Die größten Rätsel der Wissenschaft (I)

Menschen erforschten das Weltall und die tiefsten Stellen der Ozeane. Wir können heute Krankheiten heilen, die früher ein Todesurteil bedeuteten. Trotzdem gibt es noch immer Rätsel der Wissenschaft, deren Lösung große Fortschritte bringen würde.

Illustration für die größten Rätsel der Wissenschaft.
Wir wissen vieles, aber noch viel mehr wissen wir nicht. © Ulrich Fuchs

Im Rückblick wirkt alles logisch. Natürlich ist es besser, Fleisch vor dem Verzehr ins Feuer zu legen. Natürlich ist es einfacher, Dinge auf Rädern zu transportieren. Natürlich dreht sich die Erde um die Sonne und nicht umgekehrt. Doch all diese Erkenntnisse mussten mühsam erarbeitet werden. Woher hätten unsere Vorfahren wissen sollen, dass jenes Feuer, das nach einem Blitzeinschlag den Wald in Flammen setzt, nicht nur eine Gefahr für Leib und Leben darstellt, sondern auch das Leben einfacher macht? 

Seit der Mensch existiert, will er verstehen, wie die Welt funktioniert, auf der er sich bewegt – und das All rund um ihn herum. Diese Neugier hat oft einen Preis. Vermutlich sind nicht wenige unserer Vorfahren verbrannt bei dem Versuch, das Feuer zu bändigen. Die Mitmenschen reagierten auch nicht zu allen Zeiten euphorisch, wenn jemand ein Rätsel löste, das festgefahrene Einstellungen oder ganze Weltbilder über Bord warf. Galileo Galilei musste diese Erfahrung machen, als er herausfand, dass die Erde um die Sonne kreist, und für diese – wie wir heute wissen, natürlich komplett richtige – Behauptung in lebenslangem Hausarrest endete.

Es konnte sogar vorkommen, dass Menschen ihren Entdeckergeist mit dem Leben bezahlten: Der russische Arzt Alexander Bogdanow etwa forschte an Bluttransfusionen, bis er sich im Jahr 1928 dabei mit Malaria und Tuberkulose infizierte und verstarb. Die Physikerin Marie Curie starb 1934 an den Folgen radioaktiver Strahlung, deren Gefahren damals noch nicht bekannt waren. 

Antworten gesucht

Auch im Jahr 2024 steht die Wissenschaft vor unbeantworteten Fragen. In diesem Report sowie im zweiten Teil (siehe hier) berichten elf führende österreichische Wissenschaftler, welches für sie das größte Rätsel ihres Fachgebiets darstellt. „Wie ist der Mensch entstanden?“, fragt sich etwa Christa Schleper. Forscherkollege Jürgen Eckert wüsste gerne, wie sich das ideale Material herstellen ließe, während die Mathematikerin Sandra Müller rätselt, ob es unendlich viele Unendlichkeiten gibt. Ein sehr aktuelles Thema behandelt der KI-Experte Markus Schedl: Wie lässt sich das Vertrauen in KI wieder herstellen? Lesen Sie hier unsere Pragmaticus-Rätselrallye!

1. Wie ist das Leben entstanden?

von Renée Schröder

Es gibt zwei ganz unterschiedliche Zugänge zu neuem Wissen: Der erste zielt darauf ab, offene Fragen und Probleme zu identifizieren, um dann mit den bewährten Methoden eine Antwort zu finden. Dieser Zugang behandelt Fragen, die seit langem offen sind, weil die zur Beantwortung notwendigen Methoden (noch) nicht existieren. Etwa: „Was ist das Bewusstsein?“ oder „Was ist das Ich?“. Der zweite Zugang ist der wesentlich innovativere: Dinge oder Prozesse zu entdecken, von deren Existenz noch keiner wusste – zu denen es also gar keine konkreten Fragen geben kann. 

Mein Forschungsgebiet war über vier Jahrzehnte lang die Ribonukleinsäure (RNA), ihre Funktionen und ihre Arbeitsweise. Als Chemikerin interessieren mich Moleküle – was sonst?

