Wackelt der nukleare Schutzschild der USA?
Trumps „America First!“-Politik bedroht die NATO und Europas Sicherheit. Eine schwächere US-Abschreckung und ein geringeres Vertrauen in den nuklearen Schutzschild könnten Konflikte wahrscheinlicher machen.

Auf den Punkt gebracht
- Truppenpräsenz. Die 38.000 US-Soldaten in Deutschland unterstreichen die Glaubwürdigkeit der amerikanischen Abschreckung.
- Verteidigungsetat. Trumps Kritik an NATO-Mitgliedern, die weniger als zwei Prozent ihres BIP für Verteidigung ausgeben, spaltet das Bündnis.
- Nukleare Abschreckung. Zweifel an der US-Bündnistreue könnten das Risiko nuklearer Erpressung durch Russland erhöhen.
- Sicherheitsdebatte. Der mögliche Abzug der US-Truppen könnte eine Debatte über europäische Atomwaffen neu entfachen.
Das oberste Ziel von Donald Trumps Außen- und Verteidigungspolitik lautet nach wie vor „America First!“. Für Alliierte und Partner ist da wenig Platz, höchstens für Vasallen. Es wäre jedoch grundlegend falsch zu glauben, die Skepsis Trumps und anderer Elemente seiner Partei gegenüber der NATO und sonstigen internationalen Verpflichtungen der USA sei gleichbedeutend mit einer militärischen Selbstbeschränkung und einem erneuten Isolationismus.
Amerika wird nach meiner Überzeugung in naher bis mittlerer Zukunft die mächtigste Militärmacht bleiben und seine nationalen Interessen auch weiterhin energisch vertreten. Es wird dies allerdings zum Teil außerhalb etablierter Sicherheitsstrukturen wie der NATO tun und weitgehend ohne den lange Zeit herrschenden sicherheitspolitischen Konsens. All das wird die US-Politik insgesamt unberechenbarer, aber deswegen nicht weniger einflussreich machen.
Kein Isolationismus
Es geht für die USA unter Trump nicht so sehr um einen globalen amerikanischen Rückzug, sondern vielmehr um die Frage, wie sich der Fortbestand der eigenen Vormachtstellung am ehesten garantieren lässt. Die große Frage lautet, kurz gesagt: Soll die amerikanische Militärmacht in Strukturen und Institutionen eingebettet bleiben, oder soll sie ungebundener, ungezügelter und damit auch willkürlicher oder unvorhersehbarer zum Einsatz kommen? Tendenziell scheint es in die letztere Richtung zu gehen.
Sollte der Hegemon jedoch das Interesse an den bestehenden Institutionen verlieren, so büßen diese in der Folge ihrerseits an Status und realpolitischem Einfluss ein. Im Falle der NATO würde sich dies unmittelbar auf das sogenannte Abschreckungspotenzial auswirken und letztlich das Risiko eines Krieges erhöhen.
5 Szenarien für den Ukraine-Krieg
Die Grundprämisse einer Organisation wie der NATO ist es schließlich, dass sie durch ihr Allianzsystem und ihre gebündelte militärische Macht potenzielle Aggressoren wie Russland davon abhält, einzelne Länder, die Mitglied in diesem Bündnis sind, anzugreifen. Diese Abschreckung wird jedes Jahr unter anderem durch eine Reihe von organisierten Militärübungen demonstriert, aber auch durch jährlich abgehaltene NATO-Gipfel und politische Konsultationen im Rahmen verschiedener NATO-Gremien.
Diese Institutionalisierung der konventionellen und der nuklearen Abschreckung durch die Struktur der NATO senkt das Risiko von Fehlkalkulationen und Missverständnissen aufseiten eines Aggressors. Wenn Russland zum Beispiel weiß, dass die NATO jedes Jahr nach dem gleichen Schema eine große Militärübung abhält oder den Einsatz von Nuklearwaffen im Rahmen eines Kriegsspiels übt, so reduziert dies die Gefahr, dass Moskau diese Übungen falsch bewertet oder gar als Vorstufe für einen potenziellen Angriff missversteht.
Nukleare Schutzschild auf dem Prüfstand
Mit einer zukünftigen Aushöhlung der NATO steigt jedoch vor allem das Risiko solcher Fehlkalkulationen im Bereich der nuklearen Abschreckung. Eine eingeschränkte Rolle der USA in der NATO würde nämlich unter anderem die Glaubwürdigkeit des amerikanischen nuklearen Schirms schmälern – der Verpflichtung der USA, im Falle eines nuklearen Angriffs auf europäische NATO-Mitglieder nukleare Vergeltungsschläge gegen den Aggressor durchzuführen. Verliert diese nukleare Abschreckung aber einmal ihre Glaubwürdigkeit, könnten Aggressoren, allen voran Russland, in Versuchung geraten, ihre nationalen Machtinteressen verstärkt mithilfe „nuklearer Erpressung“ durchzusetzen.
Ein Nuklearkrieg kann nur verhindert werden, indem man signalisiert, man selbst würde im Ernstfall Nuklearwaffen einsetzen.
Das bedarf einer genaueren Erläuterung. Im Moment sind über 38.000 US-Soldaten in Deutschland stationiert – samt Angehörigen und Tausenden zivilen Kräften. Sie sind das Zünglein an der Waage, was die Glaubwürdigkeit der amerikanischen nuklearen Abschreckung betrifft, die letztlich aus einer menschenverachtenden paradoxen Logik besteht: Ein Nuklearkrieg kann nur verhindert werden, indem man dem Gegner glaubwürdig signalisiert, man selbst würde im Ernstfall Nuklearwaffen einsetzen.
