„Sind kein Haufen von Verbrechern“

Die Beziehungen zwischen Russland und Europa sind frostig. Kreml-Berater Sergej Karaganow findet, die EU habe ein falsches Bild von Russland und die NATO sei auf Aggression aus. Während Europa zerbricht, wendet sich Russland China zu.

Foto von Sergej Karaganow
Sergej Karaganow bezeichnet sich selbst als geistigen Vater der russischen „Wende nach Osten“. © Getty Images

Herr Karaganow, haben der Westen und Russland verlernt, miteinander zu reden?

Sergej Karaganow: Wir tun gerne so, als hätten wir nur unsere gemeinsame Sprache verloren. Aber das Problem reicht viel tiefer als das. Es ist weniger ein Verlust von Sprache und vielmehr ein Verlust von Vertrauen: Wir respektieren die modernen westlichen Eliten einfach nicht mehr.

Das passiert nicht über Nacht. Wann begann dieser Respektverlust?

Ich weiß, wann er für mich begann: Ende 1994, als ich zum ersten Mal von der NATO-Erweiterung erfuhr. Für Russland war das ein Vertrauensbruch. Als die NATO dann 1999 den Rest Jugoslawiens angriff, sahen selbst prowestliche Russen darin eine unverzeihliche Machtdemonstration. Ich erinnere mich, wie Leute sagten, nach Belgrad würde Moskau bombardiert werden.

Dazu ist es nicht gekommen. Trotzdem ging es mit den Beziehungen weiter bergab. Warum?

Als sich die USA 2002 aus dem ABM-­Vertrag (Anti-Ballistic Missile Treaty; Anm.) zurückzogen, wurde das als Zeichen dafür gewertet, dass die Ameri­kaner ihre strategische Überlegenheit zurückerobern wollten. Der Versuch, die Ukraine und Georgien in die NATO zu integrieren, war der Tropfen, der das Fass für Russland zum Überlaufen brachte. Das und die Dummheit unserer amerikanischen Freunde, zu glauben, dass China sich in ein demokra­tisches Land entwickeln würde. Das war ein strategischer Fehler, so groß wie Hitlers Zwei-Fronten-Krieg oder Napoleons Einmarsch in Russland.

Das ist der Blick auf die USA. Welche Fehltritte hat Europa gemacht?

Ich möchte daran erinnern, dass die meisten Russen Ende der 1980er- und Anfang der 1990er-Jahre – mich selbst eingeschlossen, obwohl ich zynischer als die meisten meiner Landsleute war – für eine Rückkehr von Russland nach Europa waren. Wohlgemerkt nicht als Teil Europas, sondern als gleichberechtigter Partner. Die einzige Bedingung, die wir hatten, war die Wahrung unserer Souveränität. Aber die Europäische Union lehnte uns ab. Das war ihr größter Fehler: Damals waren die meisten noch bereit, in Europa ein Vorbild zu sehen. Heute will fast niemand mehr den jetzigen europäischen Weg gehen.

Und welchen europäischen Weg wollte Russland gehen?

Den von Konrad Adenauer, Charles de Gaulle und Willy Brandt. Wir folgen heute unterschiedlichen ideologischen Trends: Während die Russen versuchen, Europäer der alten Garde zu sein, bewegt sich der Westen in Teilen auf eine posteuropäische Phase zu. Das soll nicht heißen, dass wir Europa nicht mehr mögen. Kulturell werden wir uns immer nahe sein. Aber auf sozialer und politischer Ebene sind wir weitgehend Asiaten. Das wurde in den letzten Jahrhunderten als Makel gesehen, aber eigentlich ist es ein Wettbewerbsvorteil. Wir können uns von der europäischen, ineffektiven Art von Demokratie distanzieren, die unter Stressbedingungen immer versagt und weitgehend antimeritokratisch ist.

Was heißt das für Russland und den Westen?

Im Grunde befinden wir uns gerade mitten im dritten Kalten Krieg.

Wieso der dritte?