Rätsel der Wissenschaft: RNA
Niemand weiß, wie die ersten RNA-Moluküle entstanden sind. © Ulrich Fuchs

Was ist also das größte Rätsel der RNA-Forschung? Es ist die Frage, wie die ersten RNA-Moleküle in der Ursuppe entstanden sind, die in der Lage waren, die Entstehung von Leben in Gang zu setzen. Welche RNAs waren das? Wie haben sie sich stabilisiert, und wie haben sie die eigene Synthese beschleunigt? Würden wir das verstehen, wüssten wir zugleich, ob die derzeit beliebteste Hypothese zur Entstehung des Lebens – die „RNA-Welt-Hypothese“ – chemisch möglich gewesen sein könnte.

RNA kann beides: Information speichern und Funktionen ausführen.

Die „RNA-Welt“ nimmt an, dass es während der Entstehung des Lebens eine Phase gegeben haben muss, in der RNA-Moleküle sowohl die Aufgabe der Genetik (Information speichern und weitergeben) als auch die der Katalyse und Regulation innehatten. Die RNA kann nämlich beides: Information speichern und Funktionen ausführen.

Die Bedeutung der Grundlagen

In der Grundlagenforschung geht es um das Verstehen von Prozessen, nicht um deren kommerzielle Nutzbarkeit. Als Grundlagenforscherin bin ich der Meinung, dass niemand von einem bestimmten neuen Wissen profitieren muss. Die Naturwissenschaften als Grundpfeiler der Bildung könnten aber helfen, die derzeit zunehmende religiöse Dominanz mit all ihren kriegerischen Auswirkungen zu reduzieren. Das Wissen und Verstehen von Naturprozessen ist das höchste Gut, welches die Menschheit schaffen kann. Es wäre höchste Zeit, dass weltweit und vor allem auch in Österreich Naturwissenschaften zur Allgemeinbildung erhoben werden. 

Ein wichtiges Ziel unserer Forschung ist natürlich die Heilung von Krankheiten und die Abschaffung des Alterungsprozesses. Davon sind wir gar nicht weit entfernt, obwohl immer neue Krankheiten und Krankheitserreger entstehen. Um ehrlich zu sein, würde ich sehr gerne noch hunderte Jahre leben, um zu erfahren, was wir dann alles wissen und verstehen werden. Sicher sind Dinge dabei, deren Existenz heute noch unbekannt ist.

Illustration von Renée Schröder.
Renée Schröder ist Biochemikerin und selbst ernannte Kräuterhexe. © Andreas Leitner

2. Warum ist die Erde einmalig?

von Christiane Helling

Die Erde ist etwas ganz Besonderes. Masse und Dichte des Planeten schaffen in Kombination mit seinem Zentralgestirn, der Sonne, eine physiko-chemische Umgebung, in der Leben entstehen und sich entwickeln kann. In den Weiten des Universums ist das die große Ausnahme. 

Wir kennen mehr als 5.300 Planeten, acht davon umkreisen unsere Sonne. Viele der bekannten extrasolaren Planeten umkreisen Sterne, die unserer Sonne ähneln, aber nicht gleichen. Es gibt auch Planeten, die den Gasriesen des Sonnensystems, Jupiter und Saturn, ähneln, aber nicht gleichen. Diese Exoplaneten können viel heißer als Jupiter und Saturn sein, da sie entweder kleinere Umlaufbahnen haben oder heißere Sterne umkreisen. Man nennt sie daher ultraheiße Gasriesen. 

Extreme Temperaturunterschiede

Auf diesen Planeten führen Temperaturunterschiede zwischen Tag und Nacht von zirka 2.500 Grad zu enormen Stürmen, die sich insbesondere in der Äquatorregion manifestieren. Diese Stürme rasen durch heiße atmosphärische Gase, die durch ein großskaliges planetares Magnetfeld auf der Tagesseite festgehalten werden. Auf der Nachtseite rasen sie durch Edelsteinwolken und ein kaltes Gas, welches vom planetaren Magnetfeld kaum etwas merkt.

Rätsel der Wissenschaft: Die Erde
Warum gibt es gerade auf der Erde Leben? © Ulrich Fuchs

Die meisten der bekannten Exo-Gesteinsplaneten findet man in Planetensystemen, die um magnetisch über lange Zeit sehr aktive rote Zwergsterne kreisen. Die magnetischen Winde unserer Sonne haben die Atmosphäre des Merkur zerstört und auch die der anderen Planeten permanent erodiert. Wie kommt es also, dass unser Heimatplanet bei all dieser kosmischen Vielfalt so anders ist und fein abgestimmte Bedingungen für Leben bietet?

