Israel und die Besserwisser

Europa verurteilt Israels Militäreinsatz in Gaza, bleibt jedoch Alternativen schuldig. Dabei liegt ein Sieg Israels auch im europäischen Interesse. 

Proteste in Tel Aviv am 9. Juli 2025, nachdem Benjamin Netanyahu angekündigt hatte, Gaza vollständig einnehmen zu wollen. Die Protestierenden fordern ein Ende des Krieges und die Freilassung der Geiseln. Das Bild ist Teil eines Kommentars von Thomas Eppinger, in dem er Forderungen nach einem Ende des Krieges als unrealistisch kritisiert, da die Hamas noch nicht vollständig besiegt sei. Auch das vom deutschen Bundeskanzler Friedrich Merz angekündigte Aussetzen von Waffenlieferungen an Israel sei nicht zielführend, da Israel zum einen nicht auf die Waffen angewiesen sei und zum anderen, da nur eine Ausweitung des Krieges bzw. die Einnahme palästinensischer Gebiete die Hamas besiegen könnte.
Proteste in Tel Aviv am 9. Juli 2025, nachdem Benjamin Netanyahu angekündigt hatte, Gaza vollständig einnehmen zu wollen. Die Protestierenden fordern ein Ende des Krieges und die Freilassung der Geiseln. © Getty Images

Freunde erkennt man in der Krise. Und Krieg ist die wohl schwerste Krise, in der ein Land stecken kann. Mit dem angekündigten Stopp von Waffenlieferungen nach Israel verabschiedet sich Kanzler Friedrich Merz von der deutschen Staatsräson – und kündigt damit dem engsten Verbündeten im Nahen Osten die Freundschaft. 

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Die militärischen Auswirkungen von Merz‘ Kniefall vor der SPD dürften bescheiden sein. Deutschland hat seit dem 7. Oktober 2023 die Ausfuhr von Rüstungsgütern nach Israel im Wert von rund 485 Millionen Euro genehmigt, hauptsächlich Feuerwaffen, Munition und Ersatzteile. Ärgerlich, wenn das wegfällt, kriegsentscheidend ist es nicht. 

Würde Israel den Spieß umdrehen, wäre das nicht nur für Deutschland sehr viel folgenschwerer. Hinweise der israelischen Geheimdienste haben Dutzende Terroranschläge in Europa verhindert. Ohne Israel wären wir im Nahen Osten weitgehend blind und taub. Auch der geplante „European Sky Shield“ wäre löchrig: für das im Vorjahr von Deutschland bestellte israelische Raketenabwehrsystem Arrow 3 gibt es keinen gleichwertigen Ersatz. 

Die Antwort Israels auf das Oktober-Pogrom war von Anfang an Teil des Plans der Hamas. Dieser ist zwar militärisch nicht aufgegangen, aber politisch sehr wohl – je länger der Krieg dauert, desto größer wird der internationale Druck auf Israel.

Europa verlängert den Krieg, statt ihn zu verkürzen.

Norwegen, Spanien, Irland und Slowenien haben seither einen palästinensischen Staat anerkannt, der weder feste Grenzen noch eine Regierung hat. Emmanuel Macron hat die Anerkennung durch Frankreich angekündigt, der britische Premierminister Keir Starmer hat die groteske Politik auf die Spitze getrieben: Wenn Israel keine Waffenruhe vereinbare, werde Großbritannien einen eigenständigen Palästinenserstaat anerkennen. Die Hamas muss also nur durchhalten und wie bisher einen Waffenstillstand ablehnen, dann folgt die Belohnung auf dem Fuß. So verlängert Europa den Krieg, statt ihn zu verkürzen.

Solche Entscheidungen sind als Zugeständnis an die wachsende muslimische Wählerschaft zu verstehen und mit der Angst vor Ausschreitungen derer radikalen Teile erklärbar. Ich hege freilich den Verdacht, dass sie auch mit einer Art neokolonialen Besserwisserei zu tun haben, die sich immer mehr breitmacht. Egal, worum es geht: Am europäischen Wesen soll die Welt genesen. 