Der erste begann 1917, mit dem Machtantritt der Bolschewiken, und der zweite nach 1945. Der wesentliche Unterschied ist, dass es jetzt keine zwei Blöcke mehr gibt. Die wird es auch nicht mehr geben – unabhängig irgendeiner Rivalität zwischen China und den USA. Die Vorstellung vom ideologischen Patt zwischen Demokratie und Autoritarismus ist hanebüchen, denn Kapitalismus und Demokratie sind ein Widerspruch in sich selbst. Bei dem einen geht es um Ungleichheit, bei dem anderen um gleiche Rechte. Tut man so, als könnten beide ewig nebeneinander existieren, kommt es zu einer Scheindemokratie. Und dann ist da noch die Tatsache, dass der Einfluss des alten Westens dramatisch geschrumpft ist. Er bewegt sich außerdem auf eine post­humane Phase zu, die uns in Zukunft Grund für eine ideologische Ausein­andersetzung bieten könnte. Russland will nicht posthuman sein. Wir wollen normal sein, menschlich. Und das bedeutet, unsere Geschichte anzuerkennen und den Mensch in den Dienst der Familie, der Gemeinschaft, des Vaterlands und der Welt zu stellen – und in den Dienst an Gott, sofern man an ihn glaubt.

Sergej Karaganow
1993 leitete Sergej Karaganow eine Gruppe, die Jelzin mit der Ausarbeitung einer neuen russischen Idee beauftragte. © Getty Images

Der Kalte Krieg könnte sich also in einen „heißen“ Krieg verwandeln?

Ja, die Wahrscheinlichkeit ist sehr hoch. Einerseits verschieben sich die Machtverhältnisse in der Welt so schnell wie nie zuvor. Andererseits sehen wir uns mit einer neuen Generation hochentwickelter Waffen konfrontiert, Drohnen zum Beispiel oder Hyperschallwaffen, die nicht abgefangen werden können. Jetzt, wo wir die einzigen sind, die solche Waffen besitzen, wird das nicht als Bedrohung angesehen, nur als Instrument der strategischen Abschreckung. Aber bald werden mehrere Staaten solche Waffen entwickeln. Und es gibt ein Phänomen, das ich als „strategischen Para­sitismus“ bezeichne: Menschen und Eliten gehen viel zu leichtfertig mit der Gefahr eines Krieges um. Sie glauben, dass 70 Jahre Frieden – dank Atom­waffen, purem Glück und der Weisheit einer Generation, die Krieg erlebt hat – ewig andauern werden. Die gute Nachricht ist, dass Russland diesen Kalten Krieg wohl gewinnen wird, gemeinsam mit China.

Und wie wird dieser „Sieg“ aussehen?

Nicht wie „Chinesische Truppen marschieren über die Champs-Élysées“. Nein, ein Sieg wäre, dass sich der Westen an seine neue Position in der Welt anpasst, ohne dass wir einen verzweifelten Gegenangriff abwehren müssen. Europa wird zerbrechen – die Frage ist nur, ob es wie üblich mit Kriegs­treiberei reagiert.

Den Vorwurf der Kriegstreiberei gibt es im Westen auch gegen Russland.

Das ist uns egal. Wirklich. Es ist geradezu unterhaltsam, wie die westliche Presse uns verteufelt. Ja, bei uns gibt es alle Arten von Korruption. Ja, wir sind immer noch nicht sehr reich. Aber das Bild, das der Westen von uns zeichnet, ist nicht einmal verzerrt – es ist einfach nur falsch. Wir sind ein nettes Land. Wir sind kein bedrohlicher Haufen von Verbrechern. Ich finde es pervers, dass ausgerechnet die NATO-Länder – die offene Aggressionen gegen das ehemalige Jugoslawien, den Irak und Libyen begangen haben – Moskau Aggressivität vorwerfen.

Wie passen die Ukraine, Georgien und Syrien in das Bild des netten Russlands?

In Syrien haben wir die neuen Fähigkeiten unserer Streitkräfte unter Beweis gestellt und Terroristen fernab unserer eigenen Grenzen bekämpft. Wir haben außerdem gesehen, dass Farbrevolutionen zu schwachen Marionettenregimes und Leid für Millionen von Menschen führen. Georgien und die Ukraine zählten einst zu den reichsten Sowjetrepubliken. Heute ist die Ukraine das zweitärmste Land Europas, gemessen am Pro-Kopf-Einkommen. Georgien geht es ähnlich. Indem wir eine NATO-Erweiterung verhindern, stärken wir den internationalen Frieden – das macht uns quasi zu den wichtigsten Friedensstiftern für die Welt.

