Wenn der Politiker zum Psychologen wird

Brexit, Trump, Terror und Traumata – viele Phänomene des öffentlichen Lebens sind nur mit einem Übermaß an Gefühlen zu erklären. Dieser Herausforderung sollte sich die Politik konsequenterweise mit einer Methode aus der Psychologie entgegenstellen.

Ein Plakat, das Donald Trump zeigt, wie er Wladimir Putin küsst. Das Plakat wird bei der „Missing EU Already“ Anti-Brexit Rally vor dem schottischen Parlament in Holyrood Edinburgh am 31. Januar 2020 in Edinburgh hochgehalten. Das Bild illustriert einen Kommentar darüber, inwieweit die Politik sich die Psychologie zunutze machen kann.
Es sei auch die Aufgabe der Politik, Stimmungen und Atmosphären, die in einer Gesellschaft auftauchen und stark werden, zu erkennen und auf deren mögliche Ursachen zu reagieren, meint Kolumnistin Katja Gentinetta. © Getty Images

Leben wir in toxischen Zeiten? – Es ist eine Frage, die ich so selbst nicht stellen würde, die ich aber auch nicht zitiere. Dennoch hätte ich einer solchen Frage begegnen können, angesichts der Omnipräsenz psychologischer Begriffe, die alltäglich herumgeboten werden. Ist die Psychologie die neue Leitdisziplin? Mehr noch: Sollte sie es sein? Diese Frage geht mir immer wieder durch den Kopf, seitdem sich immer mehr politische Entscheidungen und Entwicklungen schwer erklären lassen – zumindest unter Rückgriff auf die Vernunft.

„Brexit“ und „Trump“ waren vor ein paar Jahren die gängigen Stichworte, mit denen der Untergang der Demokratie – ja der Werte der Aufklärung schlechthin – diagnostiziert wurde. Während der Coronapandemie sorgte das Ausmaß der Menschen, die Verschwörungstheorien anhingen, für Ratlosigkeit. In der Woke-Bewegung spielen individuelle Gefühle die Hauptrolle, und radikalisierter Aktivismus gehört inzwischen zum gängigen Repertoire politischen Handelns.

Sowohl von Trump wie von Putin gibt es – bei aller Vorsicht der Psychologen, denen die Berufsethik Ferndiagnosen verbietet – zahlreiche Einschätzungen, die warnen: vor Trump, der zwar den Einfühlsamen gibt, aber letztlich ein Manipulator ist, und vor Putin, der klar destruktiv ist, aber wenn man Fragen der Ethik ausblendet, nicht etwa irrational handelt.

Das jüngste Beispiel für die Bedeutung der Psychologie in der Politik ist der Krieg zwischen der Hamas und Israel. Psychologinnen diagnostizieren beidseits kollektive Traumata von Vernichtung, Auslöschung und Vertreibung, die tief sitzen und nun neu aufgerissen sind. Die Effekte dieser Wunden sind sogar messbar: anhand des Cortisolspiegels im Blut, der bei chronischem Stress nicht mehr sinkt.

Gefühle können die Politik bestimmen

Solche Entwicklungen werfen, mit Maßstäben der Vernunft gemessen, Fragen auf, und sie stellen Demokratien vor gewaltige Probleme, da offenbar weder Fakten noch „vernünftige“ Programme, die auf objektive Lebensumstände wie Sicherheit, Stabilität und Wohlstand zielen, ein Garant für erfolgreiche Politik sind. Vielmehr scheinen immer mehr Menschen ihren Gefühlen zu folgen und jenen Personen, die sie geschickt instrumentalisieren – mit Konsequenzen für die Menschen, Gesellschaften und die Welt als Ganzes.

Wie kann Psychologie derartige Phänomene erklären? Eine Studie der Princeton University, die im Frühjahr 2017 – ein halbes Jahr nach dem Brexit-Entscheid und wenige Monate nach der Wahl Donald Trumps zum amerikanischen Präsidenten – erschien, zeigte, dass es primär Gefühle des Ausgeschlossenseins und der Verzweiflung sind, die Menschen dazu bewegen, an „wundersame“ Geschichten zu glauben, die nicht wahr sein können.