Es geht hier um das Verständnis unserer Herkunft im kosmischen Kontext.

Mit der Lösung dieses Rätsels könnten wir die Frage nach dem Ursprung der Menschheit selbst beantworten. Es geht hier gar nicht so sehr um die Lösung eines Rätsels als vielmehr um das Verständnis unserer Herkunft im kosmischen Kontext.Auf dem Weg zur Antwort werden wir unvorhersehbare Entdeckungen machen und Einsichten gewinnen. Das ist das Wesen sowie die Bedeutung von Grundlagenforschung.

Neue Heilungschancen

Wir werden die Prozesse verstehen, welche die Zentralgestirne jedes Planetensystems zum Leuchten bringen sowie deren Entwicklung in verschiedenen Galaxien bestimmen. Wir werden auch verstehen, warum verschiedene Wellenlängen der Zentralgestirne verschiedene biologische Prozesse ermöglichen oder verhindern. Diese Erkenntnis wird uns in der Medizin helfen, bisher unbekannte Heilungsmöglichkeiten zu schaffen. 

Wir werden Instrumente für Weltraummissionen bauen, die nach diesen Prozessen und deren Auswirkungen in anderen Planetensystemen suchen. Auf diesem Weg zur Lösungsfindung werden wir lernen, wie sich Planeten bei der Entstehung der verschiedenen Zentralgestirne in verschiedenen Regionen unserer Galaxie bilden. Planeten entstehen in Staubscheiben, die sich als Nebenprodukte der Sternentstehung bilden. Diese Staubscheiben sind ein wahres Eldorado für Kohlenwasserstoffchemie, aber auch für die Oberflächenchemie unter extremen Bedingungen. Der Weg zur Lösung führt uns zu den Atmosphären der bekannten Exoplaneten. Hier werden wir verstehen müssen, wie sich die chemische Zusammensetzung im Laufe der Zeit entwickelte, warum scheinbar gleiche Planeten verschiedene Atmosphären haben. 

Und hier schließt sich der Kreis zu den Planeten unseres Sonnensystems: Vielleicht müssen wir akzeptieren, dass unsere Atmosphäre fragil und die Erde im kosmischen Kontext einzigartig ist.

Illustration von Christiane Helling.
Christiane Helling ist Direktorin des Instituts für Weltraumforschung. © Andreas Leitner

3. Wie ist der Mensch entstanden?

von Christa Schleper

Eines der größten Rätsel in der Evolutionsforschung ist die Entstehung komplexer Lebensformen. Wie oder woraus haben Pilze, Pflanzen, Tiere und Menschen sich entwickelt? 

Mehr oder weniger einig ist sich die Wissenschaft, dass schon vor vier Milliarden Jahren – also knapp nach der Entstehung des Planeten – zwei Arten von relativ simplen Mikroorganismen entstanden sind: die Bakterien einerseits und die Archaeen andererseits. 

Schon vor vier Milliarden Jahren sind zwei Arten von relativ simplen Mikroorganismen entstanden: Bakterien und Archaeen.

Mehrzellige, höhere Organismen zu bilden gelang diesen beiden Gruppen nicht. Das schafften erst viel größere und komplexere Zellen – die sogenannten eukaryotischen Zellen. Der Name weist auf ihre Besonderheit hin: Karyon kommt aus dem Altgriechischen und bedeutet „Kern“. Diese Zellen verfügen also über einen Zellkern – und über noch viel mehr.

Wie Leben komplex wurde

In eukaryotischen Zellen gibt es etwa auch Mitochondrien, das sind Organe, die für den Stoffwechsel der Zelle zuständig sind. Weiters gibt es hier ein ausgeklügeltes Netzwerk von Transportröhrchen für kleinste Substanzmengen und ein elastisches Skelett (korrekt: Cytoskelett), das alles in Form hält. Wie entstanden all diese Strukturen? 

Aus der Genomforschung wissen wir, dass die Mitochondrien einst Bakterien waren, die irgendwann als nützlicher Bestandteil in den Bauplan eukaryotischer Zellen integriert wurden. 

