Im Zickzack durch die Krisen
Putins Wirtschaftspolitik wirkt erratisch, doch die radikalen Kurswechsel der letzten 20 Jahre verfolgen stets ein klares Ziel: die Macht des Präsidenten zu erhalten. Zwischen Markt und Plan ist in den „Putinomics“ alles möglich.
Auf den Punkt gebracht
- Ambitionierter Start. Zu Beginn seiner Präsidentschaft präsentierte sich Wladimir Putin als großer Reformer und unterstützte die Marktwirtschaft.
- Störfall Chodorkowski. Der Wirtschaftsaufschwung machte einige russische Unternehmer reich und politisch ambitioniert – zum Missfallen Putins.
- Trouble-Shooting. Die auf den Fall Chodorkowski folgende Verstaatlichung von Unternehmen vertiefte die Korruption im Land.
- Nebelgranaten. Die Weltwirtschaftskrise traf Russland umso härter. Mit politischen Manövern lenkt Putin seither vom ökonomischen Stillstand im Land ab.
Der Rubel rollt – oder auch nicht. Seit 22 Jahren hangelt sich die russische Wirtschaft durch Phasen von Wachstum, Krise und zuletzt Stagnation. Für diese Dynamik hat sich der Begriff „Putinomics“ unter Fachexperten etabliert. Es ist ein Wortmix aus Putin und Economics und bezeichnet die ökonomische Entwicklung des Landes, die ganz von Putin bestimmt wird. Seit 1999 ist sie ein Abbild des Putin'schen Machtkalküls.
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Im Schnelldurchlauf
Genauer betrachtet lässt sich Putins Wirtschaftspolitik in vier Phasen untergliedern. Bereits 1999 startete Putin als „Reformer“, der versuchte, der strauchelnden russischen Wirtschaft wieder auf die Beine zu helfen. Die zweite Phase begann 2003, als Putin den russischen Geschäftsmann Michail Chodorkowski verhaften ließ. Da wurde er zum „Etatisten“, verschaffte dem Staat also einen stärkeren Einfluss auf Unternehmen. Mit der Weltwirtschaftskrise von 2008 startete Putins Zeit als „Krisenmanager“. Die Annexion der Krim 2014 läutete dann eine bis heute andauernde Periode der „Isolation und Stagnation“ ein. Soweit die Kurzfassung.
Doch zurück zum Beginn und den goldenen Zeiten: Von 1999 bis 2008 erlebte die russische Wirtschaft das schnellste Wachstum seit Beginn der Aufzeichnungen im Jahr 1885. Das russische Bruttoinlandsprodukt (BIP) wuchs mit einer jährlichen Rate von durchschnittlich sieben Prozent. Bis 2008 hatte es sich beinahe verdoppelt. Die dramatische Aufwertung des Rubels dank steigender Ölpreise und massiver Auslandsinvestitionen schlug sich auch im Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung nieder. Umgerechnet in Dollar hat jeder Russe binnen neun Jahren den neunfachen Wohlstand erwirtschaftet: Verdiente ein Bürger 1999 noch circa 1.400 US-Dollar pro Jahr, waren es 2008 bereits 12.500 US-Dollar. Im selben Zeitraum sank die Arbeitslosigkeit von 13 auf sechs Prozent, die Armut von 28 auf 13 Prozent.
Reformen und Ölgeschäft
Wie lässt sich dieses Wirtschaftswunder erklären? Zunächst hatte Putin das Glück, das Amt des Präsidenten just dann von Boris Jelzin zu übernehmen, als sich die russische Wirtschaft von der Russlandkrise 1998 zu erholen begann. Der schwache Rubel befeuerte in Verbindung mit steigenden Ölpreisen das Wachstum; parallel dazu begannen die Marktreformen aus den 1990er-Jahren zu wirken. Diese waren von Jelzins Wirtschaftsminister Jegor Gaidar initiiert worden. Putin setzte diesen Reformkurs fort und vereinfachte das Steuersystem, baute unnötige Regulierungen für Unternehmen ab und liberalisierte den Markt für Grund und Boden. Zudem führte er eine Einlagensicherung ein und stabilisierte die Staatsfinanzen.
