Wie die Pocken ihr Ende fanden

Nicht appetitlich, aber wirksam: 1796 hatte Edward Jenner die entscheidende Idee, wie man Pocken den Garaus macht. Eine kurze Geschichte eines wissenschaftlichen Triumphs.

Azteken Illustration von Kranken
In Südamerika töteten die Pocken im 16. Jahrhundert etwa 20 Millionen Menschen und trugen zum Untergang des Aztekenreiches bei. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Stiller Tod. Jahrtausendelang waren die Pockenviren eine lebensgefährliche Krankheit, vor allem für kleine Kinder. Könige starben genauso wie arme Leute.
  • Unsichtbare Übertragung. Das Virus wird über die Luft weitergegeben, überall auf der Haut bilden sich Pusteln. Einer von 12 Erkrankten überlebt nicht.
  • Zündende Idee. Mit kleinen Dosen des Erregers gesunde Menschen immunisieren: Die Variolation war die Vorstufe zur heutigen Pocken-Impfung.
  • Gefahr gebannt. Das Prinzip der Immunisierung funktionierte, die Zahl der Pockentoten ging zurück. Die Idee des Impfens setzte sich durch.

Ich lebe in einem kleinen Dorf namens Rockhampton in Gloucestershire, England, ein paar Kilometer von der Stadt Berkeley entfernt. Ebendort lebte und starb Edward Jenner, jener Mann, den die Medizingeschichte als „Vater des Impfens“ bezeichnet.

Vielleicht kennen Sie die Geschichte: Jenner soll die Flüssigkeit aus der Pustel einer Milchmagd, die mit Kuhpocken infiziert war, genommen und das Sekret in Hautschnitte eines Buben eingebracht haben. Sechs Wochen später setzte er ihn dann den Pocken aus. Der Bub überlebte. Das war im Jahr 1796. Es gilt als die erste erfolgreiche Impfung: Sie markiert den Anfang vom Endes einer Jahrhunderte alten Geschichte der Pocken.

Geisel der Menschheit

Schon Ramses der Fünfte, ein ägyptischer Pharao, der 1100 v. Chr. lebte, soll Pockennarben gehabt haben. Und selbst auf archäologischen Überresten aus der Wikingerzeit fand man Hinweise auf Pocken-DNA. Als die Spanier die Pocken nach Amerika mitbrachten, töteten die Infektion 20 Millionen Menschen. Das waren 90 Prozent der indigenen Gesamtbevölkerung! Manche Historiker machen die Pocken sogar für den Untergang des Aztekenreichs verantwortlich. In Europa starben Könige und Königinnen daran, Menschen wie Mozart und Beethoven überlebten. Im 18. Jahrhundert waren Pocken so verbreitet, dass kein Ort – außer die oberste und unterste Spitze des Planeten – verschont blieb.

Die Pocken, oder Variola major und minor, werden durch zwei verschiedene Virusvarianten der Familie der Pockenviren ausgelöst. Sie verbreiten sich über den Atemweg durch Aerosole, also kleine Tröpfchen in der Luft, wie sie etwa auch beim Sars-Cov-2-Virus zu Ansteckungen führen. Eine infizierte Person bekam tausende Pusteln auf der Haut. Nicht nur das Infektionsrisiko war hoch, sondern auch die Chance, daran zu sterben: Bei Variola major verlief einer von vier Fällen tödlich, bei Variola minor verlief es oft weniger dramatisch.

Im 18. Jahrhundert waren Pocken so verbreitet, dass kein Ort verschont blieb.

Jahrhundertelang suchten die Menschen nach einem Mittel gegen den Schrecken der Pocken. So war etwa lange ehe Jenner 1749 geboren wurde die sogenannte Variolation bekannt: Dabei nimmt man einem Patienten Pocken-Eiter ab, indem man ein Messer in eine dieser ekelhaft aussehenden Pusteln steckt.

Immun durch kleine Dosen

Dann kratzt man das Material in die Haut eines Kindes. Ziel war es, einem gesunden Menschen eine kleine Dosis Pocken zu verabreichen, um ihn einer milden Erkrankung auszusetzen und so immun zu machen. Die Praxis war in vielen Gegenden der Welt verbreitet, zum Beispiel schon im 13. Jahrhundert in China: Dort wartete man, bis die Pusteln abgeheilt waren, zog die Krusten ab, vermengte sie in einem Mörser und blies diese schreckliche Pockenmischung durch eine silberne Röhre in die Nasenlöcher der Kinder – für Jungen in das rechte, für Mädchen in das linke Nasenloch. Es war, wenn man so will, eine Vorstufe des Impfens.

