Die Risiken der Polarisierung

Polarisierung verhindert gute Entscheidungen. Der Ökologe Franz Essl will die Debatten über Klima und Umwelt deshalb wieder versachlichen.

Traktoren säumen eine Straße in Madrid. Das Bild illustriert einen Beitrag über Debattenkultur und Polarisierung bei Naturschutz und Klimathemen.
„Bauernproteste“ im Februar in Barcelona: Die Protestwelle von Landwirten hat zur Zurücknahme einiger Maßnahmen im Green Deal der EU geführt und zur Abschwächung von Umweltschutzstandards in der Gemeinsamen Agrarpolitik (GAP). Aktuell steht das Nature Restoration Law auf der Kippe. © Getty Images

 Franz Essl ist einer der profiliertesten Ökologen und Biodiversitätsforscher. Einen Namen hat er sich insbesondere durch seine Forschung zu Neobiota gemacht, Pflanzen- und Tierarten, die meist durch menschlichen Einfluss Lebensräume erobern, in denen sie eigentlich nicht vorkommen. In jüngster Zeit mischt sich Essl verstärkt in die gesellschaftlichen Diskurse zur Klima- und Umweltpolitik ein. Denn: „Das Problem ist, dass wir mit einer polarisierten Debatte zu einer Politik kommen, die Zukunftsentscheidungen nicht trifft und damit letztlich unsere eigenen Zukunftsmöglichkeiten beschränkt.“


Herr Essl, was beschäftigt Sie gerade?

Franz Essl: Es ist unter anderem eine Diskrepanz, die mich beschäftigt. Auf der einen Seite gibt es eine sich verschärfende Biodiversitäts- und Klimakrise, die definitiv großen Handlungsbedarf mit sich bringt, und ihr gegenüber steht ein gesellschaftlicher und politischer Diskurs zu diesem Thema, der diesem nicht gerecht wird. Es ist keine besonders überraschende Feststellung, dass die politische Mitte und auch die Fähigkeit, sich im Diskurs mit schwierigen Fragen gesellschaftlich angemessen auseinanderzusetzen, erodiert. Aktuell ist es insbesondere das EU Restoration Law, also das Gesetz zur Wiederherstellung der Natur, das Renaturierungsgesetz, das mich sehr beschäftigt, aber der Bogen spannt sich viel weiter. Im Grunde geht es darum, wie sehr man sich in den aktuellen Diskurs einbringen will oder muss.

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Ist es für Sie eine neue Entwicklung, dass sich diese Frage für Sie stellt?

Das Thema hat für mich in den letzten Jahren an Aktualität und an Bedeutung gewonnen. Dafür gibt es mehrere Faktoren: Zum einen zeigen die Messdaten eine starke Beschleunigung des Klimawandels, die letzten drei Jahre waren mit Abstand die wärmsten überhaupt. Das ist leider unumstößlich, mir wäre auch lieber, es wäre anders.

Zum zweiten sehe ich aber auch, dass der Diskurs darüber in Österreich und Europa polarisiert ist und sich von den wissenschaftlichen Fakten löst. Die Regeln von Physik und Chemie, die wir im Alltag ja auch anerkennen, gelten auf einmal nicht mehr. Diese Entwissenschaftlichung oder eher Diskreditierung von Wissenschaft funktioniert, denke ich, weil so auch Antworten möglich sind, die vordergründig vielleicht angenehm sind, vielleicht auch weniger Handlungsdruck erzeugen. Letztlich führt uns dies als Gesellschaft aber in die falsche Richtung. Klima und Umweltschutz sind an sich ja keine Partisanenthemen, aber sie werden zu solchen gemacht. Ich denke, dass diese Aufladung eine neue Dimension erreicht hat.

Inwiefern ist die Situation heute anders als früher?

Ja, ich erlebe das als eine Erosion des Diskurses und als einen Verlust dessen, was man vielleicht als politische Mitte bezeichnen könnte. Das ist ein ernstes Problem, denn es ist Teil der Demokratie, dass Entscheidungen ausverhandelt werden müssen, dass es unterschiedliche Auffassungen gibt. Um Entscheidungen zu treffen, braucht es daher den Diskurs auf Augenhöhe, die Bereitschaft, ernsthaft zuzuhören und faktische Argumente und Fakten außer Streit zu stellen. Aktuell sieht man am Green Deal und Wiederherstellungsgesetz, dass diese Voraussetzungen heute oft nicht mehr gegeben sind.