Und der Rest? Da ist die Wissenschaft seit einer Entdeckung im Jahr 2015 in großen Schritten vorangekommen: Mit der Entdeckung der Asgard-Archaeen in der Tiefsee ist eine Linie der urtümlichen Mikroorganismen gefunden worden, die Urahnen der eukaryotischen Zellen sein könnten. Sie haben nämlich untypischerweise ein Cytoskelett. Möglicherweise ist also Folgendes passiert: Vor zwei Milliarden Jahren haben sich Asgard-Archaeen (mit ihren Skeletten) und Bakterien (als Vorläufer der Mitochondrien) zu eukaryotischen Zellen kombiniert. 

Können ganz neue Lebensformen entstehen?

Gab es dabei vielleicht noch einen dritten Partner? Wenn wir dieses Rätsel lösen könnten, wüssten wir vielleicht auch, ob selbst heute noch durch das Zusammenspiel verschiedener Organismen ganz neue Lebensformen entstehen können.

Bis wir das wissen, müssen wir uns damit begnügen, die Geschichte der höheren Lebensformen – zu denen auch wir gehören – nur in groben Zügen zu kennen. Die Pointe: Komplexe Lebensformen gingen letztlich aus der Zusammenarbeit zweier Gruppen von Mikroorganismen hervor, die sich vor vier Milliarden Jahren getrennt entwickelt hatten und zwei Milliarden Jahre später wieder zusammentrafen.

Illustration von Christa Schleper.
Christa Schleper ist Mikrobiologin und Umweltgenomikerin. © Andreas Leitner

4. Wie funktioniert das menschliche Gehirn?

von Peter Jonas

Trotz großer Fortschritte in den Neurowissenschaften bleibt das menschliche Gehirn ein großes Rätsel. Es besteht aus zirka 86.000.000.000 Nervenzellen (sogenannten Neuronen), die über rund 100.000.000.000.000 Kontaktstellen (sogenannte Synapsen) miteinander verknüpft sind. Die Grundfrage, wie aus der Aktivität dieser Zellen und Kontaktstellen höhere Gehirnfunktionen entstehen, ist nach wie vor ungelöst. Noch rätselhafter ist, in welcher Form im Gehirn Erinnerungen gespeichert werden. 

Rätsel der Wissenschaft: Das Gehirn
Noch immer ist die Funktionsweise des Gehirns nicht entschlüsselt. © Ulrich Fuchs

Die molekularen, zellulären und strukturellen Korrelate der gespeicherten Information, die sogenannten „Engramme“, werden seit vielen Jahren vergeblich gesucht („In search of the engram“, Lashley, 1950). Und dann ist da noch die Sparsamkeit des Gehirns: Moderne Computer reichen in ihrer Leistungsfähigkeit an das menschliche Gehirn heran. Aber unser Gehirn hat einen Energieverbrauch von nur 20 Watt – ein Meisterwerk der Energieeffizienz, das ebenfalls Rätsel aufgibt.

Das Gehirn ist wie das Weltall

Die Erforschung des Gehirns ist ein wenig mit der Erforschung des Weltalls vergleichbar. Beide Systeme sind ähnlich komplex. Sie zu beschreiben und zu verstehen ist zunächst eine große Herausforderung für die Wissenschaft per se, unabhängig von jeder möglichen Anwendung. Genauso wie wir nach außen blicken und Teleskope bauen, um das Weltall zu erforschen, müssen wir auch nach innen schauen, unter anderem mit feinsten Messelektroden und Mikroskopen, um das Gehirn besser zu verstehen. 

Die Erforschung des Gehirns ist ein wenig mit der Erforschung des Weltalls vergleichbar.

Um Erkrankungen des Gehirns wie Epilepsie, Schizophrenie oder vielleicht auch neurodegenerative Erkrankungen gezielt therapeutisch anzugehen, brauchen wir mehr Wissen über die zugrunde liegenden Mechanismen im gesunden Gehirn. 

Das Gehirn kopieren

Das ist auch eine schöne Perspektive für das ISTA in Klosterneuburg: gestern eine psychiatrische Klinik („Gugging“), heute ein Spitzenforschungsinstitut („ISTA“) und morgen vielleicht der Inkubator für die Entwicklung neuer medizinisch-therapeutischer Strategien („Xista“). 

