Putins Drohung mit dem Hunger

Der Ausstieg Russlands aus dem Getreideabkommen und der Beschuss von Donauhäfen sind ein Erpressungsversuch. Putin will damit eine Aufhebung der Agrar-Sanktionen erzwingen.

Reste eines Sprengkopfs liegen inmitten eines zerstörten Getreidelagers. Im Hintergrund sind Menschen zu sehen, die begonnen haben aufzuräumen. Das Bild ist Teil eines Beitrags über den Ausstieg Russlands aus dem Getreide-Abkommen und über Getreideexporte aus der Ukraine.
Odessa am 24. Juli 2023: Der Beschuss eines Getreidelagers in der Nähe von Odessa steht in Zusammenhang mit dem Ausstieg Russlands aus dem Getreideabkommen. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Rückzug. Nach dem Ausstieg Russlands aus der Getreideinitiative können 40 Prozent der Agrarprodukte aus der Ukraine nicht exportiert werden.
  • Marktfolgen. Eine mögliche Verknappung der Güter kann einen Preisanstieg für diese Produkte bewirken und Lebensmittel global verteuern.
  • Turbulenzen. Einige EU-Staaten, etwa Polen, möchten ihre Märkte vor ukrainischen Produkten schließen, sind aber bereit, als Transitländer zu fungieren.
  • Spielraum. Russland will eine Aufhebung der Agrar-Sanktionen erreichen. Die EU sollte ihre Märkte vollständig für Agrarprodukte aus der Ukraine öffnen.

Die geopolitische Landkarte hat sich dramatisch verändert, seit sich Russland am 17. Juli 2023 aus der Schwarzmeer-Getreide-Initiative zurückgezogen hat. Jetzt sind wir in einer komplexen Phase im Schachspiel der globalen Geoökonomie, das sich schnell weiterentwickelt und potenziell in eine globale Nahrungsmittelkrise gipfeln könnte.

Mehr über Getreide

Der nicht ganz unerwartete Rückzug Russlands aus dem Abkommen könnte bedeutende Auswirkungen nicht nur auf die Ukraine, die einer der weltweit führenden Produzenten von Weizen, Mais, Gerste und Sonnenblumenöl ist, sondern auch auf den globalen Süden haben, der auf die Einfuhr dieser Rohstoffe angewiesen ist.

Das Getreide-Abkommen

Bis Juli 2023 wurden fast 33 Millionen Tonnen Getreide und andere Nahrungsmittel über die Schwarzmeer-Getreide-Initiative exportiert. 65 Prozent des über die Initiative ausgeführten Weizens gingen in Entwicklungsländer. Der Maisexport erfolgte fast zu gleichen Teilen in Industrie- und Entwicklungsländer.

Über 50 Prozent des exportierten Getreides war Mais – jenes Getreide, das zu Beginn des Krieges am stärksten von der Blockade der ukrainischen Getreidesilos betroffen war. Um Platz für den Weizen der Sommersaison zu schaffen, musste er schnell exportiert werden.

Ein Mann in organger Kluft reinigt mit einer Schaufel eine Straße von Schutt. Im Hintergrund steht ein zerstörtes Auto und ein Bagger mit dem weiterer Schutt abtransportiert wird. Die Aufnahme ist in Odessa.
Odessa am 24. Juli 2023: Rund zwanzig historische Gebäude wurden bei dem Raketenangriff Russlands auf das Zentrum der Stadt beschädigt oder zerstört. © Getty Images

In den Monaten zu Beginn des Krieges wurde die bereits angespannte Situation noch verschärft, da Russland die ukrainischen Häfen immer wieder blockierte – eine Taktik, die bereits im Vorfeld der Invasion angewendet und nach Kriegsbeginn fortgesetzt wurde. Dieser Schachzug führte zu einem dramatischen Anstieg der Preise für Grundnahrungsmittel und beeinflusste die globalen Märkte im letzten Jahr erheblich.

Die Situation entspannte sich erst, als Russland im Juli 2022 unter der Vermittlung der Vereinten Nationen und der Türkei in ein Getreideabkommen mit der Ukraine einwilligte, das die Durchfahrt von Schiffen durch diese Häfen wieder ermöglichte. Diese Vereinbarung hat der russische Präsident Wladimir Putin nun widerrufen. So versperrt er zu Beginn der ukrainischen Erntesaison eine der wichtigsten Handelsrouten.

