Zurück nach Syrien?
Auch nach Assad ist Syrien alles andere als ein sicheres Land. Ausländische Interessen und innere Machtkämpfe bestimmen den Alltag der Bevölkerung.

Auf den Punkt gebracht
- Machtwechsel. Ahmad Al-Sharaa regiert ähnlich wie Assad, es herrscht Nepotismus, die Medien stehen unter Kontrolle, persönliche Freiheiten sind eingeschränkt.
- Geopolitik. Ausländische Akteure nutzen Syrien, um ihre geopolitischen Interessen in der Region durchzusetzen, was die Fragmentierung des Landes verstärken könnte.
- Islamismus. Al-Sharaa gibt sich moderat, hat aber einen deutlich sichtbaren Prozess der Islamisierung in Gang gesetzt, der auch gewaltsam durchgesetzt wird.
- Unsicherheit. Die staatliche Sicherheitsstruktur ist zusammengebrochen, dezentral operierende, schwer bewaffnete Milizen füllen das entstandene Vakuum.
Die Folgen der Migrationswelle seit 2015 sind bis heute in ganz Europa spürbar. Allein in Österreich leben derzeit rund 120.000 geflüchtete Syrer. Nach dem Sturz Assads stellt sich natürlich die Frage, unter welchen Bedingungen deren Rückkehr zumutbar ist. Und nachdem ein abgeschobener syrischer Straftäter während eines Zwischenstopps in Istanbul einfach verschwunden ist, wird die Politik zudem zu entscheiden haben, wie generell mit derartigen Fällen umzugehen ist. Beides hängt nicht zuletzt von der Lage in Syrien selbst ab.
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Syrien heute
Der Sturz des Assad-Regimes brachte leider weder Frieden noch Rechtsstaat oder Demokratie, sondern verursachte eine tiefe Spaltung des Landes nach Identität, Glauben und politischer Zugehörigkeit. Das Land befindet sich weiterhin in einer Phase der Instabilität, geprägt von ideologischen Strömungen, konfessionellen Polarisierungen, dem Ausbleiben einer Initiative zur nationalen Versöhnung und dem Fehlen einer Grundlage für die Etablierung rechtsstaatlicher Strukturen.
Einst als Extremisten geltende islamistische Gruppen sind nun alleinige Machthaber, denen verbündete ausländische Kämpfer in den eigenen Reihen näherstehen als syrische Minderheiten. Jeder Form von Kritik begegnen sie mit eiserner Faust.
Zwar soll ein Abkommen der Zentralregierung in Damaskus mit den Syrischen Demokratischen Kräften (SDF) diese in die syrische Armee und andere staatliche Institutionen eingliedern, sowie das von ihr kontrollierte, mehrheitlich kurdische Gebiet in die landesweite Verwaltung integrieren, doch dessen Umsetzung bleibt weiterhin unklar. Die Ergebnisse der Untersuchung des Massakers an den Alawiten liegen im Dunkeln. Auch der Selbstmordanschlag auf die Kirche in Damaskus im Juni und die Ursachen für die verheerenden Waldbrände in den Küstenregionen sind noch immer nicht geklärt.
Zahlen & Fakten
In Suwaida, einer drusischen Region im Süden Syriens, ist die Gewalt durch militante Gruppen so dramatisch eskaliert, dass die Israelischen Verteidigungskräfte (IDF) militärische Maßnahmen zum Schutz der drusischen Bevölkerung ergreifen mussten. Der Verlust staatlicher Kontrolle bei gleichzeitigem Machtzuwachs radikaler Milizen könnte das Land anfälliger für äußere Einflussnahme machen und dessen inneren Zerfall beschleunigen.
Fremde Interessen…
Im aktuellen Machtgefüge Syriens spielen syrische Akteure nach wie vor eine untergeordnete Rolle. Stattdessen sind es vor allem externe Mächte, die versuchen, Syrien zu nutzen, um die Neugestaltung des Nahen Ostens voranzutreiben.
Saudi-Arabien hat sich als zentraler politischer Vermittler etabliert, verhandelt mit den USA über die Aufhebung von Sanktionen und plant gleichzeitig Investitionen in den Wiederaufbau Syriens. Unterstützt von den Golfstaaten und mit stiller Zustimmung aus Washington betrachtet Riad Syrien als strategische Investition in die regionale Stabilität – und als Chance, den Einfluss Irans weiter zurückzudrängen.
Die Türkei verfolgt eine komplexere Agenda. Mit ihrer militärischen Präsenz im Norden Syriens sowie ihrem wachsenden wirtschaftlichen Einfluss hat Ankara eine strategisch bedeutsame Position im aktuellen Transformationsprozess eingenommen. Das ideologische Motiv der Türkei liegt in der Wiederbelebung eines politischen Islam, der sich an Erdoğans Modell orientiert und sich offen gegen Israel positioniert.
Allerdings steht diese türkische Vision im Gegensatz zum Pragmatismus des neuen starken Mannes Ahmad Al-Sharaa, der nicht nur Gespräche mit Israel geführt hat, sondern auch eine mögliche Teilnahme Syriens an den Abraham-Abkommen in Aussicht gestellt hat. In diesem Kontext können die jüngsten israelischen Luftangriffe in der Nähe des Präsidentenpalastes und des Verteidigungsministeriums in Damaskus als Warnung betrachtet werden: Al-Sharaas Macht könnte bald ein Ende finden, wenn bestimmte Bedingungen nicht erfüllt werden. Dazu zählen ein Friedensschluss mit Israel und der wirksame Schutz von Minderheiten, sowie politische Inklusion und die vollständige Kontrolle über ausländische Extremisten.