Foto eines Feldes mit Pflanzen
Die Börde in Sachsen-Anhalt hat besonders humusreiche Böden. Intel errichtet in dem Gebiet eine Chip-Fabrik und die Autobahn A14 wird erweitert. Die Böden werden derzeit abgetragen und auf andere Felder verbracht. © Getty Images

Ist diese Polarisierung denn tatsächlich erfolgreich, also bildet sie ab, was viele über bestimmte Themen, zum Beispiel den Green Deal, denken?

Das Problem ist, dass wir mit einer polarisierten Debatte zu einer Politik kommen, die Zukunftsentscheidungen nicht trifft und damit letztlich unsere eigenen Zukunftsmöglichkeiten beschränkt. Klima- und Umweltpolitik sind meines Erachtens zu wichtig, gerade auch für eine Demokratie, um sich den Fragen nicht ernsthaft zu stellen.

Es braucht angesichts der Beschleunigung des Klimawandels und des rapiden Verlusts an Arten und an Natur Politiker oder Politikerinnen, die den politischen Willen und die politische Leadership haben, notwendige Entscheidungsprozesse ernsthaft und seriös zu ermöglichen und getroffene Entscheidungen dann auch umzusetzen. Gerade in der Umweltpolitik ist die Differenz zwischen Beschlüssen – das Klimaabkommen von Paris, die Wiederherstellung von Natur auf Ebene der EU, das Kunming-Montreal-Protokoll, das das wichtigste Biodiversitäts-Protokoll ist, usw. – und der tatsächlichen Umsetzung viel zu groß. Die Einsicht ist ja scheinbar da, aber offenbar fehlt es am Mut oder an der Fähigkeit, dafür dann auch einzutreten.

Sie haben sich in der letzten Zeit daher immer wieder kritisch zur Umweltpolitik geäußert. Müsste sich die Wissenschaft in dieser Situation generell mehr einbringen?

Das ist eine wichtige Frage, die ich mir immer wieder stelle. Letztlich ist es eine persönliche Entscheidung, ob man wissenschaftliche Einsichten auch in den gesellschaftlichen Diskurs hineintragen will oder ob man sich lieber nicht darum kümmert, was damit geschieht. Nachdem Wissenschaftler auch Bürger sind, sehe ich für mich keinen Widerspruch zu meiner wissenschaftlichen Rolle. Es ist auch eine Chance, wissenschaftliche Einsichten für ein nichtfachliches Publikum nachvollziehbar zu machen. Ich möchte den Diskurs versachlichen.

Gibt es in Ihrem Fachgebiet so etwas wie eine Politisierung? Ökologie, Biologie, Klimaforschung usw. stehen ja im Zentrum der aktuellen politischen Auseinandersetzungen, was früher bei den Naturwissenschaften nicht so stark der Fall war.

Vor dem Hintergrund des verschärften Klimawandels hat sich wohl die Einsicht verstärkt, dass es angesichts der zu erwartenden Bedrohungssituationen vielleicht nicht oder weniger angemessen ist zu schweigen. Es ist erkennbar, dass diejenigen immer mehr werden, die eine Notwendigkeit sehen, ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse mehr in den Diskurs zu tragen. Das sollte eigentlich der restlichen Gesellschaft zu denken geben. Es braucht Zeit und Ressourcen, die man damit zusätzlich zu seiner eigenen Arbeit investiert. Es müssen also schwerwiegende Gründe vorliegen, damit einzelne Wissenschaftler das tun.

Eine Grauammer sitzt auf einem Zweig. Es ist ein kleiner Vogel mit beigen, braunen und rosa Federn in verschiedenen Schattirungen. Das Bild ist Teil eines Beitrags über die Polarisierung der Debatten um Naturschutz.
Eine Grauammer. Seit 1999 sind 95 Prozent der Grauammern aus Österreich verschwunden. Ihr Aussterben ist unter anderem eine Folge des Einsatzes von Pestiziden, auch fehlen Brachen und Hecken. © Samuel Schnierer / Bird Life

Um über Ihre Forschung zu sprechen: Ist auch bei dem Verlust von Biodiversität ähnlich wie beim Klima eine Beschleunigung festzustellen?

Der Rückgang von Arten oder von Lebensräumen ist nicht so schnell messbar wie die Entwicklung der Temperatur oder andere Klimadaten. Nichtsdestotrotz ist der Artenrückgang eindeutig. Es betrifft Insekten, aber auch Brutvögel. In Österreich zum Beispiel haben wir einen Rückgang bei den Brutvögeln in der Kulturlandschaft um 48 Prozent innerhalb von 25 Jahren. Ähnliche Entwicklungen sind auch global belegbar, etwa durch die Synthese-Berichte des Weltbiodiversitätsrates IPBES.

