Der Feind hört mit
Die Abhöraffäre um die Taurus-Marschflugkörper verdeutlicht, dass nicht einmal die Generalität der deutschen Bundeswehr verinnerlicht hat, wie ernst die Bedrohung der nationalen Sicherheit Deutschlands ist.
Schlampig, leichtsinnig, verlogen. Das sind nicht gerade Adjektive, die man gemeinhin mit Deutschland in Verbindung bringen würde. Und doch beschreiben sie eine Abhöraffäre, die gerade die deutsche Politik und Deutschlands Verbündete erschüttert. Der Skandal offenbart eine verblüffende Ignoranz hoher Militärs gegenüber grundlegenden Sicherheitsvorkehrungen und entlarvt die vorgeschobene Argumentation von Kanzler Olaf Scholz gegen die Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine.
Mehr von Thomas Eppinger
Die Affäre fügt dem deutschen Drama eine Schlüsselszene hinzu. Holt man deren wichtigsten Akteure vor den Vorhang, bietet sich ein erschreckendes Bild.
Die Offiziere
Brigadegeneral Frank Gräfe und sein Vorgesetzter, der Chef der deutschen Luftwaffe Ingo Gerhartz, besprechen am 19. Februar mit zwei weiteren Offizieren ein Briefing für Verteidigungsminister Boris Pistorius über den möglichen Einsatz von Taurus in der Ukraine. Gräfe ist gerade auf einer internationalen Rüstungsmesse in Singapur. In die Videokonferenz wählt er sich von seinem Hotelzimmer über ein Mobiltelefon ein. Er schwärmt vom großartigen Ausblick.
Keinem der Teilnehmer kommt der naheliegende Gedanke, dass Hotels rund um eine Rüstungsmesse mit hochrangigen Besuchern aus aller Welt ein natürliches Ziel sämtlicher Geheimdienste sind. Man gönnt dem Kollegen die Aussicht, statt ihm eine sichere Leitung in der deutschen Botschaft nahezulegen.
Das Gespräch selbst ist entgegen der oft skandalisierenden Berichterstattung keineswegs außergewöhnlich. Die Militärs unterhalten sich ruhig und routiniert in amikaler Atmosphäre. Szenarien von Einsatzmöglichkeiten für die Taurus-Marschflugkörper werden besprochen, Ausbildungsbedarf und -dauer für ukrainische Kräfte, allfällige Kooperationsmöglichkeiten mit britischen Kollegen und wie man den erwarteten politischen Hürden begegnen könne. Seine Bedeutung erlangt die Konferenz ausschließlich dadurch, dass sie vom russischen Geheimdienst aufgezeichnet und veröffentlicht wird.
Margarita Simonowna Simonjan
Die russische Journalistin ist Chefredakteurin des russischen Propagandamediums Russia Today. Als zentrale Figur der russischen Agitation steht sie seit Februar vorigen Jahres auf der Sanktionsliste der Europäischen Union.
Am 1. März veröffentlicht sie das Gespräch auf ihrem Telegram-Kanal, zuerst als Abschrift in russischer Sprache, danach den 38-minütigen Original-Mitschnitt (hier auf YouTube). Dass dies in enger Abstimmung mit dem Kreml erfolgt, liegt auf der Hand.
Wladimir Putin
Dem russischen Staatschef gelingt mit der Veröffentlichung ein formidabler Coup im hybriden Krieg gegen den Westen. Die Konferenz verdrängt das Begräbnis Nawalnys aus den Nachrichten und lenkt davon ab, dass der Kreml dem flüchtigen Wirecard Manager Jan Marsalek, der offenbar von Österreich aus für Russland spioniert hat, Unterschlupf gewährt. Die deutsche Bundeswehr ist vorgeführt, Spitzenmilitärs sind diskreditiert und Pistorius steht vor einem Dilemma: Die Entlassung der Offiziere würde die Luftwaffe signifikant schwächen, insbesondere Gerhartz gilt als Hoffnungsträger der Luftwaffe und genießt hohes Ansehen.
Putin hat ein rein utilitaristisches Verhältnis zu Fakten: wahr ist, was ihm nützt.