Doch 2003 fand dieser Reformkurs ein jähes Ende. Das hatte zwei Gründe: Einerseits stiegen die Ölpreise erheblich, so dass sich Putins Regierung fortan stärker auf die Besteuerung der Öleinnahmen konzentrierte, statt den Privatsektor zu stützen. Andererseits spielte Michail Chodorkowski, der in dieser Phase des Aufschwungs zum reichsten Mann Russlands geworden war, eine wichtige Rolle.
Sündenfall Chodorkowski
Chodorkowskis öffentliche Kritik an Korruption in staatlichen Ölfirmen und offene Unterstützung von Oppositionsparteien wurde zur Bedrohung für Putin. Die Verhaftung des Oligarchen im Oktober 2003 markiert einen wichtigen Wendepunkt in Putins Wirtschaftspolitik: Es begann eine Welle der Verstaatlichung. Den Auftakt machte Chodorkowskis Firma Yukos, zum damaligen Zeitpunkt die größte russische Ölgesellschaft. Ihr sollten viele weitere folgen. Es entstanden sogenannte Staatsbetriebe, über die Putin bis 2008 die Kommando-Hoheit über sämtliche strategisch wichtige Sektoren wie Energie, Transport, Banken und sogar Innovation erlangte.
Doch nicht alle Bereiche fielen der Verstaatlichung zum Opfer. Es gab Branchen, die weiterhin nach marktwirtschaftlichen Kriterien geführt werden konnten, etwa die Telekommunikation, der Einzelhandel oder die Metall- und Bergbauindustrie. Dort ging der freie Wettbewerb weiter. Doch fortan war klar: Die Spielregeln hatten sich geändert und die Politik war dabei, die Macht zu übernehmen. Jeder private Geschäftsmann – ganz gleich, wie reich – tat seither gut daran, Putin nicht herauszufordern.
Freie Bahn für Korruption
Der Staat breitete sich in den Betrieben aus – und die Korruption folgte auf dem Fuße. Das wiederum verschlechterte das Investitionsklima. Bis 2008 verlief dieser Prozess noch relativ glimpflich, da weder das russische Wirtschaftswachstum noch der Zufluss ausländischer Investitionen ins Land abriss. Die Ölpreise stiegen weiter und Russlands Bevölkerung entdeckte den Konsum: Es wurde gekauft und gekauft und gekauft. Der Kaufrausch der 2000er-Jahre vermittelte den Leuten den Eindruck, ihr Land sei plötzlich wirtschaftlich erstarkt. Der Erfolg wurde dem Mann an der Spitze des Landes und seiner Politik zugeschrieben und schlug sich auch in Putins Popularitätswerten nieder. Im September 2008 erreichten diese 88 Prozent – den höchsten Wert seit Putins Amtsantritt.
Seit dem Fall Chodorkowski tat jeder private Geschäftsmann – ganz gleich, wie reich – gut daran, Putin nicht herauszufordern.
Doch dann ging Putins Wirtschaftsstrategie die Puste aus. Klar erkennbar wurde das nach der Finanzkrise von 2008, nach der es drei Jahre dauern sollte, bis die russische Wirtschaftsleistung ihr Vorkrisenniveau erreicht hatte. Auch noch im Jahr 2013 lag das russische BIP-Wachstum bei unter zwei Prozent – und damit viel niedriger als jene sechs Prozent, die Putin während seines Wahlkampfes 2012 versprochen hatte. Wenig überraschend waren deshalb auch die sinkenden Zustimmungswerte für Wladimir Putin. Ihr historischer Tiefstand kam im November 2013, als sie auf 61 Prozent fielen.
Putin, der Eroberer
Eine Möglichkeit, seine Popularität im Land wieder zu verbessern, war die Annexion der Krim. Dieser illegale geopolitische Schachzug besaß genügend politische Wirkmacht, um seine negativen wirtschaftlichen Auswirkungen in den Hintergrund rücken zu lassen. Denn der Westen reagierte mit wirtschaftlichen Sanktionen. Parallel dazu forcierten die USA die Gewinnung von Erdgas durch Fracking-Methoden, was zu einem starken Rückgang der weltweiten Energiepreise führte. In Folge stürzte die russische Wirtschaft in eine weitere Rezession, die sich allerdings als weniger schwerwiegend als jene im Jahr 2009 erweisen sollte.
