Eine gefährliche Mischung

Demokratie, Freiheit, Sicherheit, Wohlstand – diese Errungenschaften des Westens sind manchen Ideologen egal. Das müssen wir wohl hinnehmen. Nun aber könnten sie als Putins nützliche Idioten den Kriegsverlauf in der Ukraine beeinflussen.

Teilnehmer einer Kundgebung für Frieden und gegen den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine stehen auf dem Alten Markt und halten ein Plakat mit der Aufschrift "Rettet die Demokratie Ukraine".
Wie lange der russische Krieg noch dauert – und vor allem, wie er ausgeht –, hängt auch vom Westen ab, schreibt Kolumnistin Katja Gentinetta. © Getty Images

Zwei Jahre führt Russland nun schon Krieg – gegen die Ukraine, gegen den Westen. Zwei Jahre, in denen wir Unversehrte uns fast schon daran gewöhnt haben. Nachdem wir zunächst die Anfänge der ukrainischen Frühjahrsoffensive hoffnungsvoll verfolgten, finden wir uns inzwischen damit ab, dass sie, wie viele Kommentatoren meinen, gescheitert ist.

Außerdem hat sich seit dem brutalen Überfall der Hamas auf Israel unsere Aufmerksamkeit ohnehin in den Nahen Osten verschoben. Und mit Blick auf die Wahlen in den USA und bloß schon dem Gedanken daran, dass Donald Trump abermals Präsident werden könnte, haben wir geistig den Weg in den Fatalismus bereits eingeschlagen: Es ist gelaufen – für uns in Europa, für den Westen schlechthin. Die guten Zeiten sind vorbei, wir haben sie genossen, rette sich, wer kann. 

So in etwa ließe sich der gegenwärtige Gemütszustand in einer wohlstandsverwöhnten Gesellschaft, die das Kämpfen verlernt hat, zu Beginn dieses Jahres beschreiben. Wer sich diesem Defätismus jedoch nicht hingeben will, sondern auch in Zukunft in einer liberalen Demokratie leben möchte, fürchtet den schleichenden Sieg der Putin-Versteher, die für den Verlauf des Kriegs eine nicht zu unterschätzende Rolle spielen: diese gefährliche Mischung aus alten Linken, strammen Rechten, verschrobenen Verschwörungstheoretikern und wendigen Opportunisten.

Von ihnen sind die Opportunisten die geringste Überraschung. Wendehälse standen und stehen in Umbruchphasen immer bereit und bieten sich frühzeitig als verlässliche Stellvertreter der potenziellen Sieger an. Das war am Ende des Ancien Régime so, zur Zeit der Nationalsozialisten und zeichnet sich auch jetzt ab: Parteien, Parteiexponenten und andere Anwärter auf die neue Elite, die sich von Putin alimentieren lassen und in dessen Strategie der Destabilisierung Europas die Rolle williger Helfer übernehmen.

In den Fängen der Falschinformation

Auch Anhänger von Verschwörungstheorien nehmen wir inzwischen als gegeben hin. Zu Beginn der Corona-Pandemie bereiteten sie uns noch erhebliches Kopfzerbrechen; inzwischen aber wissen wir in etwa, welche Gefühlsverfassungen dazu führen, dass Menschen krudesten Geschichten Glauben schenken. Allerdings ist der schieren Menge jener, die Putins Krieg immer noch mit einer NATO-Osterweiterung und anderen russischen Mythen erklären wollen, in einer offenen Gesellschaft fast nicht mehr beizukommen.

Am meisten beunruhigen mich die Ideologen rechts wie links, die unsere freiheitlichen Errungenschaften in Frage stellen.

Wie lässt sich eine systematisch angelegte Desinformationskampagne, wie sie der russische Chefideologe Alexander Dugin bereits 1997 für Russland vorschlug, bekämpfen, wenn Vernunft zusehends auf taube Ohren stößt? Die Strategie hat eine beängstigende Menge von „nützlichen Idioten“ hervorgebracht, die, wie es scheint, aus den Fängen der Falschinformationen kaum mehr zu befreien sind.

