Die Neutralität bietet keinen Schutz

Europas Verteidigung basiert auf dem nuklearen Schutzschirm und massiven Truppen der USA. Mit einem Wahlsieg von Donald Trump könnte sich das ändern. In einer neuen europäischen Sicherheitsarchitektur gibt es für die Neutralität wenig Platz.

Vier Saab 105OE der österreichischen Luftwaffe fliegen bei der Airpower 2019 Flugshow in der Kaserne Fliegerhorst Hinterstoisser. Das Bild illustriert einen Kommentar über die Neutralität Österreichs.
Saab 105OE der österreichischen Luftwaffe während der Airpower 2019 Flugshow in der Kaserne Fliegerhorst Hinterstoisser am 6. September 2019 in Zeltweg. © Getty Images

Der Überfall auf die Ukraine am 24. Februar 2022 änderte schlagartig die gesamte europäische Sicherheitsstrategie. Es zeigte sich nämlich: Der Kreml ist bereit, sämtliche vertraglichen Verpflichtungen – vom Budapester Memorandum bis zur Pariser Konferenz – zu brechen, um seine Einflusszone auszuweiten und eine Erweiterung der NATO zu verhindern. Alle Wunschszenarien einer gemeinsamen Wirtschaftszone von Lissabon bis Wladiwostok sind seither Makulatur.

Finnland und Schweden haben sofort ihre Bündnisfreiheit aufgegeben und sich für einen NATO-Beitritt entschieden. Von den 27 EU-Mitgliedern sind daher nur noch Irland, Malta, Zypern und Österreich neutral. Auch Irland diskutiert intensiv. Außenminister Micheál Martin: „Ireland must have an open and honest debate on its longstanding military neutrality and the possibility to join NATO“ (Financial Times). Auch die Schweiz überlegt, ob nicht statt Neutralität besser Bündnisfreiheit geeignet wäre, in einem Aggressionskrieg Schweizer Interessen zu sichern.

Für uns Österreicher hat sich eine ähnliche Situation Ende der 1990er-Jahre ergeben. Die Kämpfe um Bosnien endeten erst 1995 mit der Dayton-Vereinbarung, der Kosovokrieg mit der Bombardierung Belgrads 1999. Alle unsere östlichen Nachbarn hatten die NATO-Mitgliedschaft beantragt und in diesem Jahr bekommen. Das war das geopolitische Umfeld, in dem ich als Vizekanzler und Außenminister mit Kanzler Viktor Klima eine neue Sicherheitsdoktrin in Form eines „Optionenberichtes“ erarbeitete. Erstmals sollte formuliert werden, „eine NATO-Mitgliedschaft zu prüfen“ – das wurde allerdings im allerletzten Moment verhindert. 

Von Eurofightern zu Sky Shield

Auch die 2002 erfolgte Beschaffung der Eurofighter zur wirksamen Überwachung des österreichischen Luftraums ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Dieses gemeinsame europäische Projekt überzeugte mich. Daraus könnte sich ein gemeinsamer Schutz des regionalen Luftraums über die nationalen Grenzen hinweg ergeben, was bei der territorialen Begrenzung unserer Länder und den limitierten finanziellen Ressourcen durchaus Sinn machen würde. Die 2023 beschlossene Beteiligung Österreichs am Sky Shield zur Abwehr feindlicher Raketen ist ein guter und wichtiger Schritt in eine solche Kooperation.

Bisher waren der nukleare Schutzschirm der USA und ihre militärische Präsenz in Europa die Voraussetzung dafür, dass unsere Länder jahrzehntelang eine Friedensdividende ohnegleichen genießen durften. Immerhin sind zurzeit 100.000 US-Soldaten auf unserem Kontinent stationiert, davon 35.000 in Deutschland. 

