Sky Shield und Neutralität
Österreich lässt keine Möglichkeit aus, um über seine Neutralität zu sprechen. Der neueste Stein des Anstoßes ist der Beitritt zur „European Sky Shield Initiative“: Wie eigenständig kann, darf, ja muss Österreich seinen Luftraum verteidigen?

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Drohnen, Kampfjets, Raketen. Seit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine sind militärische Vokabeln Teil der Alltagssprache geworden. Nicht wenige fragen sich, wie es um Österreichs Verteidigungsfähigkeit bestellt ist.
Zur Erinnerung: Noch 2019 sprach der damalige Verteidigungsminister Thomas Starlinger im „Unser Heer 2030“-Bericht davon, dass der Schutz der österreichischen Bevölkerung „nur mehr sehr eingeschränkt gewährleistet werden“ könne. „Ganz Österreich muss sich daher die Frage stellen: Wie viel ist uns unsere Sicherheit wert?“
Wenn Bundeskanzler Nehammer oder Verteidigungsministerin Tanner nun, gute vier Jahre später, auf die geänderte Sicherheitslage verweisen, ist das zwar ein Anlass, aber gewiss nicht der einzige Auslöser für die Beteiligung an Sky Shield – eine Initiative zum Aufbau eines bodengestützten Luftverteidigungssystems. Das Problem ist schließlich altbekannt. Der eben erwähnte Zustandsbericht nannte „erhebliche politische und militärische Risiken“, unter anderem die „Nichterfüllung der verfassungsmäßig festgeschriebenen Neutralitätsverpflichtungen – auch durch mangelnde Befähigung zur Sicherung des österreichischen Luftraumes.“
Neutralität und Luftraum
Das Staatsgebiet hat schließlich auch eine vertikale Dimension. Hier geht es nicht um einige wenige Kilometer, sondern vielmehr um gute hundert. Oder, wer es genau wissen will: Österreichs obere Staatsgrenze reicht bis zu jener „Höhe, in der sich Luftfahrzeuge nicht mehr aufgrund des aerodynamischen Auftriebs, sondern nur aufgrund der Keplerschen Kraft zu bewegen vermögen.“
Die 1955 erklärte Neutralität ist militärischer Natur – Österreich muss sie „mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrechterhalten und verteidigen“, wie es im Neutralitätsgesetz heißt. Gerade als Binnenland inmitten Europas – beziehungsweise, anno dazumal, zwischen dem Westen und dem Ostblock – sollte Österreich weder als potentielles militärisches Transitgebiet noch als eine Art „Leo“ für einen der beiden Machtblöcke dienen.
Unsere neutrale Insel der Schmarotzer
Eine unbewaffnete Neutralität (wie Costa Rica, siehe dazu bereits Artikel 12 seiner Verfassung von 1949 und die Neutralitätserklärung von 1983) oder auch schlecht bewaffnete Neutralität hätte das nicht gewährleistet. Historisches Vorbild war bekanntlich die Schweiz, die schon seit dem 19. Jahrhundert nicht zwischen den europäischen Großmächten zerrieben werden wollte. Es sei dabei nicht unerwähnt, dass sie seit jeher über eine wesentlich schlagkräftigere Armee verfügt als Österreich.
Und heute?
Neutralität bedeutet also nicht nur Rechte (das Recht, während Kriegen in Ruhe gelassen zu werden), sondern auch Pflichten: Sofern Österreich seinen Luftraum bzw. allgemein sein Staatsgebiet nicht ausreichend schützt, kann es auch dann zum Kriegsschauplatz werden, wenn es sich, ganz neutral, „heraushält“.
Plastisch ausgedrückt: Wenn fremde Streitkräfte österreichisches Staatsgebiet für den „Transitflug“ von Raketen, Drohnen und was es da oben sonst noch alles gibt zweckentfremden können, werden andere Länder nicht zuwarten, bis diese auf ihrem eigenen Territorium eintreffen. Sie werden sie oft bereits auf österreichischem Boden abschießen. Neutralität hin oder her.
