Es geht nicht um Frieden, sondern um Freiheit
Die Toten in der Ukraine sind weit weg. Der Krieg geht uns nichts an. Es zählt allein unser Wohlbefinden. Diese Realitätsverweigerung des Westens gefährdet unsere Demokratie und unsere Freiheit.
In diesem Monat ist die Normandie in Feststimmung: An ihren Stränden, in den Städten und Dörfern wird eines bedeutenden Ereignisses gedacht. Am sogenannten „D-Day“, dem 6. Juni 1944, landeten mehr als 150.000 amerikanische, kanadische, britische und französische Soldaten auf den Äckern und an den Stränden des Département Manche, von wo aus sie die Verteidigung der Deutschen durchbrachen und nach wenigen Wochen Paris befreien konnten. Der Tag war ein Wendepunkt im Zweiten Weltkrieg; nur ein Jahr später war er zu Ende.
Mehr von Katja Gentinetta
Doch schon im Jänner 1943 hatten der britische Premierminister Winston Churchill und Amerikas Präsident Franklin D. Roosevelt bei der Konferenz der Alliierten in Casablanca verkündet, dass es nur ein Kriegsziel gebe: die totale und bedingungslose Kapitulation von Hitler-Deutschland. Es war diese Entschlossenheit, die Mittel und Menschen mobilisierte und das Undenkbare möglich machte: die Bezwingung eines totalitären Regimes auf europäischem Boden.
Ob die Feierlichkeiten in der Normandie dazu führen werden, dass sich die Perspektive Westeuropas auf den Krieg in der Ukraine verändert? Ist es denkbar, dass „ein Ruck“ durch das Land geht? Die Erkenntnis, dass es Putin – oder „Putler“, wie er selbst in Russland, als solche Wortwitze noch erlaubt waren, auch genannt wurde – jetzt zu bekämpfen gilt, bevor es zu spät ist? Ein Momentum gleichsam, das auch in diesem Krieg die Wende bringen könnte?
Bei diesem Krieg geht es nicht um Frieden, sondern um die Freiheit.
Leider sehe ich wenig Anhaltspunkte dafür. Die Ukraine ist weit weg, ihre Menschen sind uns zu wenig nah. Selbst wer die Geschehnisse allabendlich im Fernsehen verfolgt: Das Ritual hat sich eingespielt, es geht uns nichts mehr an. Das Leiden bleibt abstrakt, die Toten sind fern – der Kampf ist für uns nicht nachvollziehbar. Und diejenigen unter uns, die „Frieden!“ rufen, empfinden allein schon Kriegsnachrichten als Zumutung – oder sie befürworten die Unterwerfung des Landes unter den Eroberer. Dass es bei diesem Krieg nicht um Frieden, sondern um die Freiheit geht, liegt außerhalb ihres Fassungsvermögens.
Mehr Rente, weniger Weitblick
Der Kontrast zu den tapferen Menschen in der Ukraine, vor denen wir uns nur verneigen können, könnte größer nicht sein. Woran liegt das? Ist der Mensch zum Verdrängen geschaffen? Ist die Vorstellung von der Empathie eine Mär? Was hindert uns, die Ukrainer mit allen uns möglichen Mitteln – Geld, Waffen, den notwendigsten Gütern – zu unterstützen? Im Wissen darum, dass sie ja auch für uns kämpfen? Für unsere Freiheit, für unsere Demokratien?
Was hindert uns, die Ukrainer mit allen uns möglichen Mitteln zu unterstützen?
In der Schweiz hat sich das Stimmvolk vor wenigen Wochen eine 13. Altersrente ab dem Jahr 2026 gegönnt – ganz nach dem Motto: Wenn Unternehmen (in der Covid-Pandemie) mit Milliarden unterstützt und Banken – einmal mehr – gerettet werden können, dann sind jetzt wohl wir dran.