Sie haben vorhin China erwähnt. Wie wird diese Partnerschaft aussehen?

Die sino-russischen Beziehungen sind ein wertvoller geostrategischer Vorteil. Umgekehrt gilt das auch. Wir bieten China die nötige strategische Tiefe, die es für seine Konfrontation mit den USA braucht. China hat eine sehr gute Chance, diese Konfrontation zu gewinnen. Wenn es das tut und diese Position der Stärke nutzt, um eine Position als „Erster unter Gleichen“ in Groß-Eurasien zu erreichen, dann sehe ich für die kommenden Jahrzehnte eine äußerst fruchtbare russisch-chinesische Bruder- oder Schwesternschaft.

Und was ist, wenn China am Ende als Verlierer dasteht?

Wenn China in der Konfrontation mit den USA ins Hintertreffen zu geraten droht, wird Russland noch enger an China heranrücken müssen. Wir können uns einen siegreichen Westen nicht leisten, denn wir haben ja gesehen, was passiert ist, als sich der Westen das letzte Mal für siegreich hielt: eine Aggression nach der anderen. Selbst wenn wir uns also auf dieses Kräftemessen mit China einlassen – Freunde werden wir definitiv bleiben.

Kann der Westen noch irgendetwas tun, um die Lage zu verbessern?

Wissen Sie, ich gebe unseren west­lichen Freunden keine Ratschläge mehr – es ist einfach sinnlos. Ich weiß, was der Westen tun sollte, aber ich weiß auch, dass er es nicht tun wird. Er sollte einfach begreifen, dass er nicht mehr die Nummer eins in der Welt ist, und sich damit abfinden, künftig nur noch eine der führenden Positionen einzunehmen – nicht die führende Position in der Welt. Als die Sowjetunion zusammenbrach (aus Gründen, die sie selbst zu verantworten hatte), wurde die Überlegenheit des Westens wieder sichtbar, aber die Grundlagen dieser Dominanz schwinden nun rapide: Zum einen ist der Kapitalismus zum Stillstand gekommen, zum anderen sind die westlichen Eliten verkommen. Die Menschen wählen ohnehin so gut wie nie echte Führer – ich glaube, das ist in der gesamten Geschichte nur bei Churchill und Roosevelt und einigen deutschen Nachkriegs-Bundeskanzlern der Fall gewesen. Der Westen steht also an der Spitze einer umfassenden Krise, die für Russland und China deshalb weniger schlimm ist, weil wir sozusagen kapitalistische Juniorländer sind.

Game Over für die Vorherrschaft des Westens also. Was heißt das für die Zukunft der Weltordnung?

Wenn wir zehn bis 15 Jahre in die Zukunft blicken, ergibt sich ein ganz anderes Bild als heute. Mittel- und Südeuropa werden sich in Richtung Groß-Eurasien orientieren, während Nordwesteuropa wahrscheinlich Teil einer „pax americana“ sein wird. Die deutsche Frage wird in diesem Zusammenhang wieder auftauchen, wie sie das irgendwie immer tut. Aber das wird das neue Normal sein, bis wir eine neue Weltordnung schaffen – vielleicht durch die Bildung neuer Institutionen, vielleicht durch die Schaffung neuer Regeln. Unsere Partner im Westen sprechen gerne von einer regelbasierten Weltordnung, aber das ist wiederum ein Widerspruch in sich: Sie sprechen von Regeln, die vom Westen vorgeschlagen werden, denen nur wenige zustimmen und die oft gegen UNO-Völkerrecht verstoßen. Wir kämpfen also derzeit um die Plattformen, auf denen wir diese neue Weltordnung aufbauen werden. Ich bin jedoch ein Optimist: Wenn wir einen großen Krieg vermeiden, dann bin ich überzeugt davon, dass die Welt ein viel angenehmerer und freierer Ort sein wird. Nicht unbedingt für das Individuum, aber für die Nationen.