Aber es gibt auch ganz andere Anwendungen: Eine Möglichkeit, moderne Computer leistungsfähiger und energieeffizienter zu machen, ist es, die Strategien des Gehirns zu kopieren. Es gibt ja viele Beispiele, wie der Mensch erfolgreich biologische Prinzipien kopiert hat – Flügelprofile, Klettverschlüsse oder den Lotuseffekt. Ein ähnlicher Ansatz, Funktionsprinzipien des Gehirns zu kopieren, erscheint sehr vielversprechend. Wiederum brauchen wir hierfür mehr Wissen über die zugrunde liegenden elementaren Prozesse. 

Illustration von Peter Jonas.
Peter Jonas ist Professor für Neurowissenschaften am Institute of Science and Technology. © Andreas Leitner

5. Wie können wir von den Lösungen der Natur profitieren?

von Ille Gebeshuber

Bioniker lernen von der belebten Natur für die Technik. Und das größte Rätsel in der Bionik liegt in uns Menschen selbst. Die Natur hat die Probleme ja schon gelöst. Man sollte nur lernen, die Lösungen zu sehen und zu verstehen. Daher verlangt die Beschäftigung mit der Bionik aktive Neugierde und gelebte Interdisziplinarität; Eigenschaften, die den jungen Menschen in unserem Ausbildungssystem, das oft unreflektiertes Auswendiglernen und Spezialistentum fördert, zu wenig mitgegeben werden. Deshalb ist es extrem mühsam, die jungen Akademiker an die Wunder der Natur heranzuführen. Und uns allen fällt es schwer, die fest eingetretenen Pfade unseres Denkens zu verlassen und uns gedanklich auf die Natur einzulassen.

Rätsel der Wissenschaft: Bionik
Die Natur hat die besten Lösungen – wir müssen lernen, von ihr zu lernen. © Ulrich Fuchs

In diesem Zusammenhang ist das Zitat des deutschen Philosophen Arthur Schopenhauer zutreffend, der gesagt hat: „Die Aufgabe ist nicht nur, zu sehen, was noch keiner gesehen hat, als auch bei dem, was jeder sieht, zu denken, was noch keiner gedacht hat.“

Das Problem ist die Lösung

Es ist also wichtig, offen zu sein und das Gegebene mehrmals zu hinterfragen. Bei vielen Dingen in der belebten Natur muten uns die Formen und Abläufe oft wenig sinnvoll an, aber es gibt immer einen Grund für die jeweiligen Ausformungen. Und dabei werden die angestrebten Funktionen oder Eigenschaften mit minimalem Aufwand und den Materialien, die gerade vorhanden sind, erreicht. 

Unser Prozess geht von der Idee zur Lösung. Viele Lebewesen wählen einen anderen Weg.

Das eigentliche Problem in der Bionik beginnt mit dem menschlichen Lösungsansatz: Wir identifizieren ein Problem und arbeiten dann an einer konkreten Lösung – so gut wir können, mit den Werkzeugen und Ressourcen, die wir haben. Der Prozess geht also von der Idee zur Lösung. Viele Lebewesen wählen einen anderen Weg. Oft führen viele kleine Variationen, die im Wettbewerb der Natur und im Rahmen selektiver Prozesse (wie zum Beispiel der Partnerwahl) auf ihre Effektivität hin überprüft werden, zu einem für die jeweilige Situation akzeptablen Kompromiss. Das nennt man (Über-)Leben. 

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Zahlen & Fakten

Vieles, vielleicht sogar alles ist in der Natur miteinander verwoben, weshalb es schwierig ist, einzelne Lösungsansätze und Ideen zu isolieren. Eigentlich muss der Bioniker, der von der Natur über deren spezifische Lösungen ja nur eine Anregung bekommt, die Idee dazu entwickeln. Es läuft umgekehrt, wie in unserer technisierten Gesellschaft.

Illustration von Ille C. Gebeshuber
Ille C. Gebeshuber ist Physikerin. © Andreas Leitner

6. Kann es Supraleiter bei Raumtemperatur
geben?

von Manfred Mark

Jeder elektrische Leiter besitzt eine Eigenschaft namens „elektrischer Widerstand“, der zur Erwärmung des Leiters und dadurch zu Verlusten bei der Übertragung von elektrischer Energie führt. 1911 entdeckte der niederländische Physiker Heike Kamerlingh Onnes, dass Quecksilber bei zirka 4 Grad über dem absoluten Nullpunkt (–273,15 °C) seinen elektrischen Widerstand plötzlich vollständig verliert.

