Sieg oder Niederlage

Ein „Unentschieden“ im russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine wird den Krieg nicht beenden. Denn alles andere als ein ukrainischer Sieg wäre ein Sieg für Russland.

Panzer vor der Mutter-Heimat-Statue in Kiew.
Wie und wann der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine enden wird, lässt sich schwer vorhersagen. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Selbstverteidigung. Die Ziele der Ukraine sind klar. Territoriale Integrität, Sicherheitsgarantien und strafrechtliche Verfolgung von Kriegsverbrechen.
  • Trotz Blitzkrieg-Fiasko. Für Russland soll die Ukraine als souveränes und unabhängiges Land aufhören zu existieren.
  • Gewaltsame Grenzveränderung. Ein Unentschieden würde einen Kompromiss mit Russland bedeuten und daher eine Niederlage für die Ukraine sein.
  • Souveränität. Ein ukrainischer Sieg wird vielfach als maximalistische Option gesehen. Dabei will die Ukraine nur den Aggressor aus ihrem Land vertreiben.

Die Vorhersage, wann und wie der Krieg Russlands gegen die Ukraine enden wird, ist ein schwieriges Unterfangen. Die grundlegenden Szenarien mögen einem Fußballspiel ähneln: ein ukrainischer Sieg, ein russischer Sieg oder ein Unentschieden.

Die Situation ist jedoch viel komplexer als bei einem Fußballspiel. Sport wird nach klaren Regeln gespielt, die von beiden Mannschaften anerkannt werden. Die Einhaltung dieser Regeln wird von einem Schiedsrichter kontrolliert und durchgesetzt. Die Entscheidungen werden von allen Seiten akzeptiert. Im Fußball ist klar definiert, was als Sieg, Unentschieden oder Niederlage gilt und das Ergebnis wird von beiden Mannschaften respektiert. Außerdem ist ein Fußballspiel (auch wenn es in manchen Fällen eine große Sache sein mag) keine existenzielle Angelegenheit, bei der es um Leben und Tod geht.

Der Ausgang eines Spiels hat in der Regel keine großen Auswirkungen auf wichtige Bereiche der Gesellschaft. Wie das Schicksal von Dutzenden Ländern sowie das Leben von Hunderten Millionen Menschen, einschließlich der Sicherheit, Unabhängigkeit und territorialen Integrität dieser Staaten und ihrer Bürger.

Der Weg zur Hölle ist mit guten Absichten gepflastert.

Angesichts des öffentlichen Diskurses und der Haltung vieler westlicher Diplomaten und Intellektueller gegenüber dem gegenwärtigen Krieg scheint es zunehmend so, als würden diese Unterschiede von denjenigen nicht anerkannt, die (bewusst oder unbewusst) auf einen Kompromiss in der Ukraine drängen - eine Art „Unentschieden“. Viele tun dies weiterhin, zweifellos in gutem Glauben und mit guten Absichten. Aber die Geschichte bietet reichlich Beweise dafür, dass der Weg zur Hölle mit guten Absichten gepflastert ist.

Versuchen wir also zunächst zu definieren, was als Sieg für die Ukraine, was als Sieg für Russland und was als „Unentschieden“ betrachtet werden kann.

Ukrainischer Sieg

Der Sieg der Ukraine ist am einfachsten zu definieren, da Kiew seine Ziele klar und wiederholt kommuniziert hat. Ein Sieg bedeutet für die Ukraine die Wiederherstellung der territorialen Integrität in den Grenzen von vor 2014, künftige Sicherheitsgarantien, strafrechtliche Konsequenzen für russische Kriegsverbrechen und Wiedergutmachung für den entstandenen materiellen Schaden. Die ukrainische Mitgliedschaft in der NATO und der Europäischen Union sollte ebenfalls Teil des Sieges (und ein Garant dafür) sein.

Die Legitimität dieser Ziele und damit ein ukrainischer Sieg sind sehr hoch. Sie stehen im Einklang mit dem Völkerrecht, werden von der Mehrheit der ukrainischen Bevölkerung und von den polnischen Vertretern unterstützt.

Russischer Sieg

Der Sieg Russlands ist aus mehreren Gründen viel schwieriger zu definieren. Zunächst verfolgte Moskau mit dem Einmarsch in die Ukraine das Ziel, das gesamte Land zu übernehmen und die legitime, demokratisch gewählte Regierung abzusetzen. Nach dem Blitzkrieg-Fiasko im Frühjahr 2022 wollte Russland so viel ukrainisches Territorium wie möglich unter seine Kontrolle bringen und hat dann vier Regionen (Luhansk, Donezk, Saporischschja und Cherson) „angegliedert“.