Die Klimaforschung kann durch Modellberechnungen die Temperaturentwicklung abschätzen und so darauf schließen, wieviel Zeit noch bleibt, das Ruder herumzureißen. Kann man für den Erhalt der Arten und Lebensräume, der intakten Natur insgesamt, sagen, wieviel Zeit noch bleibt?

Es gibt Zielvereinbarungen auch beim Umweltschutz. Das Problem mit diesen Zielvereinbarungen ist, dass sie nicht entsprechend durch Maßnahmen abgesichert werden. Es ist ein bisschen so, wie wenn man sagt, man möchte gerne im nächsten Jahr einen Marathon laufen, aber nie beginnt zu trainieren. Drei Wochen vor dem Marathon wird man feststellen, dass es sich nicht ausgeht. Was wir bei den Umweltzielen oder den Klimazielen sehen, ist genau das. Man beginnt dann, die Ziele weichzuspülen, statt dem Marathon sollen auch fünf Kilometer reichen oder man beschließt, dass Training nicht zumutbar ist. Das mag beim Sport noch gehen, aber in der Klimapolitik steht definitiv zu viel auf dem Spiel.

Damit sind wir wieder bei dem Diskursthema. Was kann man tun, um ihn zu versachlichen?

Es ist wichtig, gesellschaftliche Schnittmengen zu finden. Ich bin Mitglied einer Initiative von etwa 30 Personen, die parteiungebunden Privatpersonen mit unterschiedlichen Hintergründen vernetzt. Wir haben diese Initiative mehrGrips, an der Vertreter aus der Wirtschaft, NGOs, Wissenschaft und Zivilgesellschaft beteiligt sind, vor kurzem vorgestellt. Wir werden in verschiedenen Arbeitsgruppen Lösungsansätze, Ideen und Maßnahmen zu bisher vier Themengebieten entwickeln. Der ganze Ansatz zielt darauf ab, die gemeinsamen Schnittmengen zu finden. Ich glaube, dass es solche Initiativen und solche Zugänge braucht, um dieses Auseinanderdriften zu beenden.

Zeigt Ihre Initiative dann nicht auch, dass dieses Auseinanderdriften künstlich erzeugt ist?

Was ist künstlich? Klimapolitik ist sehr stark emotional aufgeladen, auch deshalb – das ist meine Vermutung – weil inzwischen spürbar ist, welche Einschränkungen mit einer sich verschärfenden Umwelt- und Klimakrise einhergehen. Sie macht Gesellschaften anfällig und instabil. Viele Menschen haben eine negative Zukunftsperspektive. Man kann diese Gefühle politisch aufgreifen und verstärken, und das ist das, was gerade geschieht. Das löst aber das Problem nicht. Eine Krankheit verschwindet nicht, wenn ich die Diagnose leugne. Im Gegenteil, unbehandelt wird eine Krankheit in der Regel schlimmer.

Über Franz Essl

Portrait des Biologen und Ökologen Franz Essl an einem Tisch sitzend.
Franz Essl. © Thomas Lehmann

Franz Essl ist Ökologe und forscht und lehrt am Department für Botanik und Biodiversitätsforschung der Universität Wien. Er hat 2019 den Österreichischen Biodiversitätsrat mitbegründet und zählt unter anderem durch seine Forschung zu Neophyten zu den Highly Cited Researchers im Bereich Umweltwissenschaften. Seine Forschungsschwerpunkte sind die globale Verbreitung gebietsfremder Arten, der Verlust der Artenvielfalt und die Biodiversitätskrise. Der Zusammenhang von Klima- und Biodiversitätskrise ist das Thema eines Beitrags von Franz Essl im Pragmaticus. 2024 gründete er gemeinsam mit Experten die Initiative mehrGrips. Er ist Mitglied im Kernteam von ReSurveyEurope des European Vegetation Archives (EVA), einer Datenbank zu den Lebensräumen von Pflanzen.

Über diese Serie

„Was beschäftigt Sie gerade?“ ist eine Interviewreihe des Pragmaticus, in der unsere Expertinnen und Experten von ihrer Forschung und allem, was sie beschäftigt, erzählen. Die Themen und der Umfang des Gesprächs sind offen.

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