Diese Menschen würden sich, nach Erfahrungen von Enttäuschung und Zurückweisung, immer stärker von ihren Familien und Freunden entfernen und damit in einen Teufelskreis von Entfremdung und der Suche nach neuem Halt geraten, der sie in die Arme von Verschwörungstheoretikern treibt.

Gefühle können die Politik bestimmen, und mit Gefühlen wird Politik gemacht.

Auch militanter Aktivismus kann psychologisch erklärt und eingeschätzt werden. Ob „Klimakleber“ oder gewalttätige propalästinensische Kundgebungen: Gemäß dem Forensiker Jérôme Endrass handelt es sich bei militanten Ideologen oft um Menschen, die zum Schwarz-Weiß-Denken neigen und die eine niedrige Schwelle zur Gewaltbereitschaft besitzen. Dabei sei die Ideologie, also der Inhalt ihres Aufbegehrens, eher zweitrangig; wichtiger sei, diese martialisch zu vertreten.

Bei diesen und vielen weiteren Beispielen ist der Befund eindeutig: Gefühle können die Politik bestimmen, und mit Gefühlen wird Politik gemacht. Neu ist das nicht. Die Frage ist nur: Was kann die Politik tun? Was können Politikerinnen und Politiker, denen es ernsthaft darum geht, ihren Gesellschaften zu dienen, tun, um den Menschen ein besseres Leben zu ermöglichen und sie vor falschen Versprechen und sich selbst zu schützen?

Modellieren und regulieren

Der Bremer Psychoanalytiker und Psychotherapeut Hans-Jürgen Wirth zeigt in seinem 2023 erschienenen Buch Gefühle machen Politik, welche Emotionen in der öffentlichen Auseinandersetzung vorherrschen und welche Dynamiken diese auslösen können.

Am Erfolg der Populisten, dem Brexit-Entscheid, dem Erfolg der Verschwörungstheorien während der Coronapandemie, den Reaktionen auf die Flüchtlingskrise in Deutschland, den gegensätzlichen Welt- und Menschenbildern der AfD und der Grünen und der Zeitenwende zeigt er auf, in welchem Maß negative Gefühle wie Angst, Scham, Neid und Ekel, aber auch Verbitterung, Ressentiments und Hass politisches Handeln bestimmen.

Gefühle sind, so Wirth, „der neurobiologische Ersatz für die Instinkte“, sie bieten Orientierung. So dienen Gefühle der Ablehnung auch dem Schutz vor gefährlichen Konfrontationen, und umgekehrt sind Menschen auf positive Gefühle wie Liebe, Achtung, Anerkennung und Mitgefühl angewiesen – was sich vermutlich auch im Bedürfnis niederschlägt, sich in seiner Meinung lieber bestätigen als kritisieren zu lassen.

Gefühle lesen

Einen Lösungsvorschlag aber, wie die Politik mit derart starken Gefühlen sowohl bei Individuen als auch in Gesellschaften umgehen soll, bietet der Psychoanalytiker nicht. Einen wichtigen Hinweis aber macht der Autor. Gefühle spielen im menschlichen Austausch eine zentrale Rolle, und sie müssen gerade deshalb auch „gelesen“ werden.

Die Psychologie kann helfen, handeln muss die Politik.

Was die Psychologie mit „Mentalisierung“ umschreibt, meint die Beobachtung und Analyse der Gefühle anderer sowie der eigenen, um sie „zu modellieren und zu regulieren“. Wir wissen aus eigener Erfahrung, dass Erwachsenwerden sehr viel damit zu tun hat, unsere Affekte zu kontrollieren – was wiederum voraussetzt, dass wir uns ihrer bewusst sind.

Es bedarf also, so stark Gefühle auch sein können, in jedem Fall eines rationalen Zugangs auf sie, um sie einschätzen und, wie es in der Fachsprache heißt, „integrieren“ zu können, damit wir ihnen nicht hilflos ausgeliefert sind.

Insofern ist es auch die Aufgabe der Politik, Stimmungen und Atmosphären, die in einer Gesellschaft auftauchen und stark werden, zu erkennen und auf deren mögliche Ursachen zu reagieren. Anders gesagt: Auch starke Emotionen bedürfen politischer Rationalität, um sie aufzufangen, statt explodieren zu lassen. Die Psychologie kann dabei helfen, handeln muss die Politik.

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