Nicht fähig oder nicht willens
Das ist keine neue Erkenntnis. Zum einen hat man bereits bei Ausbruch des Ersten Weltkriegs gesehen, wie ein neutrales Land (Belgien) gegen seinen Willen hineingezogen wurde. In der jüngeren Vergangenheit ist mit den Anschlägen vom 11. September außerdem eine weitere, artverwandte Debatte aufgekommen: Die Frage, ob das Selbstverteidigungsrecht auch gegen Länder zusteht, die zwar nicht selbst Angriffe ausführen, aber Terroristen und andere nichtstaatliche Gruppen auf ihrem Gebiet operieren lassen oder nicht dazu in der Lage sind, selbst entschieden gegen sie vorzugehen.
Anwendungsfälle waren der Zweite Kongokrieg (aufgrund der Angriffe der „Allied Democratic Forces“ –Rebellen, die von der Demokratischen Republik Kongo aus Ziele in Uganda angriffen) oder der Konflikt in Syrien (aufgrund des Vordringens des „Islamischen Staats“ in den Irak).
Wenn Österreich seinen Luftraum nicht schützt, bringt es nicht nur sich, sondern auch andere in Gefahr.
Heute hat sich die Rechtsmeinung durchgesetzt, dass das Selbstverteidigungsrecht jedenfalls gegen staatsähnliche Gruppen zusteht, also jene, die ein gewisses Maß an Kontrolle über Gebiete und die dort befindlichen Menschen ausüben – ungeachtet dessen, ob der Staat, auf dessen Gebiet diese Gruppen operieren, seine Zustimmung erteilt.
Von Terror zum Luftraum
Das lässt sich analog auch auf die Verteidigung des Luftraums anwenden. Wenn Österreich diesen nicht selbst schützen kann oder will, bringt es nicht nur sich, sondern auch andere in Gefahr. Und im Falle eines Falles wird kein anderes Land darauf warten, bis eine Rakete österreichisches Gebiet verlassen hat. Die Wahrung der Souveränität durch andere verlangt, dass man sie selbst ausreichend verteidigt.
Mit der Sky Shield-Initiative will Österreich genau das: Mit ihr wird „ein satellitengestützter Schutzschirm über die teilnehmenden Länder gelegt, der Drohnen und Raketen frühzeitig erkennen und abwehren kann“. Eine radikal neutrale, also vollkommen eigenständige Luftverteidigung, stößt im Falle Österreichs – wie auch bei der Schweiz, die ebenfalls eine Absichtserklärung für Sky Shield unterzeichnet hat – alleine aufgrund der geografischen Lage und Beschaffenheit an ihre Grenzen. „Sky Shield“ ist also der Rahmen, um mit anderen Ländern weiter und besser zu kooperieren, Informationen auszutauschen oder Systeme zu beschaffen, die miteinander kompatibel sind (hierher rührt die Bezeichnung von der „Einkaufsplattform“).
Neutrale Grenzen
Das ist freilich nicht der Endpunkt. Wohin sich der European Sky Shield entwickelt, lässt sich derzeit nicht sagen. Fest steht, dass die Stationierung fremder Abwehrsysteme auf österreichischem Gebiet dem Wortlaut des Neutralitätsgesetzes widersprechen würde. Dasselbe gilt für das Auslagern der Entscheidung über den Abschuss im Luftraum an eine gemeinsame, übergeordnete Kommandostruktur und damit an ein „Militärbündnis“. Von dem, so viel sei am Rande vermerkt, keiner so genau weiß, was darunter fällt. Historischer Kontext für seine Nennung im Neutralitätsgesetz waren jedenfalls die NATO und der Warschauer Pakt.
Das sind derzeit allerdings theoretische Überlegungen. Im Moment stehen andere und ungleich konkretere Dinge im Vordergrund: Die schnellstmögliche und zugleich effektive Sicherung des Luftraums. Nicht trotz, sondern wegen der Neutralität.
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