Wie diese Rente finanziert werden soll, weiß niemand. Bekannt ist nur, dass unser Staatsbudget zielsicher in mehrjährige Defizite läuft, wobei Aufgaben, die wir zu lange vernachlässigt haben, nun dringlich und kostspielig werden, allen voran die Sicherheit. Aber auch das scheint hierzulande kaum jemanden zu kümmern.
Kenner der Materie berichten von der hochtourig produzierenden Kriegswirtschaft Russlands, von der Aufrüstung sowie von der wirtschaftlichen Abkapselung Chinas, von der Innovationslust des nordkoreanischen Machthabers Kim Jong-un ganz zu schweigen.
Die NATO arbeitet gegenwärtig mit dem Szenario, dass Putin die Beistandspflicht des Verteidigungsbündnisses zumindest testen wird und Chinas Präsident Xi Jinping die Einverleibung Taiwans noch in seiner Amtszeit vollenden will. Der Kulminationspunkt all dieser Konflikte könnte zwischen 2027 und 2033 erreicht werden.
Und wir in der Schweiz finden, es reiche, wenn die Armee in den späten 2030er-Jahren wieder verteidigungsfähig ist.
Instinkt erstickt Tugend
Wie ist das zu verstehen? Als Realitätsverweigerung? Politisches Kalkül? Als Mangel an Fantasie? Oder eher Erfahrung? In jedem Fall dürfte eine derartige Haltung ein Privileg gestandener Demokratien sein. Einmal mehr greife ich auf den französischen Republikaner Alexis de Tocqueville (1805–1859) (der übrigens nur wenige Kilometer von den Schauplätzen des D-Day zu Hause war) zurück: Ihn beschlich bereits vor 200 Jahren die Ahnung, dass Demokratien kaum mehr imstande sind, Kriege zu führen. Mehr noch: Sie würden nicht einmal mehr fähig sein, Kriege abzuwehren, selbst wenn sie auf ihrem Territorium stattfänden. Ihr gewohntes Zuhause sei den Menschen zu wertvoll, um es zu riskieren; ihren Besitz zu retten sei wichtiger als ihre Freiheit.
Demokratien scheuen Revolutionen ebenso wie Kriege.
Mit großer Klarheit prognostizierte Tocqueville den Prozess, den politische Freiheiten bei den Bürgern (auch in den USA galten damals die Bürgerrechte nur für die Männer) in Gang setzen. Es sei der Individualismus, den die Demokratie überhaupt erst hervorbringe: ein überlegter, friedlicher, aber letztlich blinder Instinkt, der die bürgerlichen Tugenden nach und nach ersticke. Die Freiheit, das Leben nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten, führe zu einem unstillbaren Drang, ein noch besseres Leben zu führen und also noch wohlhabender zu werden. In kurzsichtiger Betriebsamkeit gingen die Menschen ihren Geschäften nach, bis sie eines Tages sich selbst genügten – und dann auch daran glaubten, dass ihr Schicksal nur von ihnen allein abhänge.
Dieser Trugschluss – bis heute ein blinder Fleck bei vielen Liberalen – macht sie unerreichbar für die großen Herausforderungen der Zeit. Sie würden „unzugänglich (…) für jene großen und mächtigen öffentlichen Erregungen, die die Völker verwirren, sie aber auch vorwärtstreiben und erneuern“. Demokratien, so kam Tocqueville zum Schluss, scheuen Revolutionen – die zentrale Befürchtung damals – ebenso wie Kriege.
Ob Tocqueville ein Mittel kannte gegen diese politische Abstinenz? Keines außer der Leidenschaft für die Freiheit. Aber diese ist uns, wo wir alles und jedes sagen und tun dürfen, längst abhandengekommen.
Und so fürchte ich, dass weder die Feierlichkeiten in der Normandie noch die politischen Debatten hierzulande unser geschäftiges Wohlbefinden nachhaltig stören dürften. Bis wir eines Tages in einer neuen Welt aufwachen. Aber dann könnte es zu spät sein.