Zahlen & Fakten
Die entscheidende Frage war und ist jedoch nach wie vor, ob Washington im Fall der Fälle wirklich bereit wäre, das Leben amerikanischer Zivilisten für die Verteidigung Europas gegen Russland aufs Spiel zu setzen, da Moskau über genügend Kernwaffen – und damit über eine sogenannte Zweitschlagkapazität – verfügt, um im Kriegsfall Hunderte Ziele in den Vereinigten Staaten zu zerstören. Europäische Politiker haben daher immer wieder an der Glaubwürdigkeit der amerikanischen Bündnistreue gezweifelt.
US-Truppen als Stolperdraht
Genau deshalb und um eine „Abkopplung“ des Bündnisses zwischen den Amerikanern und Europäern zu verhindern, wurden während des Kalten Krieges Tausende von US-Soldaten nach Europa entsandt. Auf der einen Seite dienten diese Truppen zur militärischen Verstärkung der NATO-Staaten, auf der anderen Seite war ihre Aufgabe aber streng genommen politischer Natur: Sie fungierten als eine Art Stolperdraht. Ihr Tod zu Beginn eines Krieges würde garantieren, dass der Bündnisfall ausgelöst werden würde. Kein US-Präsident könnte den Tod eigener Soldaten ungesühnt lassen – so die Theorie.
Dieses blutige Kalkül erhöhte die Glaubwürdigkeit der Botschaft, dass die Amerikaner in einem Konflikt in Europa eingreifen würden. Und gemäß der Abschreckungstheorie verringert ebendies die Wahrscheinlichkeit eines Krieges zwischen Ost und West erheblich. Nach wie vor besteht die eigentliche Aufgabe der in Deutschland stationierten US-Soldaten also darin, durch ihre schiere Präsenz die amerikanische Glaubwürdigkeit und Bündnistreue zu unterstreichen.
Umfrage: Beschützen uns die USA?
Natürlich würden heute für diesen Zweck auch schon einige Tausend oder Hundert US-Soldaten genügen. Ein unüberlegter und abrupter Abzug oder Äußerungen wie die von Donald Trump im Februar 2024, wonach Russland mit Mitgliedern der NATO, die nicht ihren Verteidigungsetat erhöhten, tun könne, was es wolle, könnten in Moskau aber als Signal dafür verstanden werden, dass die USA ihren nuklearen Schutzschirm de facto aufgeben.
Russland, das gerade sein gesamtes nukleares Waffenarsenal modernisiert, könnte daraufhin versuchen, Europa unter Androhung des Einsatzes von Nuklearwaffen Bedingungen zu diktieren, um seine eigenen Machtinteressen durchzusetzen. Zum Beispiel könnte es die Einrichtung von Pufferstaaten zwischen der NATO und russischem Territorium verlangen – was nichts anderes hieße, als dass Europa die Ukraine endgültig aufgäbe –, einschließlich einer Entmilitarisierung des Baltikums.
Deutschland als Atommacht?
Letztlich wäre Europa so auf jeder wirtschaftlichen und politischen Ebene leichter von Russland erpressbar. Die Arsenale von Europas Atommächten Frankreich und Großbritannien sind einfach zu schwach, um Russland abzuschrecken, das zweifellos das Ziel verfolgt, die NATO und die EU zu zerschlagen, egal ob Wladimir Putin an der Macht bleiben wird oder nicht. Deutschland würde wohl oder übel eigene Kernwaffen entwickeln müssen, sollte es eine von Moskau unabhängige Politik verfolgen wollen. Es überrascht daher nicht, dass die Debatte um die Anschaffung europäischer oder gar deutscher Nuklearwaffen in jüngster Zeit wieder an Fahrt aufnimmt. Natürlich sind deutsche Massenvernichtungswaffen im Moment undenkbar.
Ohne den nuklearen Schutzschirm der USA müsste Deutschland aus seinem sicherheitspolitischen Kokon schlüpfen.
Der Abzug amerikanischer Truppen und der Wegfall des nuklearen Schutzschirms der USA würden jedoch den Beginn einer neuen, gefährlicheren Welt für Europa markieren und bedeuten, dass Länder wie Deutschland früher oder später aus ihren sicherheitspolitischen Kokons schlüpfen müssten. Wie auch immer man moralisch dazu steht: Die durch US-Truppen in Deutschland abgesicherte nukleare Abschreckung hat entscheidend zum Frieden in Europa in den letzten 70 Jahren beigetragen. Sollte sie abhandenkommen, wäre dies ein sicherheitspolitisches Erdbeben für Europa, es würde das System destabilisieren und, wie schon erwähnt, die Gefahr von Fehleinschätzungen bei Europas Gegnern erhöhen.
Conclusio
Schutzschild. Trumps „America First!“-Politik hat das US-Engagement in der NATO infrage gestellt, was die Glaubwürdigkeit des amerikanischen nuklearen Schutzschilds schwächt. Über 38.000 US-Soldaten sind in Deutschland stationiert. Kritiken an NATO-Mitgliedern, die weniger als zwei Prozent ihres BIP für Verteidigung ausgeben, spalten das Bündnis.
Risiko der Abschreckung. Eine geschwächte US-Abschreckung könnte das Risiko von Konflikten in Europa erhöhen. Zweifel an der US-Bündnistreue machen Europa anfälliger für nukleare Erpressung durch Russland. Die Stabilität der NATO als Abschreckungsbündnis wird dadurch erheblich gefährdet.
Europäische Sicherheit. Europa muss sicherheitspolitisch eigenständiger werden und könnte eine Debatte über eigene Atomwaffen neu entfachen. Eine verstärkte Zusammenarbeit innerhalb der EU und eine Erhöhung der Verteidigungsausgaben sind notwendig, um die eigene Sicherheit zu gewährleisten.