Devisen und Umgehung der Sanktionen

Russlands Schritt kann als eine geplante, auf den Westen ausgerichtete Drucktaktik interpretiert werden. Ziel ist es, die Genehmigung für die Aufnahme der russischen Agrarbank Rosselkhozbank in das internationale Zahlungssystem SWIFT zu erlangen. Würde dieses Ziel erreicht, könnte der Weg für eine effizientere Fracht, Logistik und Verschiffung von russischen Lebensmitteln und Dünger geebnet werden. So würde ein Präzedenzfall für die Umgehung der westlichen Sanktionen geschaffen und der russischen Wirtschaft dringend benötigte Devisen bereitgestellt.

Durch die Schaffung der Voraussetzungen für eine „Nahrungsmittelkrise 2.0“ übt Russland auch erheblichen Einfluss auf afrikanische und asiatische Länder aus, die stark von russischen Rohstoffen abhängig sind. Und nicht zuletzt kann Russland auf diese Art und Weise der Ukraine eine ihrer Haupteinnahmequellen entziehen und sie wirtschaftlich schwächen.

Es ist unerlässlich, das komplexe Zusammenspiel mehrerer wichtiger Einflussfaktoren zu durchschauen, die durch Russlands Handlungen entstehen. In dieser Situation spielt die Zerstörung des Kachowka-Damms durch Russland, wodurch laut dem ukrainischen Landwirtschaftsministerium 600.000 Hektar fruchtbares Ackerland ohne notwendige Bewässerung blieben, eine zentrale Rolle.

Die Zerstörung des Kachowka-Staudamms hat massive Schäden an den Bewässerungssystemen verursacht: 94 Prozent der Agrarflächen im Oblast Cherson, 74 Prozent im Oblast Saporischschja und 30 Prozent im Oblast Dnipro sind nun ohne Wasserquellen.

Ernährungssicherheit gefährdet

Die Auswirkungen sind nicht auf die Ukraine beschränkt, sondern betreffen auch Länder, die sich auf Nahrungsmittellieferungen aus der Ukraine, insbesondere Getreide, verlassen. Zudem könnte die anhaltende russische Blockade der drei ukrainischen Häfen, die für Getreidelieferungen von großer Bedeutung sind, zu erheblichen Störungen auf dem internationalen Getreidemarkt führen.

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Zahlen & Fakten

Ein Mann und eine Frau fegen eine Straße, die mit Sandsäcken gesäumt ist, während eine weitere Frau vorbeigeht. Im Hintergrund sind Gebäude aus der Zeit um 1900 zu sehen. Das Bild ist Teil eines Beitrags über die Ukraine und die Getreideexporte. Das Foto wurde in Odessa aufgenommen, 1941.
Odessa im Sommer 1941: Barrikaden gegen Angriffe des Deutschen Reichs und dem mit ihm verbündeten Rumänien unter Ion Antonescu. © Getty Images

Umkämpft: Odessa

Odessa liegt am Schwarzen Meer, sein Exporthafen ist einer der wichtigsten Knotenpunkte des globalen Agrarhandels. Das Getreide der Schwarzerde-Region im Süden der Ukraine machte Odessa schon vor dem 18. Jahrhundert zu einem Knotenpunkt für den Handel.

  • Bereits bevor Katharina II., bekannt als Katharina die Große, 1792 Odessa eroberte und es als Odessa gründete, war die Siedlung Hacibey ein wichtiger Getreidehafen des Osmanischen Reichs mit einer Festung. Die um 1900 errichtete Statue Katharinas II. in Odessa wurde nach dem Überfall Russlands demontiert.
  • Katharina die Große sah als Physiokratin in Landwirtschaft und Bergbau die Quelle des Wohlstands einer Nation. Sie trieb die Industrialisierung der Landwirtschaft voran.
  • Mit der exportorientierten Produktion im Agrarsektor wuchs auch Odessa: Der Holländer François-Paul Sainte de Wollant entwarf den Hochseehafen für die entstehende Metropole.
  • Im 19. Jahrhundert fand die Region durch das Eisenbahn- und Telegraphennetz den internationalen Anschluss: Getreide wurde international an den Börsen gehandelt, die Preise synchronisiert.
  • Der Fokus auf den Export, die verschleppte Modernisierung des Hafens und hohe Lebensmittelpreise werden von dem Historiker Boris Belge für den Zusammenbruch der multinationalen und -kulturellen Gesellschaft Odessas ab Ende des 19. Jahrhunderts verantwortlich gemacht. In Odessa fand 1821 zum ersten Mal ein Pogrom an jüdischen Einwohnern statt, 1905 das letzte.
  • Eine Hungersnot 1920 und 1921, die vorsätzliche Hungersnot Holodomor 1932 bis 1933 prägten die ersten Jahrzehnte der sowjetischen Herrschaft. 34.000 jüdische Einwohner Odessas wurden im Massaker von Odessa durch rumänische und deutsche Soldaten während der deutsch-rumänischen Besatzung 1941 bis 1944 ermordet.
  • Odessa verlor nach dem Zweiten Weltkrieg seine internationale Bedeutung für den Getreidehandel, blieb aber auch für die Sowjetunion der wichtigste Schwarzmeer-Hafen und entwickelte sich nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1992 wieder zu einem der bedeutendsten Exporthäfen für Getreide in Europa.

