„Die USA sind mitten in einer Revolution“
Komplexitätsforscher Peter Turchin hat schon vor Jahren einen politischen Umbruch in den USA vorhergesagt. Mit einer baldigen Beruhigung der Lage sei nicht zu rechnen.

Peter Turchin ist eigentlich Biologe, begründete aber vor rund zwanzig Jahren eine eigene Wissenschaft, die Kliodynamik. Sie beruht auf der These, dass die Geschichte mathematischen Regeln folgt, anhand derer sich die Zukunft wie das Wetter vorhersagen lässt. Bereits 2010 prophezeite er den USA eine Zeit politischer Unruhen. Der US-Amerikaner mit russischen Wurzeln forscht am Complexity Science Hub in Wien.
Der Pragmaticus: Herr Turchin, das Attentat auf Charlie Kirk in den USA hat Schockwellen durch das ganze Land gesendet, und viele fürchten, es könnte die Vereinigten Staaten in eine dunkle Ära führen. Glauben Sie, dass es tatsächlich so ein Wendepunkt sein könnte?
Peter Turchin: Nein. Kirks Ermordung ist kein isolierter Wendepunkt, sondern Teil einer ganzen Serie zunehmender Gewalt. Die Dinge werden sich einfach weiter verschärfen. Ich führe eine Datenbank, die US Political Violence Database, sie geht zurück bis 1780. Wenn man sich die Zahlen für die Jahre 2020 bis 2024 ansieht, gab es sieben politische Attentate – mehr als in jeder anderen Fünfjahresperiode, außer direkt nach dem Bürgerkrieg. Sie übertrifft sogar die 1960er-Jahre, als unter anderem Martin Luther King sowie John F. und Robert Kennedy ermordet wurden.
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Wie würden Sie politische Attentate definieren?
Peter Turchin: Wir benutzen den Begriff in einem sehr spezifischen Sinn: wenn ein oder mehrere Menschen getötet werden, weil sie eine Organisation, eine Gruppe oder eine Institution repräsentieren. Als Luigi Mangione zum Beispiel den Chef von UnitedHealthcare tötete, zählten wir das als Attentat, weil er nicht aus persönlichen Gründen, sondern als Vertreter der Branche ins Visier genommen wurde.
Sie wurden bekannt, weil Sie bereits 2010 vorhersagten, dass die USA in den 2020ern in eine Phase politischer Instabilität geraten werden. Vergangenes Jahr haben Sie die USA in einer „revolutionären Situation“ gesehen.
Peter Turchin: Das ist meiner Ansicht nach nicht mehr korrekt. Die USA befinden sich nun mitten in der Revolution.
Charlie Kirks Ermordung ist kein Wendepunkt, sondern Teil einer Serie zunehmender Gewalt.
Woran machen Sie das fest?
Peter Turchin: In einer Revolution kommt die Gegenelite an die Macht und verdrängt die etablierten Eliten. In klassischen Revolutionen wie der Französischen oder Russischen bedeutete das oft Guillotine oder Erschießungen. Auch die MAGA-Bewegung versucht den Staat umzugestalten, nur war das Köpferollen bisher weniger blutig. Aber es gibt Absetzungen von traditionellen Politikern und Beamten und das Ausschalten unbeliebter Medienstimmen. Das deutlichste Beispiel aber ist die Außenpolitik: Trump demontiert die US-Hegemonie, er hat die Behörde für Entwicklungszusammenarbeit de facto geschlossen, attackiert die NATO und verbündet sich mit Autokraten. Das ist ein tiefgreifender Wandel. Wir sind also in einer Revolution, die aber noch nicht so blutig ist.
Kann sie es noch werden?
Peter Turchin: Eine Eskalation ist möglich, zumal Trump Militär und Nationalgarde im Inland einsetzt. Das ist ein großer Bruch mit der Norm und ein potenzieller Zündfunke, weil diese Soldaten nicht trainiert sind, zivile Unruhen deeskalierend zu bewältigen.
Viele sehen soziale Medien als Treiber der Spaltung der Gesellschaft. Stimmen Sie dem zu?