Waffenlieferungen sind alternativlos

Wir haben es in Europa nicht fertiggebracht, die Ukraine mit genug Material auszustatten, um dem russischen Überfall standzuhalten und sitzen bei den Friedensverhandlungen nicht einmal am Katzentisch. Die innere Sicherheit erodiert zunehmend, beim Schutz der äußeren Sicherheit sind wir von den USA abhängig. Umso erstaunlicher ist die Selbstgewissheit europäischer Politiker, die anscheinend allesamt besser als Israel wissen, wie man den desaströsen Krieg in Gaza beendet und die Geiseln freibekommt. 

Nie zuvor in der Geschichte hat ein Land unter vergleichbaren Bedingungen Krieg geführt. Im dichtbesiedelten urbanen Raum, gegen Kämpfer, die nicht von Zivilisten zu unterscheiden sind und auf deren Rückhalt sie zählen können, in einem dreistöckigen, bis zu 70 Meter tiefen Tunnelsystem mit Waffenlagern und Militärzentralen unter Schulen, Krankenhäusern und Moscheen – mit dem Ziel, die Geiseln zu befreien, und der Verpflichtung, die Bevölkerung zu versorgen. 

Ich weiß nicht, wie man einen solchen Krieg führt. Und ich wundere mich darüber, wie viele das zu wissen glauben – ohne zu sagen, wie er besser zu führen wäre, mit weniger Opfern auf beiden Seiten. 

Wenn die Geiseln freikommen sollen, müssen sie befreit werden. Wenn die Hamas keine Rolle mehr spielen soll, muss sie entwaffnet werden.

Militärisch mag die Hamas besiegt sein, aber sie ist immer noch unbestreitbar an der Macht. Sonst hätte irgendjemand Israels Angebot für jede übergebene Geisel angenommen: fünf Millionen Dollar und ein sicherer Weg aus dem Gazastreifen für sich selbst und die Familie. Die Geiseln sind der einzige Trumpf der Hamas, und sie wird ihn nicht freiwillig aus der Hand geben.

Zwischen Hoffnung und Hilflosigkeit

Europa verurteilt die geplante Ausweitung des Krieges auf die letzte Bastion der Hamas, ohne eine Alternative zu nennen. So liest sich auch das Statement der österreichischen Außenministerin auf X, in dem sie die Ausweitung der Militäroperationen in Gaza klar ablehnt, wie ein unfreiwilliges Dokument der Hilflosigkeit. „Erforderlich sind ein sofortiger Waffenstillstand, die bedingungslose Freilassung aller Geiseln durch die Hamas und umfassende humanitäre Hilfe, um den Weg zu einem dauerhaften Ende der Feindseligkeiten zu ebnen. Klar ist für mich aber auch weiterhin: die Hamas darf in Gaza künftig keine Rolle mehr spielen.“ 

Was für die Verfasserin klar ist, dürfte die Hamas eher kalt lassen. Wenn die Geiseln freikommen sollen, müssen sie befreit werden. Wenn die Hamas keine Rolle mehr spielen soll, muss sie entwaffnet werden. Und niemand außer Israel ist dazu in der Lage. Auch der arabische Friedensplan für Gaza setzt die Entwaffnung der Hamas voraus.

So ist die Ausweitung der Kampfzone eine schlechte Option unter lauter schlechten, ob als Strategie oder letzte Drohkulisse für eine diplomatische Lösung. Weder kann Israel die Terroristen an der Macht noch die Geiseln in ihrer Gewalt lassen. Je schneller die Hamas entmachtet wird, desto eher bekommen die Einwohner Gazas eine neue Chance auf eine friedliche Zukunft.

Dabei steht auch für Europa viel auf dem Spiel. Wenn sich die Hamas in Gaza halten kann, hat Israel den Krieg verloren. Das wäre der größte vorstellbare Triumph der global operierenden Muslimbruderschaft und würde sämtlichen islamistischen Gruppierungen in Europa enormen Auftrieb verleihen. Wir wären nicht nur mit einer neuen Welle des Terrors konfrontiert, sondern kämen in manchen Ländern (Bonjour la France!) einer islamisch geprägten Theokratie mit Scharia, Patriarchat und Polygamie, wie sie Michel Houellebecq in seinem Roman Unterwerfung geschildert hat, einen großen Schritt näher. Umso unverantwortlicher ist das Abrücken von Israel – auch der eigenen Bevölkerung gegenüber.

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