Österreichs Neutralitäts-Pazifismus
Österreich hat sich völker- und verfassungsrechtlich dazu verpflichtet, seine Neutralität mit allen gebotenen Mitteln zu verteidigen. Allerdings gibt es wenig Bereitschaft zum Einsatz mit der Waffe. Unsere Neutralität ist pazifistischer als wir zugeben wollen.
Neutralität hat viele Spielarten: Sie kann wirtschaftlich oder ideologisch, bewaffnet oder unbewaffnet sein, dauerhaft („immerwährend“) oder nur in einzelnen Kriegen („ad hoc“) gelten.
Mehr von Ralph Janik
Österreich hat sich ursprünglich einer strikten, aber keiner absoluten Neutralität („Neutralismus“) verschrieben: Als demokratisches und einigermaßen marktwirtschaftliches Land war es dem Westen näher als dem „Ostblock“. So hat man es sich schon beim ungarischen Volksaufstand 1956 nicht nehmen lassen, Kritik an der Sowjetunion zu üben. Neutralität verlangt keine Passivität, ganz im Gegenteil: Gerade neutrale Staaten haben eine wichtige – weil unbeteiligte und objektive – Stimme.
Österreich ist zu bewaffneter Neutralität verpflichtet
Der wesentliche Aspekt der immerwährenden Neutralität war aber weniger politisch und wirtschaftlich, sondern militärisch: Sie sollte „bewaffnet“ sein, Österreich ist „entschlossen“, sie „mit allen ihm zu Gebote stehenden Mitteln aufrecht zu erhalten und zu verteidigen“, wie es im Neutralitätsgesetz 1955 heißt. Österreich hat das auch nach außen kommuniziert und hat sich damit völkerrechtlich dazu verpflichtet, eigenständig für seine eigene Sicherheit sorgen zu können.
Vorbild war bekanntlich die Schweiz, die zur Verteidigung ihres Territoriums schon knapp vor Ende des Dreißigjährigen Krieges ein 30.000 Mann starkes Heer aufgebaut hatte. Vielen gilt das als Ursprung der modernen Neutralität. Sie war ihrem Wesen nach also schon immer an eine eigene und schlagkräftige Armee gekoppelt.
Österreichischer Pazifismus
In der Praxis sah es freilich anders aus. Zwar löste die Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands den ersten Einsatz des damals gerade erst neu aufgestellten Bundesheeres aus. Ob Österreich während des Kalten Krieges aber wirklich verteidigungsfähig war, darf mehr als bezweifelt werden. Das gilt auch für die vielgerühmte „Spannocchi-Doktrin“ (benannt nach dem früheren Armeekommandanten Emil Spannocchi), bei der die offene Konfrontation auf dem Schlachtfeld vermieden werden soll und Invasoren stattdessen durch die Aussicht auf ständige Angriffe in Flanken und Rücken von vorneherein abgehalten werden, durch Österreich durchmarschieren zu wollen („hoher Eintritts-, Durchmarsch- und Aufenthaltspreis“): Die „Leidens“- und „Verteidigungsbereitschaft“ der Gesellschaft dürfte auch damals eher gering gewesen sein.
„Ausgehöhlte“ Neutralität
Österreichs Neutralität ist heute freilich eine andere als 1955: Zum Zeitpunkt des EU-Beitritts bestand die 1993 eingerichtete Gemeinsame Außen-und Sicherheitspolitik (GASP) bereits, sie reicht bis ins Jahr 1970 (den Davignon-Bericht) zurück. Die EU ist schon lange kein rein-wirtschaftliches Bündnis mehr, streng genommen war sie es nie. Heute ist sie ein Verteidigungsbündnis (das auch Österreich schützt, während es als neutrales Land geringere Pflichten hat als der Rest), die auch einen gemeinsamen „strategischen Kompass“ und auch militärische Strukturen hat. Österreich sitzt hier nicht am Rand, ganz im Gegenteil, ein Österreicher – Robert Brieger – ist sogar Vorsitzender des Militärausschusses der Europäischen Union.
Weniger wertfrei lässt sich sagen, dass Österreich mit dem EU-Beitritt und auch später seine Neutralität auch eingeschränkt hat.
Derlei Veränderungen in Sachen Neutralität sind auch der Bevölkerung aufgefallen: Gut die Hälfte stimmte in einer Pragmaticus-Umfrage der Aussage zu, dass Österreich „eigentlich nicht mehr neutral“, die Neutralität also „ausgehöhlt“ sei. Damit haben sie nicht Unrecht. Die Frage ist, wie man dazu steht. Nicht, ob es so ist.
Weniger wertfrei lässt sich sagen, dass Österreich mit dem EU-Beitritt und auch später seine Neutralität wirklich verändert, adaptiert und ja, auch eingeschränkt hat. Aber das kam nicht von außen, sondern unter Beteiligung der damaligen Regierungen: Österreich hat sich als EU-Mitglied sowohl beim Vertrag von Amsterdam (1997) als auch von Nizza (2001) „für eine weitere Stärkung der GASP“ eingesetzt, wie es im Expertenentwurf der (ersten) österreichischen Sicherheitsdoktrin aus dem Jahr 2001 hieß: „Die dauernde Neutralität ist für Österreich im EU-Kontext nicht mehr relevant“, lesen wir darin.