Das genau Ziel des Kremls ist heute nicht ganz klar. In gewissem Sinne sind die Details auch nicht so wichtig. Das grundlegende, unbestreitbare Ziel von Präsident Wladimir Putin kann von Anfang an darin gesehen werden, einen ukrainischen Sieg zu verhindern: die Ukraine soll als unabhängiges, souveränes Land aufhören zu existieren. Dies ist das grundlegende Ziel, das Russland in der Ukraine verfolgt und das es rücksichtslos und aggressiv unter Verletzung des Völkerrechts verfolgt - nicht nur heute, sondern bereits seit 2014.

Kein Mittelweg

Vor diesem Hintergrund gibt es nicht drei, sondern nur zwei wesentliche Szenarien für den Verlauf des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine. Es gibt kein „Unentschieden“. Jeder andere Ausgang als ein ukrainischer Sieg, wäre als Sieg für Russland zu werten.

Gleichzeitig wird die Ukraine nicht in der Lage sein, ohne die Hilfe ihrer westlichen Verbündeten zu gewinnen. Diese Hilfe ist zwar bereits auf einem historisch hohen Niveau, reicht aber nicht aus, um einen ukrainischen Sieg zu erringen. Und, um es noch einmal zu betonen, jeder Kompromiss, eingefrorene Konflikt oder eine andere Form von Pattsituation bedeutet einen russischen Sieg.

Weder die Ukraine noch Russland werden entscheiden können, welches der beiden möglichen Szenarien Wirklichkeit wird. Beide Seiten werden alles tun um zu gewinnen. Über den Sieg wird aber der Westen entscheiden. Die Frage ist, ob der Westen begreift, dass es nur zwei gangbare Wege gibt, und der Ukraine weiter und schneller hilft als bisher.

Vor fast einem Jahr habe ich darüber geschrieben, warum ich keinen Kompromiss mit Präsident Putin für eine Lösung des Krieges halte. Im Laufe des letzten Jahres gab es zahlreiche Hinweise darauf, dass ein „Unentschieden“ einen Sieg für Russland bedeutet. Doch das Risiko eines solchen Ergebnisses ist nicht gesunken, sondern eher gestiegen.

Die Zeit läuft ab

Die russische Winteroffensive (Dezember 2022 bis April 2023) hat Moskau fast keine neuen Gebietsgewinne gebracht. Sie ermöglichte es den russischen Streitkräften jedoch, sich einzugraben, Minenfelder zu legen und starke Verteidigungspositionen aufzubauen. Daher konnte die aktuelle ukrainische Gegenoffensiv nur marginale Gebietsgewinne verzeichnen.

Die größte Schwäche der Gegenoffensive liegt in der Vorsicht und Zurückhaltung der westlichen Verbündeten, die Ukraine mit Kampfjets, Langstreckenraketen und moderneren Panzern und Munition auszustatten. Die qualitative Überlegenheit der westlichen Waffen, die größere Motivation der ukrainischen Soldaten und die erfahrene ukrainische Militärführung bedeuten, dass Kiew einen großen Vorteil gegenüber Russland haben sollte. Russland ist jedoch zahlenmäßig im Vorteil und kann das besetzte Gebiet verteidigen. Russland hatte auch genügend Zeit seine Verteidigung vorzubereiten und Offensivkräfte sind immer im Nachteil.

Frau mit Regenschirm. Im Hintergrund markieren ukrainische National- und Militärflaggen, Blumen und Porträts Gräber auf einem weitläufigen Militärfriedhof.
US-Regierungsvertretern zufolge sind seit Kriegsbeginn 500.000 russische und ukrainische Soldaten getötet oder verletzt worden. Die Zahl der gefallenen ukrainischen Soldaten wird auf bis zu 70.000 geschätzt. © Getty Images

In dieser Situation spielt die Zeit zu Gunsten Russlands. Eine langsame Offensive zehrt an den ukrainischen Kräften und erhöht das Risiko eines eingefrorenen Konflikt. Damit steigt der Druck, einen Kompromiss auszuhandeln.

Daher spielt Präsident Putin auf Zeit. Die Vereinigten Staaten sind der wichtigste Lieferant von Militärhilfe an die Ukraine. Ein Sieg von Donald Trump bei den US-Präsidentschaftswahlen im November 2024 würde den Druck auf ein „verhandeltes Ende des Krieges“ deutlich erhöhen.

Falsche Rückschlüsse

Im Juni wurden in einem ausgezeichneten Bericht des britischen Think-Tank Chatham House neun Trugschlüsse identifiziert, die den gängigen Argumenten für eine vermeintliche Kompromisslösung zugrunde liegen. Zur Veranschaulichung wollen wir einige der am weitesten verbreiteten nennen.