Israel könnte aber auch auf eine langfristige Fragmentierung Syriens abzielen, um die eigenen sicherheits- und geopolitischen Positionen in der Region zu festigen. Eine mögliche Maßnahme wäre die Etablierung einer Pufferzone entlang der Nordgrenze durch Suwaida.
…und innere Macht
Al-Sharaas zurückhaltendes Auftreten kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass er sich durch eine selbst entworfene Übergangsverfassung weitreichende Machtbefugnisse sicherte, und durch strategischen Nepotismus sowie eine regimetreue Online-Kampagne auf regional vertraute Muster der Machtsicherung zurückgreift. Seine Regierung ähnelt in vielerlei Hinsicht dem autoritären Erbe Assads, da die vertrauten Säulen von Personalisierung, Patronage und zentralisierter Kontrolle weiterhin bestehen bleiben. Loyalität steht über Kompetenz und Machterhalt über Teilhabe.
So besetzen mehrere neue Personen mit Verbindung zur HTS (Hai’at Tahrir al-Scham) zentrale Schlüsselpositionen, und Maher, Al-Sharaas Bruder, wurde zum Generalsekretär der Präsidentschaft ernannt, während Hamza, ein weiterer Bruder, als Investitionsberater fungiert.
Parallel dazu betreibt das Regime eine Politik der sogenannten „wirtschaftlichen Versöhnung“ mit syrischen Unternehmern im Exil – ein Euphemismus für eine erpresserische Strategie, um ihr Kapital zurückzuholen und sie zugleich als potenzielle politische Gegner zu neutralisieren: Ihre persönliche Sicherheit wird garantiert, wenn sie bei der Rückkehr einen Teil ihres Vermögens an den Staat übertragen. Die Alternative ist wenig verlockend. Kehren sie nicht zurück, wird ihr Vermögen in Syrien beschlagnahmt.
Unsichere Zukunft
Der Zusammenbruch der formellen Sicherheitsstruktur Syriens hat zur Entstehung zersplitterter bewaffneter Gruppen ohne klare Struktur geführt. Fraktionen bärtiger Extremisten ohne formelle Funktion haben das Machtvakuum für sich genutzt, um vor Ort Einfluss zu gewinnen und tragen zur Verschlechterung der Sicherheitslage bei. Ihre Aktionen sind von Gewalt, Entführungen, Plünderungen, Morden und Zwangsräumungen ehemals staatlicher Siedlungen geprägt.
Gleichzeitig nimmt die religiöse Propaganda zu. Über Lautsprecher wird öffentlich zum Islam aufgerufen, in Freitagspredigen und in den Social-Media-Kanälen wird „Sittsamkeit“ eingefordert, an Universitäten und in anderen öffentlichen Räumen, zum Beispiel in Bädern, werden die Kleidervorschriften strenger.
Diese Entwicklungen, die von takfiristischer Rhetorik begleitet werden, sind nicht nur für Minderheiten, sondern auch für moderate Sunniten alarmierend. Sie befürchten eine Verschärfung der ideologischen Kontrolle. Unter dem Vorwand, die Moral durchzusetzen, überfallen bewaffnete Gruppen schon heute Nachtclubs und Bars, attackieren Spirituosengeschäfte und greifen Menschen an.
Die Einschränkung individueller Freiheiten ist – wenn auch nicht immer systematisch, so doch in vielen Bereichen zunehmend – zu beobachten und spiegelt einen tief verwurzelten Trend wider, der das tägliche Leben der Syrer verändert. Es ist schwer zu sagen, ob dieses Klima das Ergebnis einer bewussten staatlichen Politik oder eines dezentralisierten Machtkampfs ist. In jedem Fall stellt es eine ernstzunehmende Bedrohung für den sozialen Zusammenhalt, den Pluralismus und die langfristige Stabilität Syriens dar.
Allerdings liegt ein Hoffnungsschimmer für Syrien in der Rückkehr seiner intellektuellen und wirtschaftlichen Elite, sofern diese nicht durch ausländische Einflüsse gespalten wird oder politisch marginalisiert bleibt. Ein nachhaltiger Wiederaufbau des Landes kann nur gelingen, wenn Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit gewährleistet sind. Und davon ist Syrien heute noch weit, sehr weit entfernt.
Conclusio
Instabilität. Islamistische Gruppen sind an der Macht, Gewaltausbrüche an der Tagesordnung, rechtsstaatliche Strukturen nicht vorhanden. Die Bevölkerung lebt in Unsicherheit. Syrien bleibt durch ideologische und konfessionelle Konflikte tief gespalten.
Interessen. Externe Mächte wie zum Beispiel Saudi-Arabien, die Türkei und Israel nutzen Syrien als Schauplatz für eigene geopolitische Agenden, was die Zersplitterung und Destabilisierung des Landes weiter beschleunigen könnte.
Hoffnung. Auch wenn Syrien von einem Rechtsstaat noch sehr weit entfernt ist, liegt in der Rückkehr von syrischen Unternehmern und Intellektuellen im Exil eine Chance, die wirtschaftliche und rechtsstaatliche Entwicklung voranzutreiben.
Weiterführende Quellen: Aus Österreich abgeschobener Syrer verschwunden (ORF.at)