Der Sieg der Lüge

Fake News und Lügen von Politikern wären durch die Realität ganz einfach aufzudecken. Aber immer mehr Menschen dringen gar nicht mehr durch zur Realität – und genau das ist auch das Kalkül von Politikern wie Wladimir Putin oder Donald Trump.

Die Foto-Illustration zeigt ein doppelt belichtetes Bild von Donald Trump mit dem Schriftzug Fakenews. Das Bild illustriert einen Kommentar über den Sieg der Lüge in der Politik.
Bereits die erste Amtszeit von Donald Trump war von „alternativen Fakten“ geprägt, so Kolumnistin Katja Gentinetta. © Getty Images

Die Lüge gehört zur Politik; das ist nicht neu. Sie ist ein Instrument der Macht und wird als solches auch eingesetzt. Dennoch scheint der Einsatz der Lüge – gleichsam pünktlich zu diesem Jahr der Wahlen – einen neuen Höchststand zu erreichen. Die erste der großen Wahlen konnte bereits erfolgreich ins Ziel gebracht werden: Der Herrscher diesseits und jenseits des Urals wurde mit einem Rekordergebnis mehr oder minder auf Lebenszeit wiedergewählt. Jenseits des Atlantiks steht die große Wahl noch aus, ebenso wie jene in Europa.

Dass die Wahlen hüben wie drüben von sämtlichen Mitteln, die unter dem Titel der „Lüge“ eingesetzt werden können, begleitet, um nicht zu sagen: bestimmt sind, ist an sich keine Überraschung. Putins Herrschaft stellt seit Beginn ein wucherndes Konstrukt aus Lügen und Inszenierungen dar; seine Narrative bestimmen nicht nur die Wahrnehmung der russischen Bevölkerung – soweit dies überhaupt feststellbar ist –, sondern auch vieler Menschen im Westen, die ihm gütlich zuarbeiten.

Eine Welt unter Trump, Putin und Xi Jinping verheißt nichts Gutes für all jene, denen die Freiheit noch etwas wert ist.

Und bereits die erste Amtszeit von Donald Trump war von „alternativen Fakten“ geprägt, sodass man seinen neuerlichen Wahlkampf – zumal nach dem Sturm aufs Kapitol und seiner Rolle darin – am liebsten gar nicht verfolgen mag.

Stattdessen hofft man bange, dass es für ihn dieses Mal nicht reicht, denn eine Welt unter Trump II sowie den fast schon ewigen Herrschern Putin und Xi Jinping verheißt nichts Gutes für all jene, denen die Freiheit noch etwas wert ist.

Warum aber können solche Lügen eine derartige Wirkung entfalten? Im Prinzip wären sie einfach aufzudecken. Ein Blick auf die Realität reicht in der Regel aus, um zu zeigen, dass sie nichts anderes sind als Hirngespinste egomanischer Herrscher. Dennoch gelingt dies nicht – schon gar nicht unter Verweis auf ebendiese Realität. Denn diese kann sich gar nicht mehr durchsetzen, weil immer mehr Menschen nicht bis zur Realität vordringen. Stattdessen werden sie abgelenkt, fehlgeleitet und absorbiert: von wuchtigen Lügengebäude, großartigen Mythen und raffinierten Narrativen.

Im Strudel der Halbwahrheiten …

Gerade Anhänger von Verschwörungstheorien nehmen für sich in Anspruch, die philosophische Tugend der Skepsis zu pflegen. Aber tun sie das wirklich? Tatsächlich gibt es in der Philosophie eine lange Diskussion darüber, wie wir die Realität wahrnehmen und ob wir sie überhaupt in ihrer Gänze je erfassen können.

Bereits der Philosoph Platon hatte in seinem Höhlengleichnis von den Gefangenen erzählt, die nur die Schattenbilder sehen und die Höhle verlassen müssen, um die wirkliche Welt, die Ideen – also das, worum es wirklich geht – zu erkennen. Seinen Gesprächspartner Parmenides verwickelte er in einen nicht enden wollenden Dialog über seine Ideenlehre.