Ganz so ist es nicht, wie der Umgang mit Russlands Krieg gegen Ukraine zeigt: Österreich hat nicht einmal ansatzweise daran gedacht, Waffen zu liefern oder ukrainische Soldaten auszubilden, selbst bei zumindest teilweise zivilen Tätigkeiten wie der Entminung nicht (im Gegensatz zum ebenfalls neutralen Irland). Österreichs Unterstützung für die Ukraine ist finanzieller und humanitärer Natur. Insgesamt tut es aber eher wenig (siehe dazu den Ukraine Support Tracker).
Pazifismus der Marke Österreich
An der Neutralität rütteln will freilich niemand, ganz im Gegenteil. Gerade die FPÖ, aber auch die SPÖ, hat das Thema für sich entdeckt. Man könnte sich theoretisch, wie von ihnen gefordert, auf die „traditionelle“ Neutralität zurückbesinnen, also aus Kooperationen aller Art auszusteigen und auch offen zu sagen, dass es nicht von der EU-Beistandspflicht profitieren möchte: Grundvoraussetzung wäre, sich so weit wie möglich selbst und eigenständig verteidigen zu können und zu wollen (inklusive den damit verbundenen Kosten).
Das darf bezweifelt werden. In der Pragmaticus-Umfrage gaben lediglich 16 % an, Österreich „auf jeden Fall“ mit einer Waffe gegen militärische Angriffe zu verteidigen. Bei der dafür relevantesten Bevölkerungsgruppe – Männer zwischen 18 und 55 Jahren – liegt der Wert höher (26,6 %, dazu 19,7 % „eher ja“-Antworten), aber immer noch unter der Hälfte.
Mit Kriegslust haben Österreich und Europa bekanntlich besonders schlechte Erfahrungen gemacht.
Auch wenn nicht klar ist, wie viele sich im Falle eines Angriffs wirklich verhalten würden, ist die Tendenz eindeutig: Österreich gehört, wie so zirka alle Länder mit hohem Wohlstandsniveau, zu den „postheroischen Gesellschaften“ des Westens: Ruhm und Ehre bekommt man durch alles Mögliche, aber der Tod am Schlachtfeld gehört für die meisten nicht dazu.
Das ist für sich genommen zu begrüßen. Mit Kriegslust haben Österreich und Europa bekanntlich besonders schlechte Erfahrungen gemacht. Umso besser, wenn die dortigen Gesellschaften „über Arbeit, Tausch und Wohlstand und nicht über Opfer und Ehre integriert sind“, wie es der bekannte deutsche Politologe Herfried Münkler ausdrückt.
Vielleicht – um es überspitzt zu formulieren – sollte Österreich sich offen als unbewaffnet neutral deklarieren (so wie es Costa Rica 1983 getan hat). Das war zwar 1955 so nicht vorgesehen, wäre aber immerhin ehrlich. Österreich scheint wesentlich pazifistischer zu sein, als man es sich offiziell eingesteht. Bundeskanzler Karl Nehammer erteilte zuletzt sogar dem Gedanken regelmäßiger – und notwendiger – verpflichtender Milizübungen eine Absage, weil das „der Wirtschaft schaden“ würde.
Veraltete Sicherheitsstrategie
Wie dem auch sei: Das Dilemma neutraler und zugleich militärisch schwacher Staaten liegt im Umgang mit weniger friedfertigen Gesellschaften. So mag von Österreichs unmittelbarer Nachbarschaft keine Gefahr ausgehen, aber dort hört die Welt nun einmal nicht auf. Und im Kriegsfalle können neutrale Länder genauso zum Kriegsschauplatz werden wie alle anderen. Umso mehr, wenn „dramatische“ Einschränkungen der Leistungsfähigkeit seiner Armee bestehen, wie es bereits 2019 im „Unser Heer 2030“-Bericht unter dem damaligen Verteidigungsminister Thomas Starlinger hieß.
Seitdem ist so manches passiert, aber bei Weitem nicht genug. Österreich hat es nicht einmal geschafft, eine neue Sicherheitsstrategie zu verabschieden. Die aktuelle stammt aus dem Jahr 2013 und damit aus einer Zeit vor der Krim-Annexion, vor Russlands Krieg im Osten der Ukraine und dem späteren Großangriff, vor dem Fluchtjahr 2015, vor dem Aufstieg des „Islamischen Staats“. Dazu kommt, dass Russland darin noch als „strategischen Partner“ bezeichnet wird. Das mögen sich manche immer noch wünschen, aber selbst Russland sieht das mittlerweile anders.
Die kollektive österreichische Wahrnehmung, ohnehin keine Feinde zu haben, vergisst so manches: Etwa, dass man auch zum Durchzugsgebiet oder Ziel von Unterwanderung oder Cyber-Kriegsführung werden kann. Krieg hat viele Facetten. Nicht jede trägt eine Uniform.