Peter Turchin: Sie tragen bei, aber nur sekundär. Jede Revolution hat ihr Medium – Pamphlete im 17. Jahrhundert, Zeitungen im 19., soziale Medien heute. Die Verbreitung revolutionärer Ideen ist heute nicht schneller als 1848. Social Media verstärkt zwar, verursacht aber nicht die zugrunde liegende Krise.
Was verursacht sie?
Peter Turchin: Historisch sehen wir, dass eine Überproduktion von Eliten zu politischer Instabilität und letztlich Revolutionen führt. Weil es dann eine immer größer werdende Gegenelite gibt, die an die Macht drängt. Genau das passiert jetzt in den USA. Die MAGA-Bewegung besteht aus Gegeneliten. Gegeneliten sind nicht „das einfache Volk“ – es sind ehrgeizige Akteure, die gegen die etablierten Eliten aufbegehren. Trump war trotz seines Reichtums nicht Teil der traditionellen Elite, und dasselbe gilt für Vizepräsident JD Vance und andere.
Nach Ihrer Definition ist auch der reichste Mann der Welt, Elon Musk, nicht Teil der Elite.
Peter Turchin: Ja, Musk hatte lediglich ökonomische Macht. Aber er strebte nach ideologischer Macht, weshalb er Twitter (heute X, Anmerkung) kaufte. Vor 2024 kritisierte er häufig das Establishment und wurde deshalb unterdrückt. Im Frühjahr 2024 stellte er sich hinter Trump, spendete Geld und nutzte X, um die MAGA-Bewegung zu stärken. Womit er sich – vor seinem Bruch mit Trump – Zugang zu administrativem Einfluss verschaffte. Nach meiner Definition macht ihn das zu einer Gegenelite: ein mächtiger Akteur, der sich gegen die herrschende Elite stellte.

Das Spannende ist, dass diese Revolution innerhalb des rechtlichen Rahmens passiert – Trump darf all das.
Peter Turchin: Trump lotet rechtliche Grenzen aus, vielleicht überschreitet er sie. Er profitiert von einem ihm gewogenen Supreme Court, der ihm bei Streitfällen wie Entlassungen von Beamten den Rücken stärkt. Militär in Städte zu schicken, ist rechtlich zumindest fragwürdig. Aber Revolutionen beginnen oft so – innerhalb bestehender Strukturen, die dann nach und nach ausgehebelt werden. Auch in der Französischen Revolution dauerte es Monate, bis die Hinrichtungen begannen. Rückblickend wirkt es abrupt – in Wahrheit war es ein langer Prozess.
Und doch sind die Strukturen in den USA so stark, dass diese Revolution in einer der beiden etablierten Parteien begann – Donald Trump plante im Jahr 2000, als Kandidat einer Drittpartei zu kandidieren, krempelte aber stattdessen 2015 die Republikanische Partei um.
Peter Turchin: Ja. Das US-System macht den Erfolg von Drittparteien praktisch unmöglich. Trump hat die strategische Wahl getroffen, eine bestehende Partei zu übernehmen. Das unterscheidet diese Revolution zum Beispiel von Deutschland in den 1930ern, wo im parlamentarischen System neue Parteien entstehen konnten. Der Weg zur Revolution in den USA führt also über die Übernahme einer bestehenden Partei. Nebenbei: Das bietet auch eine Blaupause für linkspopulistische Kräfte, die Demokratische Partei zu übernehmen.
Die Establishment-Demokraten sind noch unbeliebter als Trump, was bemerkenswert ist.
Wäre das jemand wie Zohran Mamdani, der die Demokraten im Vorfeld der Bürgermeisterwahlen in New York umkrempelte und gegen den Willen der Partei Kandidat wurde?
Peter Turchin: Ja. In meinem Buch „End Times“ argumentiere ich, dass es bereits eine populistische Strömung innerhalb der Demokraten gibt – Bernie Sanders zum Beispiel. Aber die Populisten bei den Demokraten waren zu zaghaft. Sanders hätte 2016 nominiert werden müssen, aber das Establishment hat ihn blockiert, teils mit illegalen Methoden. Er hat nachgegeben. Trump hingegen weigerte sich, ein Nein zu akzeptieren. Jetzt ist der populistische Flügel der Demokraten wiederbelebt. 2028 könnten sie einen stärkeren Kandidaten als Sanders haben, weil die Establishment-Demokraten in Trümmern liegen. Sie sind sogar noch unbeliebter als Trump, was bemerkenswert ist.