Aufgrund der jüngsten russischen Angriffe auf Infrastrukturen in der Region Odessa wurden 60.000 Tonnen Getreide im Hafen von Chornomorsk – einem der drei Schlüsselhäfen für die Schwarzmeer-Getreide-Initiative – zerstört. Odessa selbst war ebenfalls Ziel russischer Angriffe. Das russische Verteidigungsministerium gab weiters bekannt, dass es alle Schiffe, die ukrainische Häfen ansteuern, als potenzielle Träger militärischer Fracht betrachten und die liefernden Flaggenstaaten als Konfliktparteien auf der Seite der Ukraine einstufen würde.

Die Ukraine hat vorgeschlagen, Getreideschiffe über die Hoheitsgewässer der angrenzenden NATO-Staaten zu transportieren, doch informierte Quellen berichten, dass die US-Marine diesen Antrag abgelehnt hat, um Schiffe in der Nähe der NATO-Küsten zu schützen. Das britische Verteidigungsministerium gab kürzlich bekannt, dass Russland seine Marineaktivitäten im Schwarzen Meer intensiviert hat, was auf eine mögliche Blockade der Ukraine hindeutet.

Nun, da sich Russland aus der Schwarzmeer-Getreide-Initiative zurückgezogen hat, ist die Ukraine zunehmend auf die Solidaritätsrouten der EU über die Donau angewiesen, um ihr Getreide zu liefern. Diese Routen sind nicht nur für den Export ukrainischer Agrarprodukte von entscheidender Bedeutung, sondern stellen auch den einzigen Weg für den Export weiterer ukrainischer Waren und den Import aller für die Ukraine notwendigen Güter, wie Treibstoff und humanitäre Hilfe, dar.

Bisher wurden 41 Millionen Tonnen Getreide, Ölsaaten und ähnliche Produkte über die Solidaritätsrouten aus der Ukraine ausgeführt. Diese Routen ermöglichten den Export von etwa 60 Prozent des ukrainischen Getreides seit Kriegsbeginn. Bis zum russischen Rückzug am 17. Juli 2023 wurden 40 Prozent des ukrainischen Getreides durch die Schwarzmeer-Getreide-Initiative exportiert.

Darüber hinaus trugen die Solidaritätsrouten dazu bei, dass die Ukraine mehr als 36 Millionen Tonnen nicht-landwirtschaftlicher Produkte exportieren konnte, zum Beispiel Erze, Eisen und Stahl, Mineralien, Holz. Rund 33 Milliarden Euro wurden so für ukrainische Landwirte und Unternehmen lukriert.

Werden Lebensmittel teurer?

Es besteht ein Verhältnis von 60 zu 40 Prozent zwischen der Donau- und der Schwarzmeer-Initiative, und die Solidaritätsrouten müssen für den Transport weiterer Millionen Tonnen nicht-landwirtschaftlicher Produkte genutzt werden. Unter der Annahme, dass die Ukraine ohne die Schwarzmeer-Getreide-Initiative also mindestens 40 Millionen Tonnen Getreide auf andere Weise verschiffen muss, sollte man die Getreideexporte aus der Ukraine als Achillesferse erkennen.