Vor allem aber: Der Welt wird einmal mehr vorgeführt, dass die Deutschen keine „verlässlichen Gefährten auf den Wegen Europas“ sind, wie Herfried Münkler formuliert: wie sich deutsche Offiziere über militärisches Personal aus Großbritannien und den USA in der Ukraine unterhalten, mag man weder in London noch in Washington in der Zeitung lesen. Und Dank der russlandtreuen Fake-News-Schleudern von rechts und links wird die Lieferung von Taurus politisch noch schwieriger durchzusetzen.
Putins information warfare zielt auf die Spaltung und Destabilisierung der NATO. Mit der Veröffentlichung der Konferenz traf er mitten ins Schwarze.
Olaf Scholz
Des Kanzlers wichtigstes Argument, ein Einsatz von Taurus-Marschflugkörpern sei ohne deutsche Beteiligung nicht möglich, wird durch die Generäle faktisch widerlegt. Deutschland könnte Taurus liefern, von bis zu 100 Marschflugkörpern in zwei Tranchen ist die Rede, und die Ukrainer könnten das System auch ohne deutsche Beteiligung einsetzen. Nach Einschätzung der Offiziere könnte man die Ukraine innerhalb weniger Monate befähigen, das System für komplexe Ziele wie die Kertsch-Brücke, den wichtigsten Nachschubweg Russlands auf die Krim, mit eigenem Personal zu bedienen. Für einfachere Ziele wie Munitionsdepots würde die Einschulung gerade einmal sieben Wochen dauern.
Die Besprechung legt offen, dass der deutsche Kanzler die Sachlage der Öffentlichkeit gegenüber wissentlich falsch darstellt. Die Personen, die den Kanzler (ungewollt) widerlegen, sind schließlich dieselben, die ihn beraten. Sicher, ein einziges Waffensystem entscheidet keinen Krieg. Aber Taurus-Marschflugkörper würden die Ukraine in die Lage versetzen, die Kertsch-Brücke zu zerstören. Ohne diese Verbindung wäre die Krim von Russland auf Sicht gesehen nicht zu halten.
Der Verdacht drängt sich auf, Scholz könnte die Wiederherstellung der nationalen Souveränität der Ukraine absichtlich hintertreiben.
Stellt sich die Frage, ob der Kanzler das überhaupt will. Olaf Scholz führt eine Scheindebatte um den Status als Kriegspartei, obwohl Putin Deutschland längst als Gegner sieht. Völker- und Menschenrecht haben für den ehemaligen KGB-Offizier noch nie eine Rolle gespielt, sein Verhältnis zu Fakten ist ein rein utilitaristisches: wahr ist, was ihm nützt.
Dennoch traut Olaf Scholz der Ukraine nicht über den Weg und hält sich eine Hintertür zu Putin offen. Die angeblich enge Abstimmung mit den USA klingt immer mehr nach einem Vorwand, um die Ukraine hinzuhalten. Was immer man liefert, es kommt zu wenig und zu spät, um der Ukraine einen kriegsentscheidenden Vorteil zu verschaffen. Dass Deutschland mittlerweile in absoluten Zahlen der größte Unterstützer der Ukraine ist, konterkariert Scholz durch sein Zaudern und Zögern. Wenn es sich denn überhaupt um solches handelt. Der Verdacht drängt sich auf, Scholz könnte die Wiederherstellung der nationalen Souveränität der Ukraine absichtlich hintertreiben.
Epilog
Der Skandal reiht sich nahtlos ein in eine Serie von Pleiten, Pech und Pannen, die tief im Zeitgeist verwurzelt ist, der seit Jahren durch Deutschland weht. Die „naturverbundene Klimakleber-Attitüde, diese esoterische Fortschrittspanik, dieses pazifistische Weltunverständnis lassen die Deutschen vor dem Rest der Welt natürlich wie rückständige Idioten aussehen“. Als Mirna Funk diesen Satz für die Cover-Story des aktuellen Pragmaticus schrieb, konnte sie noch nicht ahnen, wie schnell ihn höchste Militärs bestätigen würden. Für die Sicherheit Europas verheißt das nichts Gutes.
Dass einer Umfrage in derselben Ausgabe zufolge, die vor der Affäre durchgeführt worden ist, 46 Prozent der Österreicher der Ansicht sind, die Landesverteidigung funktioniere in Deutschland besser als hierzulande, ist auch nicht gerade beruhigend. Sie könnten nämlich recht haben.