Mit einem Wahlsieg Donald Trumps könnte sich auch hier die Situation für Europa drastisch verändern. Einige seiner ehemaligen Berater beschrieben, wie sie ihn in seiner Amtszeit nur mit Mühe von einem NATO-Austritt abhalten konnten. Auf seiner Wahlkampf-Homepage heißt es: „Wir müssen den Prozess zu Ende bringen, den wir unter meiner Präsidentschaft begonnen haben, Zweck und Mission der NATO fundamental zu überprüfen.“ 

Bisher ist klar: Die europäische Armee ist die NATO (© Martin Selmayr). Wenn die USA sich jedoch zurückziehen, muss dies neu gedacht werden. Für Neutralität ist da wenig Platz. Im Ausland wird sie ohnedies zunehmend kritisch gesehen. Der Economist urteilt recht harsch: „Jedes Land, das sich in dieser Frage (Ukraine-Krieg; Anm. d. Red.) neutral erklärt, bekundet damit, dass ihm seine eigene Sicherheit nicht sonderlich am Herzen liegt. (…) Nichtneutrale ärgert das. Denn ihre Kanonen verteidigen stillschweigend auch Länder wie Österreich, die sich noch mehr Butter aufs Brot streichen wollen und obendrein mit ihren Tugenden prahlen.“

Vor wenigen Jahren hatten die Ukraine und Moldau ihre Neutralität verankert. Geholfen hat ihnen das keineswegs.

Das schmerzt – aber stimmt es auch? Österreich hilft der Ukraine politisch, humanitär, wirtschaftlich und trägt solidarisch alle Sanktionen gegen Russland mit. Militärtransporte können aufgrund eines EU-Mandats, das kurz nach dem russischen Überfall einstimmig angenommen wurde, Österreich durchqueren. Steht all dem nicht unsere Neutralität im Wege?, fragen sich manche. 

Neutralität bietet keinen Schutz

Wir haben mit dem EU-Beitritt 1995 die Verpflichtung übernommen, an der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) mitzuwirken. Mit dem Vertrag von Lissabon (in Kraft seit 2009) wurde eine wechselseitige Beistandsverpflichtung bei einem bewaffneten Angriff auf ein Mitgliedsland vereinbart. Wir haben dem schon 1997 in einer Novelle der Bundesverfassung Rechnung getragen. Einfach gesagt: Bei jedem EU-Beschluss (wie auch bei einem UNO- oder OSZE-Mandat) gilt die Neutralität nicht mehr.

Die Neutralität an sich bietet ja auch keinen Schutz, das hat Belgien im Zweiten Weltkrieg erfahren. Noch vor wenigen Jahren hatten die Ukraine und Moldau ihre Neutralität in ihren Verfassungen verankert. Geholfen hat ihnen das keineswegs. Auch der Neutrale muss zuallererst sich selbst schützen. Gemeinsam ist es allerdings wirksamer und günstiger. Zum Vergleich einige Zahlen: Die Schweiz gibt 6 Mrd. Franken für Landesverteidigung aus, Finnland 6 Mrd. Euro und 2 % vom BIP, Schweden 8,4 Mrd. (1,3 %), Österreich unter 1 %.

Doppelte Herausforderung

Wie also umgehen mit der doppelten Herausforderung – russische Drohungen gegen die Ukraine, Moldau, das Baltikum, Georgien auf der einen Seite, der mögliche Rückzug der USA aus Europa mit Konzentration auf den pazifischen Raum andererseits? Die Antwort kann nur in einer glaubwürdigen und bleibenden Aufstockung und Verbesserung unserer eigenen Verteidigungsfähigkeit liegen, einer engen Kooperation mit EU-Partnern und Synergien in der Zusammenarbeit mit der NATO im Rahmen der „Partnership for Peace“. Auf europäischer Ebene muss aber auch eine offene Debatte geführt werden, wie sich die EU notfalls allein schützen kann.

Der österreichische Beitrag im Fall eines Angriffs auf ein Mitglied (Art. 42/7 des EU-Vertrags) ist gut vorzubereiten und muss innenpolitisch genauso außer Streit stehen wie das Prinzip, dass Österreich bei jeder weiteren Entwicklung zur politischen Union im Kernbereich dabei sein sollte.

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