Zwei Männer spielen Dart, wobei sie auf Zielscheiben mit den Gesichtern von russischen Oligarchen und von Viktor Lukaschenko und Wladimir Putin zielen.
Putin, Lukaschenko und einige Oligarchen als Zielscheiben: Dart in Odessa am 25. Juli 2023. © Getty Images

Der kürzlich erfolgte Angriff auf den Donau-Hafen Reni, der direkt am Fluss an der ukrainisch-rumänischen Grenze und gegenüber der rumänischen Großstadt Galati mit rund 220.000 Einwohnern gelegen ist, verdeutlicht die kritische Lage: Russlands Angriffe auf die zivile Infrastruktur der Ukraine entlang der Donau und in unmittelbarer Nähe zu Rumänien scheinen einem gezielten Plan zu folgen.

Diese jüngste Eskalation birgt ernsthafte Risiken für die Sicherheit in der Schwarzmeer-Region und beeinträchtigt zudem den weiteren Getreidetransport innerhalb der Ukraine, was gravierende Auswirkungen auf die weltweite Ernährungssicherheit haben könnte.

Sollte es Russland gelingen, eine Blockade zu erzwingen, hätte dies nicht nur erhebliche Auswirkungen auf die ukrainische Wirtschaft, sondern könnte auch den globalen Getreidemarkt beeinflussen und zu einem erneuten weltweiten Anstieg der Lebensmittelpreise führen.

Was Putin zurückhält

Das Konfliktpotenzial im Schwarzen Meer könnte zudem weitreichende geopolitische Auswirkungen haben, die die regionale Instabilität erhöhen und die Beziehungen zwischen Russland und dem Westen erschweren. Anhaltende Angriffe auf die Donau-Terminals könnten das Kräfteverhältnis ändern. Russland scheint dabei vor allem geoökonomische Ziele zu verfolgen.

Gleichzeitig möchte Moskau keinen direkten Konflikt mit der NATO provozieren, weshalb in dieser Angelegenheit noch Kompromissmöglichkeiten bestehen könnten. Der türkische Präsident Erdoğan verfügt über erheblichen Einfluss auf Putin und könnte in der Lage sein, einen direkten Dialog mit dem russischen Präsidenten über die Verlängerung der Getreideinitiative zu führen.

Bis dahin droht die Verkettung von Umständen die Nahrungsmittelunsicherheit in Afrika und Asien zu verschlimmern. Vor diesem Hintergrund könnte eine erneute globale Nahrungsmittelkrise 2.0, die durch die russischen Handlungen und den andauernden Krieg in der Ukraine angeheizt wird, das schlimmste mögliche Szenario darstellen.

Vor dem Hintergrund der Verlängerung der EU-Sanktionen bis Januar 2024 sollte die EU ihre Märkte für Agrarprodukte aus der Ukraine öffnen und die bis zum 15. September 2023 verhängten Beschränkungen für ukrainische Getreideexporte neu überdenken. Die fünf östlichen EU-Mitgliedstaaten – Polen, Ungarn, Slowakei, Rumänien und Bulgarien – beabsichtigen, auch nach diesem Datum am Importverbot festzuhalten. Sie befürchten einen Preisverfall durch erhöhte Konkurrenz, falls ukrainische Agrarprodukte Zugang zum EU-Markt erhalten. Ukrainischer Weizen, Mais, Raps und Sonnenblumenkerne dürfen nicht mehr frei gehandelt werden, falls die EU-Kommission keine alternative Lösung findet. Allerdings ist der Transit dieser Waren in andere EU-Länder gestattet und der Landweg durch die EU bleibt derzeit die einzige nachhaltige Lösung in dieser äußerst kritischen Situation.

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Conclusio

Die unter internationaler Vermittlung zustande gekommene Schwarzmeer-Getreide-Initiative garantierte, dass Agrar- und insbesondere Getreideexporte aus der Ukraine über die Schwarzmeer-Häfen wie etwa Odessa trotz des Krieges möglich blieben. Um zu verhindern, dass es zu einem Preisanstieg auf den Getreidebörsen kommt und damit zu höheren Lebensmittelpreisen sollte die EU ihre Märkte für ukrainische Agrarprodukte vollständig öffnen – auch wenn sich Länder wie Polen dagegen stellen. Zugleich kann sich die EU nicht auf eine Lockerung der Agrar-Sanktionen gegen Russland einlassen, obwohl sie auf Dünger und andere fossil-basierte Produkte aus Russland für ihre Agrarindustrie angewiesen ist. Der Ausgang des Konflikts um den Export von Getreide aus der Ukraine ist wesentlich für den zukünftigen Zusammenhalt der EU und den Erfolg der Sanktionen.

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