Der nächste Präsident könnte also weit links stehen.
Peter Turchin: Wenn ich Präsident werden wollte, würde ich als Linkspopulist kandidieren – wobei ich es nicht „links“ nennen würde, weil das Label in den USA unpopulär ist. Und ich würde neutral bei Kulturkampfthemen bleiben. Mamdani macht den Fehler, die „woke“ Agenda zu übernehmen. Vielleicht funktioniert das in New York, aber nicht landesweit. Damit erreicht man zehn Prozent der gebildeten Eliten, aber nicht die Mehrheit. Eine stärkere Strategie wären Kernfragen, die sogenannten Brot-und-Butter-Themen: Arbeitsplätze, Industriepolitik, Zölle, den Lebensstandard heben.
Ist das Establishment Geschichte?
Peter Turchin: Ja. Für das Establishment ist es vorbei. Vielleicht finden sie einen starken Kandidaten wie Gavin Newsom, den Gouverneur von Kalifornien. Aber es wird schwierig. Trump hat noch drei Jahre, um seine Macht zu festigen. Aber Sie dürfen nicht vergessen: Revolutionen sind instabil und unvorhersehbar. Denken Sie an die Französische Revolution – viele Fraktionen stürzten einander, bevor Napoleon kam. Oder Russland, das mit einer provisorischen Regierung begann, dann kamen die Bolschewiki. In solchen Zeiten ist nichts vorhersehbar.
Ob die jetzige Revolution Erfolg hat oder scheitert, bleibt abzuwarten.
Das heißt, die Revolution endet nicht zwingend mit der Machtübernahme der MAGA-Bewegung?
Peter Turchin: Genau. Ob die jetzige Revolution Erfolg hat oder scheitert, bleibt abzuwarten. Sollten Demokraten oder traditionelle Republikaner 2028 tatsächlich zurückkehren, könnten sie manches rückgängig machen, aber vieles wäre dann wohl unumkehrbar.
Kamala Harris war Teil der traditionellen Elite. Wäre das Land ein anderes, hätte sie gewonnen?
Peter Turchin: Ja und nein. Wäre Harris gewählt worden, hätten die etablierten Eliten die Macht behalten. Der revolutionäre Druck wäre noch da gewesen, aber die Revolution selbst wäre aufgeschoben. Stattdessen ist sie jetzt unter Trump da.
Gibt es eine realistische Möglichkeit, aus dieser Revolution wieder herauszukommen?
Peter Turchin: Historisch betrachtet ist die einzige Bedingung für Stabilität, das abzuschalten, was ich wealth pump nenne – einen Mechanismus, der Wohlstand von den Armen zu den Reichen transferiert. Dies geschieht historisch auf verschiedene Weise, beispielsweise durch Zwang in mittelalterlichen Gesellschaften oder durch stagnierende Löhne in moderneren Kontexten. Aber sie führt letztendlich zu einer ungleichen Verteilung der Ressourcen, da die Eliten die Wirtschaft in ihrem Interesse umgestalten. Gegeneliten kommen oft an die Macht, nur um die Pumpe selbst zu benutzen. Deshalb ziehen sich Revolutionen oft über Jahrzehnte hin. Die Französische Revolution wurde gefolgt von wiederholten Umstürzen bis in die 1870er-Jahre, als endlich die Löhne stiegen und das Wahlrecht ausgeweitet wurde. Das dauerte 80 Jahre.
Wenn die Hegemonialmacht USA in einer Revolution steckt, profitieren dann Gegner wie China und Russland davon?
Peter Turchin: Es nützt besonders Russland, weil Russland das Ende der US-Hegemonie und eine multipolare Welt anstrebt. Trumps Handeln – ob bewusst oder nicht – hilft diesem Ziel. Für China ist es weniger eindeutig, da Trump widersprüchlich agiert. Insgesamt reduziert die US-Krise aber die Gefahr einer direkten Konfrontation oder gar eines dritten Weltkriegs, auch wenn sie die Welt instabiler macht.
Glauben Sie, dass es 2028 einen friedlichen Machtwechsel geben wird?
Peter Turchin: Keine Ahnung. Alles ist möglich.