Der große Unterschied bestand darin, dass die russische Zentralbank in den Jahren 2008 bis 2009 versuchte, den Rubelkurs zu stützen – und dabei 200 Milliarden Dollar an Reserven verbrannte. Noch entscheidender war, dass die russischen Exporte überteuert waren und die interne Finanzierung komplett zum Erliegen kam. Die russischen Banken verstanden, dass der Rubel angesichts des niedrigen Ölpreises in den darauffolgenden Monaten dramatisch an Wert verlieren würde. US-Dollar zurückzuhalten und auf die Abwertung zu warten, versprach also höhere Renditen zu bringen, als Rubel zu einem vernünftigen Zinssatz an russische Unternehmen zu verleihen. Mit dieser Strategie trugen auch die Banken ihren Teil zur Verschärfung der Rezession bei. Infolgedessen brach das russische BIP im Jahr 2009 um acht Prozent ein. Es war der größte Rückgang des BIP unter den G20-Staaten.
Rezession aushalten
Doch bei der Rezession 2014 hatte die russische Zentralbank ihre Lektion aus der vorigen Krise gelernt. Sie ging zu einem flexiblen Wechselkurssystem über, das an ein Inflationsziel gekoppelt war. Als die Ölpreise Ende 2014 fielen, tat dies auch der Rubel, was die Wettbewerbsfähigkeit der russischen Exporteure wiederherstellte und einen plötzlichen Stillstand im Finanzsystem verhinderte. Der Rückgang des BIP im Jahr 2015 begrenzte sich auf zwei Prozent. Und tatsächlich: Die Erholung setzte bereits ein Jahr später ein.
Allerdings gab es einen weiteren Unterschied zwischen 2009 und 2014. 2009 hatte Russland einen großen Teil seiner Öleinnahmen ausgegeben, um die russischen Haushalte zu stützen. Damals stiegen die Haushaltseinkommen sogar leicht an, obwohl die Wirtschaftsleistung schrumpfte. Im Jahr 2014 hingegen stellte Putin seine geopolitischen Bestrebungen über die wirtschaftlichen Interessen des Landes und argumentierte, dass die Russen für die Annexion der Krim ohnehin dankbar sein würden – mit oder ohne staatliche Unterstützung für die Haushalte.
Hinter den Kulissen
Berühmt in diesem Zusammenhang ist die Anekdote des damaligen Premierministers Dmitri Medwedew, der Anfang 2016 von einer Rentnerin auf der Krim angesprochen wurde. Sie beschwerte sich, dass ihre monatliche Pension von 8000 Rubel – umgerechnet circa 100 Euro – bei den herrschenden Preisen nicht zum Leben ausreiche. Medwedew antwortete ihr:
Es ist im Moment einfach kein Geld da, aber halten Sie durch. Haben Sie einen guten Tag und bleiben Sie bei Laune.
Dmitri Medwedew
Zu diesem Zeitpunkt befanden sich in Russlands Nationalem Wohlfahrtsfonds 70 Milliarden Dollar, umgerechnet sechs Prozent des BIP – doch die Regierung sah keine Notwendigkeit, die Einkommen der Bürger zu stützen. Infolge sanken die Reallöhne um etwa zehn Prozent und liegen auch heute noch zehn Prozent unter dem Niveau von 2013.
Wie das System Putin funktioniert
Nach 2014 wurde klar, wie Putins Wirtschaftsmodell aussehen sollte und wie „Putinomics“ weiter funktionieren soll.
- Putin verlässt sich auf die Kommando-Hoheit des Staates über die russischen Schlüsselindustrien. Konkret heißt das, dass der private Sektor und ausländische Investoren zwar erlaubt sind, dabei aber stets Juniorpartner des Staates sein müssen.