Im Laufe der nächsten Jahre wurden weitere Materialien wie zum Beispiel Blei und Niob-Legierungen gefunden, die bereits bei etwas weniger tiefen Temperaturen so reagieren. Diese sogenannten „Supraleiter“ besitzen auch weitere ungewöhnliche Eigenschaften, wie zum Beispiel den Meißner-Effekt, der dazu führt, dass sie externe Magnetfelder abstoßen.

Reibungsfrei durch den Leiter

Erst rund 45 Jahre später konnten theoretische Physiker eine Theorie entwickeln, die schlüssig erklärt, wie es überhaupt zum Supraleiter-Effekt kommen kann. Die Elektronen, welche für den Stromfluss verantwortlich sind, stoßen normalerweise an Störungen im Gitter des Leitermaterials oder werden durch die Gitterschwingungen gestört, wodurch Energie verloren geht. 

Dieser Durchbruch erzeugte aber ein neues Rätsel: Wie funktioniert die Hochtemperatur-Supraleitung eigentlich?

Die Idee ist nun, dass die Elektronen im Supraleiter sogenannte Cooper-Paare bilden. Mit der Quantenmechanik konnte gezeigt werden, dass sich diese Paare dann reibungsfrei durch den Leiter bewegen können. Dies war aber nicht das Ende der Geschichte, denn 1986 fand man eine neue Art von Materialien, welche bei viel „höheren“ Temperaturen supraleitend wurden. Dabei handelte es sich um Kupferkeramiken, welche eigentlich Isolatoren sind. Doch mit leichten Modifikationen funktionierten diese Hochtemperatur-Supraleiter bereits bei Temperaturen, die man mit flüssigem Stickstoff (–196 °C) erreicht.

Schon wieder ein Rätsel der Wissenschaft

Dieser experimentelle Durchbruch erzeugte aber ein neues Rätsel der Physik: Wie funktioniert die Hochtemperatur-Supraleitung eigentlich? Die ursprüngliche Erklärung der konventionellen Supra-leiter ließ sich nicht mehr auf diese neuen Materialien anwenden. Bis heute gibt es zwar ein paar Ansätze, aber noch keine zufriedenstellende Gesamttheorie. Supraleiter spielen eine wichtige Rolle, vor allem bei der Erzeugung extrem starker Magnetfelder wie etwa in Magnetresonanztomografen. Daher gibt es intensive Bemühungen, Supra-leiter zu finden, welche in der Nähe der Raumtemperatur funktionieren. Dies hätte immense Auswirkungen auf nahezu alle technologischen Bereiche, insbesondere auf die Energieerzeugung und -verteilung.

Allerdings gestaltet sich die Suche derzeit eher schwierig. Eine realistische Simulation der Eigenschaften von solchen Materialien liegt selbst für Supercomputer außer Reichweite. Würde man jedoch das Rätsel lösen und die zugrunde liegenden Mechanismen von Hochtemperatur-Supraleitern verstehen, könnte man gezielt Materialien designen und testen und eines Tages tatsächlich eine neue Ära einläuten.

Illustration von Manfred Mark.
Manfred Mark ist Senior Scientist am Institut für Experimentalphysik der Universität Innsbruck. © Andreas Leitner

Lesen Sie hier Teil 2:

Die größten Rätsel der Wissenschaft (II)

Menschen waren auf dem Mond, auf den höchsten Bergen und in der Tiefsee. Wissenschaftler blicken mit ihren Teleskopen bis zum Anfang des Universums.Trotzdem gibt es noch immer Rätsel, deren Lösung große Fortschritte bringen würde.

ist Direktor des Instituts für Hochenergiephysik der Österreichischen Akademie der Wissenschaften
ist Professor für Materialphysik an der Montanuniversität Leoben
ist vielfach ausgezeichneter Genetiker
Informatikprofessor an der Johannes Kepler Universität Linz
ist Professorin für Mathematik an der Technischen Universität Wien

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