsleitungen auch, weil sie in anderen Fällen von Diskriminierung viel schneller eingeschritten waren. 

Fast niemand will Latinx sein

Nicht immer agieren die Anhänger der Identitätspolitik im Einklang mit jenen Menschen, die sie eigentlich schützen wollen: Der als politisch korrekt ausgerufene Begriff Latinx für Lateinamerikaner in den USA wird laut Umfragen von nur zwei bis vier Prozent der Lateinamerikaner genutzt, vierzig Prozent lehnen ihn ab oder finden ihn sogar beleidigend. 

Es ist eine absurde Volte: Am Ende wird erst recht wieder über die Köpfe einer Minderheit hinweg entschieden, weil einige aus ideologischer Sicht zu wissen glauben, was für sie am besten sei.

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