Am meisten beunruhigen mich hingegen die Ideologen rechts wie links, die unsere freiheitlichen Errungenschaften in Frage stellen und sie angesichts der autoritären Verlockungen preisgeben. Zu diesem irritierenden Kunterbunt gehören antiamerikanische und antikapitalistische Pazifisten ebenso wie russophile Ewigmarxisten, aber auch autoritäre Antidemokraten, elitäre Konservative und identitäre Konservative – kurz: Utopisten und Revisionisten, die alle irgendwie glauben, dass es eine andere, bessere Welt geben kann, eine, die wir noch nicht kennen, oder eine, wie sie einmal war und die ihre gute Ordnung hatte.

Immer wieder frage ich mich, wie es so weit kommen konnte – wie es möglich ist, dass man die Freiheit, die wir genießen, aufs Spiel zu setzen bereit ist; dass man die Mitbestimmung, die wir in Demokratien haben, für wertlos hält; dass man den Wohlstand, den wir erreicht haben, als gegeben annimmt.

In der Konsequenz nämlich müsste man auf all das verzichten, wenn man wirklich den Weg der sozialistischen „Gleichheit“, dieses großen alten Versprechens, das bisher nie eingelöst werden konnte, gehen oder eine wie auch immer geartete „natürliche Ordnung“ entlang der Rassen, Kulturen oder Werte wiederherstellen will. Immerhin täuscht der Kreml kein Gleichheitsregime vor. Seine Ordnung hingegen setzt er mit aller Härte durch – und gibt sich nur wenig Mühe, sie als rechtsstaatliche Demokratie zu tarnen.

Der Prophet, der doch recht hatte

Niemand anderer als Francis Fukuyama, der sich immer noch und seit Russlands Überfall auf die Ukraine erst recht den Vorwurf anhören muss, mit seiner Prognose vom „Ende der Geschichte“ komplett danebengelegen zu haben, sagte genau diese Entwicklung voraus. Selbst wenn liberale Demokratien alles würden bieten können, was den Menschen das Leben erleichtert und verschönert – die Freiheit, zu wählen, das Recht, sich als demokratische Bürgerin einzubringen, die Möglichkeit, sich angesichts des Wohlstands und der Fülle des Angebots sämtliche Wünsche zu erfüllen –, werde es Menschen geben, denen genau das missfällt. Menschen, die in dieser um sich greifenden Selbstzufriedenheit vor allem eines vermissen: den Kampf.

Den Kampf um Werte, den Kampf um Anerkennung, den Kampf um die eigene Existenz. Wie bereits Alexis de Tocqueville sah auch Francis Fukuyama die Zeit kommen, in der das Versprechen der Gleichheit der Menschen und ihrer Werte eingeholt werden würde vom Wunsch des Menschen nach Abgrenzung, nach Definition, nach Differenz. Die größte Gefahr der Demokratie werde, so Fukuyama, ihre eigene Verwirrung darüber sein, was wirklich auf dem Spiel steht.

Die größte Gefahr der Demokratie

Mir scheint, als seien wir heute an diesem Punkt. Denn wie lange der russische Krieg noch dauert – und vor allem, wie er ausgeht –, hängt auch von uns ab: dem Westen. 

Wer, wie ein britischer Militärexperte (im Magazin Foreign Affairs) schreibt, an einen bereits verlorenen Stellungskrieg glaubt, gibt nicht nur die Ukraine auf, sondern auch uns selbst: den Westen, der seine Werte glaubwürdig vertritt. Wer hingegen – wie auch Russland es für sich tut – dieses Jahr nutzt, um die ukrainischen Streitkräfte auszustatten und auszubilden, gibt dem Land, das für sich den Weg der Demokratie und Freiheit gewählt hat, eine echte Chance. Denn zum Kämpfen sind die Ukrainer bereit. – Warum zögern wir? Dazu in meinem nächsten Grenzgang.

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