Es wird behauptet, Verhandlungen seien notwendig, weil Kriege schließlich am Verhandlungstisch enden; warum also nicht jetzt verhandeln, um Leben zu retten? Tatsächlich enden Kriege wie dieser - in dem ein ganzes Land bedroht ist und die internationale Ordnung in eklatanter Weise verletzt wird - erst nach einer endgültigen Niederlage einer der Parteien am Verhandlungstisch. Das war in beiden Weltkriegen, im amerikanischen Bürgerkrieg und in den napoleonischen Kriegen der Fall. Selbst die deutsch-französische Aussöhnung wäre nicht möglich gewesen, wenn die Nazis nicht besiegt worden wären.

Ein weiterer Fallstrick besteht darin, dass die Befürworter eines Kompromisses implizit (oder manchmal auch explizit) davon ausgehen, dass der Preis für den Frieden darin besteht, dass die Ukraine einen Teil ihres Territoriums, wie z. B. die Krim, aufgibt; andernfalls, so wird behauptet, würde Russland dem Abkommen nicht zustimmen. Dies ist aus mehreren Gründen inakzeptabel.

Erstens kann und wird die Ukraine einem solchen Abkommen nicht zustimmen. Es würde auch eine gewaltsame Grenzveränderung legitimieren und damit einen höchst gefährlichen Präzedenzfall schaffen. Und es würde nicht nur die künftige Sicherheit der Ukraine, sondern auch der gesamten Schwarzmeerregion gefährden.

Ein weiterer Trugschluss ist schließlich das finanzielle Argument, dass der Krieg so schnell wie möglich durch Verhandlungen beendet werden muss, weil er zu teuer ist. Sicherlich ist er teuer, aber es stimmt auch, dass ein russischer Sieg letztlich viel teurer sein wird - nicht nur in Bezug auf die direkten Kosten, sondern auch auf die indirekten Kosten und Folgen.

Gemeinsame Interessen

Russland macht keinen Hehl daraus, dass sein Feind nicht nur die Ukraine, sondern die gesamte westliche Welt ist. Der Westen hat der Ukraine bisher Militär- und Finanzhilfe in Höhe von rund 96 Milliarden Dollar gewährt - eine hohe Summe, die jedoch nur 0,2 Prozent des jährlichen Bruttoinlandsprodukts dieser Länder bzw. 4 Prozent ihrer jährlichen Verteidigungshaushalte ausmacht. Darüber hinaus geben die westlichen Länder diese Mittel nur aus, weil sie in der Vergangenheit russische Bedrohungen für ihre eigene Sicherheit ignoriert haben.

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Zahlen & Fakten

Die Haltung all derer, die einen Kompromiss also ein „Unentschieden“ befürworten, beruht auf einer kurzsichtigen, engen Bewertung der Kosten und des Nutzens möglicher Lösungen. Wenn wir nicht nur die kurzfristigen oder wirtschaftlichen Kosten in die Analyse einbeziehen, dann muss der Sieg der Ukraine das bevorzugte Ergebnis sein. Dies ergibt sich nicht nur aus moralischer Sicht, sondern auch aus den sicherheitspolitischen, finanziellen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Krieges.

Im Interesse des Westens

Es bleibt ungewiss, welches der beiden Szenarien sich durchsetzen wird. Die Art der öffentlichen Debatte, die derzeit im Westen geführt wird, lässt jedoch vermuten, dass das Risiko eines „Unentschiedens“ - und damit eines russischen Sieges - hoch ist. Ein ukrainischer Sieg gilt in der westlichen Debatte als vermeintlich maximalistische Option, während Befürworter eines Kompromisses als Realisten gelten.

Die Ukrainer wollen nicht Moskau erobern, sondern 'nur' den Aggressor vertreiben.

Die Ukrainer wollen Moskau nicht erobern, sie wollen „nur“ den Aggressor von ihrem Territorium vertreiben. Sie handeln nicht nur in ihrem eigenen Interesse, sondern auch im Interesse der Länder, die zu ängstlich sind, ihnen zu helfen.

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Conclusio

Wie und wann der Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine enden wird, lässt sich schwer vorhersagen. Dabei sind auch die Kriegsziele entscheidend. Die ukrainischen Ziele sind klar: Wiederherstellen der territorialen Integrität, künftige Sicherheitsgarantien, strafrechtliche Konsequenzen für russische Kriegsverbrechen und materielle Wiedergutmachung. Die russischen Ziele haben sich nach dem Blitzkrieg-Fiasko geändert, aber für den Kreml steht fest, dass die Ukraine als unabhängiges und souveränes Land aufhören soll zu existieren. Daher ist jeder Kompromiss mit Russland als „Unentschieden“ und als Sieg des Kremls für seine Aggression zu werten.

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