Das Gespräch mündet in eine heillose Verwirrung und führt schließlich zur Ausgangsfrage zurück: Können wir die Welt erkennen, wie sie ist? Oder können wir uns ihr nur über Vorstellungen annähern? Der Dialog ist allerdings keine Einladung zur Erfindung der Realität. Vielmehr geht es Platon um die Einsicht, dass auch die Skepsis ihre Grenzen hat. Nur eine gesunde Skepsis führt jedoch zur Erkenntnis; sie muss sich am Ende selbst aufheben, um zur Wahrheit vorzudringen.

Dass Anhänger von Verschwörungstheorien und anderen verschrobenen Narrativen gerade keine gesunde Skepsis pflegen, liegt auf der Hand. Sie finden ihre „Informationen“ in den weitverzweigten Kanälen der sozialen Medien und geraten immer tiefer in den Strudel der Halbwahrheiten und Lügen.

Jean Baudrillard, einer der frühen Medien- und Technikphilosophen, sprach bereits in den Siebzigerjahren davon, dass irgendwann „die Dinge ihr eigenes Spiel spielen“ und dass die verschiedenen Formen der „Simulation“, wie er die in den Medien dargestellte Realität bezeichnete, die Dichotomie zwischen Realität und Irrealität zusehends auflösen würden.

Die Menschen werden manipuliert, radikalisiert und polarisiert.

Baudrillard, der noch im Zeitalter des Fernsehens philosophierte, also lange vor dem Internet und der künstlichen Intelligenz, sprach von einer sich verbreitenden „Hyperrealität“ – einem Phänomen, das im Vergleich zum heutigen „Deep Fake“ geradezu unschuldig wirkt. Dennoch liefert Baudrillard, zusammen mit dem postmodernen „Anything goes“, bis heute die Grundmelodie für die Vorstellung, dass „jeder seine eigene Wahrheit“ haben kann.

… und im Irrgarten der Lügen

Genau darauf zielen die Mächtigen ab: Sie schaffen die Realität, die ihre Macht sichert und erweitert. Sie erfinden die Geschichten, die ihre Handlungen stützen und ihr Vorgehen legitimieren. Ihr Kalkül geht auf: Die Menschen werden manipuliert, radikalisiert und polarisiert. Sie finden sich wieder in einer Gesellschaft, die sich entlang von nicht mehr geteilten Realitäten spaltet. Die Menschen leben buchstäblich in verschiedenen Welten. Wer sich im Irrgarten der Lügen verloren hat, findet keinen Zugang zur Wirklichkeit mehr; und wer auf der Wirklichkeit beharrt, dringt zu den Verirrten nicht mehr durch.

Nun haben Lügen bekanntlich kurze Beine, und es stellt sich die Frage, auf wen sie am Ende zurückfallen. Der Herrscher im Kreml hält nach wie vor an seiner Vorstellung fest, dass die Spur des islamistischen Attentats vom März nach Kiew führt. Ob er damit sein eigenes Versagen kaschieren oder den Terror nutzen will, um den Unterdrückungsapparat noch weiter zu stärken, ist unerheblich. Gegen ihn auflehnen kann sich praktisch niemand mehr.

Ihre Wahl fällt auf die Wähler zurück

Der Amtsanwärter in den USA will – nur am ersten Tag – Diktator sein und die Grenze zu Mexiko schließen. Die Aussagen des Reality-TV-Stars schwirren geschickt zwischen einer Prise Realität und Übertreibung. Ob sich die USA noch einmal auf einen solchen Präsidenten einlassen wollen, haben die Bürgerinnen und Bürger in der Hand. Ihre Wahl fällt so oder anders auf sie zurück.

Auch in Europa stehen wichtige Wahlen bevor, und auch hier ist das Wahlvolk auf dem besten Weg, in die Falle der Spaltung zu tappen. Selbst in der Schweiz hantiert die neue Führung der nationalkonservativen Schweizerischen Volkspartei (SVP) mit „ihrer eigenen Realität“. Die Lüge hat sich in der Politik bewährt – die Hoffnung nicht. Es ist an den Wählerinnen und Wählern, der Realität den Vorzug vor der Lüge zu geben.

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