- Putin hat kein Interesse an der Schaffung fairer Wettbewerbsbedingungen für alle Marktteilnehmer. Die unerwünschte Nebenwirkung davon ist, dass auch kein lukratives Investitionsklima geschaffen wird.
- Putin glaubt fest an eine solide makroökonomische Politik. Er will Krisen des Staatshaushaltes wie jene von 1991 und 1998 vermeiden. Daher vertraut er darauf, dass die unabhängige Zentralbank mit ihrer Geldpolitik die Inflation kompetent im Zaum hält.
- Putin hat kein Interesse an einer Umverteilung von Vermögen, obwohl er in seinen politischen Reden immer wieder betont, dass er die Armut verringern will. Russland war und ist ein Land der großen Ungleichheit. Putins Ausgabenpolitik bevorzugt die Sicherheitsdienste, die Armee, die Polizei und die Propaganda. Soziale Maßnahmen, Bildung und Gesundheitsversorgung sind zweitrangig.
Die Tatsache, dass dieses Modell seit fast einem Jahrzehnt nicht mehr reformiert wurde, deutet darauf hin, dass Putin es für eine optimale Wahl hält. Dabei nimmt er in Kauf, dass es kein starkes Wirtschaftswachstum erzeugen kann. Die durchschnittliche BIP-Wachstumsrate in Russland liegt seit 2013 unter einem Prozent pro Jahr. Auf lange Sicht könnte sich das als Fallstrick für das System Putin erweisen, da eine vergleichbare Stagnation in den 1970er- und 1980er-Jahren immerhin ihren Beitrag dazu leistete, dass die Sowjetunion 1991 zusammenbrach.
Fokus auf Machterhalt
Warum will Putin dieses System also nicht ändern? Aus seiner eigenen Sicht ist sein Plan vollkommen rational. Wirtschaftliche Reformen würden darauf hinauslaufen, Korruption zu bekämpfen, Rechtsstaatlichkeit wiederherzustellen und den staatlichen Einfluss zurückzudrängen.
Indem Putin das vermeidet, verhindert er auch eine Deregulierung des Marktes und die Privatisierung von Unternehmen. Gerade das wäre für ausländische Investoren attraktiv. Im Zuge solcher Reformen würde allerdings auch eine Schicht von gut ausgebildeten Unternehmern entstehen, deren mögliche Forderungen nach einem unabhängigen Staat mit gewählten politischen Vertretern Putins persönlichen Interessen strikt zuwiderlaufen würden.
Da hält Putin lieber am Status Quo fest: also kein Wachstum. Die Einnahmen aus dem Ölgeschäft reichen aus, um sich die Loyalität seiner Eliten zu sichern und die Unterdrückung der Opposition und der Presse zu finanzieren. Diese Art der Politik ist ausgesprochen kostspielig für Russlands langfristige Zukunft. Doch in Putins Russland sticht Politik die wirtschaftlichen Interessen. Nicht Wohlstand für alle ist sein Ziel, sondern der Erhalt seines eigenen Machtsystems. Bislang scheint er sich bei dieser Wette nicht zu verzetteln.
Conclusio
Putins Wirtschaftspolitik ist eng mit seiner Machtpolitik verbunden. Er startete als Reformer, ruderte dann zurück und verstaatlichte viele Unternehmen. Von der Wirtschaftskrise im Land lenkte er durch die Annexion der Krim ab. Putins oberstes Ziel ist der eigene Machterhalt. Insofern duldet er auch keine aufstrebende Unternehmerschicht, die gegen staatlich verankerte Korruption vorgeht und aus der auf lange Sicht politische Konkurrenz erwachsen könnte. Wirtschaftlich betrachtet befindet sich Russland seit vielen Jahren in einem Zustand der Stagnation wie in den 1970er-Jahren unter Breschnew. Würde die Wirtschaft durch marktwirtschaftliche Prinzipien angekurbelt, brächte dies mehr Wohlstand ins Land und würde den allgemeinen Lebensstandard verbessern. Aber Putin geht es primär um seinen eigenen Machterhalt.