In Europa wurde Variolation vor allem durch Lady Mary Wortley Montague bekannt. Sie hatte Pocken überlebt, aber das Virus tötete ihren Lieblingsbruder. Als junge Frau brannte sie mit einem Diplomaten durch und landete 1716 in Konstantinopel, dem heutigen Istanbul. Die türkische Kultur begeisterte sie, sie brachte sich selbst Türkisch bei, schmuggelte sich als Mann verkleidet in Moscheen. In einem ihrer Briefe beschreibt sie einen bestimmten Brauch: Einmal im Jahr wurden die Diplomatenkinder versammelt und eine türkische Frau kam mit einer halben Walnussschale voll an Flüssigkeit: Pocken-Eiter, frisch aus Pusteln gewonnen. Sie nahm eine Nadel, tauchte sie in die Flüssigkeit und kratzte damit die Arme der Kinder auf.

In Königskreisen

Was Lady Montague nun als nächstes tat, war für die Entwicklungsgeschichte der Impfung sehr wichtig: Sie schickte ihren eigenen Sohn zur Variolation. Zurück in Großbritannien wurde er überall herumgereicht. Selbst die Königsfamilie hörte davon, und so ging die Methode bald durch die Decke. In den Händen der richtigen Leute war Variolation ein relativ sicheres Verfahren. Einer von vier starb damals an den Pocken, nach der Variolation lag das Risiko nur noch bei 1 zu 50.

Warum? Wenn das Virus über die Haut oder die Schleimhäute der Nase in den Körper gelangt, anstatt dass es eingeatmet wird, trifft es auf lokale Immunzellen, bevor es in den Blutkreislauf kommen kann. Und weil unsere Lungen eine große Oberfläche haben, ist dieser Übergang umso leichter. Das löst eine Immunantwort gegen das Pockenvirus aus, und so kauft sich der Körper Zeit. Doch diese Methode hatte einen entscheidenden Nachteil: Die Menschen waren nach der Prozedur sehr ansteckend und konnten die Pocken weiter verbreiten. Mitunter wurden so mehrere kleine Pocken-Epidemien ausgelöst.

Und hier kommt eben mein berühmter Nachbar Edward Jenner ins Spiel, denn das Risiko der Ansteckung wurde erst mit der Impfung minimiert. Anstatt das gefährliche Pockenvirus selbst wie bei der Variolation in kleinen Dosen zu übertragen, verwenden wir bei der Impfung ein anderes abgeschwächtes Virus, auf das das Immunsystem dennoch reagiert. Das Kuhpockenvirus. Dieses ist nicht so gefährlich wie das Pockenvirus, jedoch sind sich die beiden sehr ähnlich. Also schützen die Antikörper gegen Kuhpocken-Viren auch gegen Pocken, im Falle, dass sich jemand damit infizieren sollte.

Biographie eines Lebensretters

Schon als Kind beschäftigte sich Jenner mit der Natur, sammelte Federn und Fossilien. Im Alter von acht Jahren starben seine Eltern, er wurde auf ein Internat geschickt. Bevor er aber überhaupt in das Gebäude durfte, wurde er für eine mehrwöchige Prozedur eingesperrt, weil in der Nähe Pocken ausgebrochen waren. Also sperrte man ihn für mehrere Wochen in einen kalten Stall – das war damals die medizinische Praxis – und unterzog ihn der Variolation. Außerdem öffnete man Schülern die Venen, zwang sie zum Aderlass und verabreichte ihnen Abführmittel, um, so die Logik, ihren Darm zu öffnen und auf diese Art ihr Blut zu reinigen. Eine Standard-Prozedur zu dieser Zeit. Bei Jenner hinterließ dieses Erlebnis ein Trauma. Gut möglich, dass es die Motivation war, später im Leben nach einer besseren Technik zu forschen.

Edward Jenner
Edward Jenner (1749-1823) ist der Erfinder der Pockenimpfung. © Getty Images

Nach seiner medizinischen Ausbildung in London kehrte Jenner nach Berkeley zurück, um Landarzt zu werden. Auch wenn andere, wie so oft in der Medizingeschichte, das Grundprinzip der Methode der Impfung schon vor ihm ausgetestet hatten, war er der Erste, der den entscheidenden Schritt weiter ging: Zuerst sammelte er Fallberichte von Menschen, die Kuhpocken ausgesetzt waren und dann keine Pocken bekamen. Und 1796 führte er schließlich sein berühmtes Experiment durch. Er nahm Eiter aus der Hand von Sarah Nelmes, einer lokalen Milchmagd, die nach dem Melken einer Kuh namens Blossom Geschwüre an ihrer rechten Hand entwickelte. Dann rief er James Phipps zu sich, den Sohn seines Gärtners, schnitt ihm in den Arm und rieb den Kuhpocken-Eiter ein. Sechs Wochen später setzte er ihn mehrmals durch Variolation den Pocken aus und – nichts passierte. Phipps war immun, er überlebte.

Jenner schrieb diese Erfahrungen auf und veröffentlichte sie unter dem recht umständlichen Namen „Eine Untersuchung der Ursachen und Auswirkungen der Variolae Vaccinae: eine Krankheit, die in einigen westlichen Ländern Englands, insbesondere in Gloucestershire, entdeckt wurde und unter dem Namen Kuhpocken bekannt ist“. Variola vaccinae ist ein ausgefallener Begriff, den er sich ausdachte, um Variola – das Pockenvirus – und den Impfstoff als von der Kuh (= vacca) stammend zu beschreiben.

Siegeszug gegen das Virus

Vom ersten Tag an wurde Jenners Bericht zum Bestseller. Und das Beste daran: Es war für alle frei verfügbar. Nach Großbritannien wurde der Pockenimpfstoff sehr bald in der Schweiz und in Frankreich zum Standard. Er kam auch an den Spanischen Hof und eine königliche Expedition wurde in die spanischen Kolonien geschickt, um Menschen zu impfen und ihnen das Impfen beizubringen – eine Art Wiedergutmachung für das Elend, das sie verursacht hatten, als sie Pocken auf den Kontinent gebracht hatten. Als Jenner 1823 starb, war die Impfung bereits in ganz Europa, Russland, Indochina und Amerika verbreitet. Auch wenn Jenner vermutlich nicht der Erste war, der impfte, war er doch derjenige, der das Impfen bekannt machte. Ich nenne ihn deswegen nicht „den Vater“, sondern „die Hebamme des Impfens“.

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Zahlen & Fakten

Die Erfolgsgeschichte hört hier nicht auf. Nur 80 Jahre nach Jenners Erfolg wurde die zweite Impfung von einem nicht weniger berühmten Mann entwickelt: Louis Pasteur. Schon als kleiner Junge hatte er beobachtet, wie sich die Bisse von tollwütigen Tieren auf Menschen auswirkten. Er hatte die Idee, das tödliche Virus im Labor abzuschwächen, um es weniger gefährlich zu machen. Ein Ansatz, der noch heute angewendet wird.

Man muss sich vorstellen: Jenner und Pasteur machten ihre Experimente, bevor sie überhaupt wussten, was ein Virus eigentlich ist, geschweige denn, wie sich ein solcher verhält. Stattdessen hantierte man mit „Extrakten“. In diesem Fall: einem Extrakt aus dem Speichel eines tollwütigen Hundes. Pasteur injizierte dieses Extrakt in das Gehirn von lebenden Hasen. Und – Achtung, es wird jetzt sehr anschaulich – entnahm einige Tage später ihre Wirbelsäule in der Annahme, dass dieses infektiöse, unbekannte „Ding“ nun das Gehirn befallen hatte. Er hing die Wirbelsäulen wie luftgetrocknetes Fleisch zum Trocknen auf – seine Art, das Virus abzuschwächen – und machte daraus wiederum ein Extrakt, das er Patienten verabreichte, also Menschen.

Blaupause für Immunsierung

Als Hommage an Jenner nannte Pasteur das 1885 fertiggestellte Wirkmittel Tollwut-Impfung (vaccination). So setzte sich die Bezeichnung also über die Pocken hinaus durch. Mit dem Aufkommen von Mikroskopen und dem weiteren Verständnis von Mikroorganismen nahm auch die Forschung an Impfungen an Fahrt auf. Im Jahr 1930 gab es bereits Impfungen gegen Diphtherie, Tetanus, Typhus oder Cholera. Und die Erfolgsgeschichte wurde rapide fortgesetzt. Übrigens: Die erste Massenimpfung, die, wie wir es heute kennen, mit Nadel und Spritze und in großer Masse durchgeführt wurde, war die Polio-Impfung 1954. Davor verwendete man Injektionsspritzen und sogenannte Impfpistolen.

Und die Pocken? Das Virus wurde im 19. Und 20. Jahrhundert immer weiter zurückgedrängt, bis die WHO 1967 beschloss, der Krankheit ein für alle Mal das Garaus zu machen. Es dauerte ein Jahrzehnt, bis es ihr gelang – heute gelten Pocken immer noch als einzige eliminierte Infektionskrankheit.

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Conclusio

Die Pocken haben jahrtausendelang viele Menschenleben gekostet. Und genauso lang hat es Versuche gegeben, diese Infektion zu verhindern. Immunisierung als Prophylaxe hat eine lange Geschichte. Immer wieder gab es Ansätze, mit geringen oder entschärften Krankheitserregern Menschen vor der ernsthaften Erkrankung zu wappnen. Die gute Nachricht: Es ist gelungen. Die WHO hat die Pocken 1980 für ausgerottet erklärt.