Überflugsrechnung

Wie stellt man fest, wo die Stadt aufhört, und das Land beginnt? Satellitendaten zeigen: Die neue Flucht aufs Land ist eine Flucht aus der Stadt. 

Foto einer Kleinstadt aus der Vogelperspektive. Das Bild ist Teil eines Beitrags über das Phänomen Stadtflucht.
Auch Kleinstädte können Vororte haben: Hier Göllsdorf in Baden-Württemberg, einst ein Dorf, nun ein Vorort von Rottweil. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Grenzfragen. Verwaltungsgrenzen werden Übergangsregionen zwischen Stadt und Land nicht gerecht und können Stadt und Land kaum unterscheiden.
  • Datenbeschaffung. Die Forschung zur Binnenwanderung verlässt sich nicht allein auf Verwaltungsgrenzen, sondern ermittelt mit Satellitendaten selbst.
  • Entballung. Die Großstädte erleben in den letzten Jahren negative Wanderungssalden: Es ziehen mehr Menschen weg als hinziehen.
  • Ballung. Im Umland der großen Städte wird es zunehmend voll. Die Speckgürtel punkten mit ein bisschen Grün und günstigerem Wohnen.

Zunächst: „Stadtflucht“ ist kein neues Phänomen. Unsere Daten zeigen, dass es nach Jahren des Bevölkerungszuwachses ab 2012 zu einer Trendumkehr kommt und die Städte durch die Binnenwanderung erstmals an Bevölkerung verlieren.

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Der Verlust-Trend setzt sich bis jetzt fast ungebrochen fort und scheint durch die Pandemie noch verstärkt worden zu sein. Gleichzeitig haben die dünn besiedelten ländlichen Regionen durch die Binnenwanderung an Bevölkerung gewonnen. Darauf deutet zumindest die Auswertung der amtlichen Statistik hin. Heißt dies, dass die Menschen aufs Land ziehen? Erleben wir eine Renaissance des Landlebens? Der Schein trügt.

Dazu ein kurzer statistischer Exkurs: Was als Stadt oder Land gilt, folgt in Deutschland der Klassifikation des BBSR, das ist das Bundesamt für Bau, Stadt und Raumforschung. Diese Klassifikation beruht auf ungefähr 400 Kreisen in Deutschland und auf Parametern, die die Bevölkerungsdichte messen.

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Zahlen & Fakten

Die Stadtflucht

  • In diesem Diagramm sind die prozentualen Wanderungssalden 1991 bis 2020 in Deutschland nach Daten des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung dargestellt.
  • Es sind vor allem die Großstädte, die seit 2012 mehr Weg- als Zuzüge zu verzeichnen haben. Die Umzüge gehen sowohl in dünn besiedelte Gebiete, als auch in Regionen mit Verdichtungsansätzen, also das Umland.

Masken-Effekt

Diese administrativen Grenzen zeigen ein tendenziell verzerrtes Bild. Dazu ein Beispiel: Speziell in Ostdeutschland hat es in den 1990er Jahren Kreisgebietsreformen gegeben, aus denen sehr große Landkreise entstanden sind.

Die Folge: De facto städtisch geprägte Landnutzungen finden wir auch in Regionen, die als ländlich klassifiziert sind. In Brandenburg etwa gibt es großflächige Kreise, die zugleich sehr städtisch und ländlich sind – je näher zu Berlin, desto städtischer. Nach der BBSR-Klassifikation gelten diese Kreise aber als ländlich. Das maskiert die starke Suburbanisierung, die sich hinter dem Trend aufs Land verbirgt: Man lebt – administrativ – auf dem Land, in Wahrheit aber immer noch im Großraum Berlin und fährt mit der S-Bahn zur Arbeit.

Weil administrative Grenzen also nur die halbe Wahrheit erzählen können, haben wir uns 2021 mit dem Deutschen Zentrum für Luft und Raumfahrt zusammengetan, um die Abgrenzung von Stadt und Land fernab von administrativen Grenzen zu überprüfen. Wir sehen nach, wo tatsächlich Häuser stehen und wo nicht. Anhand von Gebäudemodellen und Satellitendaten können wir dann die Siedlungsstrukturen viel genauer nachzeichnen. So es ergibt sich ein wesentlich differenzierteres Bild davon, wo die Stadt aufhört und das Land beginnt.

Städter in der Minderheit

Wie sieht es also aus? Tatsächlich leben mindestens 50 Prozent der Bevölkerung in urbanen Siedlungsstrukturen, auf zwei Prozent der Fläche Deutschlands. Nur fünf Prozent der Bevölkerung leben tatsächlich auf dem Land, was etwa 32 Prozent der Fläche ausmacht. Damit ist Deutschland weitaus weniger stark urbanisiert als gemeinhin angenommen.

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Zahlen & Fakten

Grafische Darstellung der Herkünfte und Ziele der Binnenwanderung in Deutschland. Die Grafik ist Teil eines Beitrags über Stadtflucht.
Binnenwanderung Deutschland 2021. © Sander, BiB

Von der Stadt ins Umland

  • Ballungszentren wie etwa Frankfurt am Main verlieren Einwohner an die Region Darmstadt; Berliner und Berlinerinnen zieht es nach Brandenburg.
  • Doch selbst mittelgroße ländlich geprägte Städte wie Münster erleben, dass Einwohner wegziehen ins noch ländlichere Umland.
  • Aus den ländlicheren Regionen und den Speckgürteln zieht man eher nicht mehr weg.

Das Interessante ist, dass 45 Prozent in Übergangsregionen leben, die weder eindeutig urban noch ländlich sind. Das sind die sogenannten Speckgürtel, die Randzonen der Städte. Diese sind die am schnellsten wachsenden Regionen in den letzten Jahren. Das zeigt uns: Wenn es raus aus der Stadt geht, dann ziehen nur die allerwenigsten raus aufs platte Land. Was wir sehen, ist eine Bewegung hin ins Umland der Groß- und Mittelstädte.

Bereits in den 1990er Jahren gab es einen solchen Trend in Deutschland: Nach der Wende zogen vor allem in Ostdeutschland viele Menschen ins Umland der Städte, bauten sich eigene Häuser. Es war eine starke Suburbanisierung zu beobachten.

In den 2000er Jahren drehte sich dieser Trend dann wieder um: Die Städte gewannen ein Jahrzehnt lang an Einwohnern und Einwohnerinnen. In der Wissenschaft ist man sich noch nicht sicher, welche Faktoren diese Konjunkturen auslösten. Vermutlich spielt der zunehmende Wunsch nach dem Stadtleben mit kurzen Wegen und vielfältigem kulturellem Angebot eine Rolle, vor allem von kleineren Familien die weniger Wohnraum benötigen.

Die Mietenschaukel

Diese Phase der Re-Urbanisierung erreichte 2005 bis 2011 einen Höhepunkt, mit der Folge, dass die Mieten in den größeren Städten, vor allem in Berlin, Hamburg, Frankfurt und München, anstiegen. Vor zwei Jahren konnten wir nachweisen, dass diese Preisanstiege das Pendel ab 2012 wieder in die Gegenrichtung ausschlagen ließen: Die Mieten haben einen kausalen Verdrängungseffekt, speziell junge Familien zogen ab 2012 wieder „aufs Land“ – das heißt, ins unmittelbare Umland.

Ein Foto der Berliner Mauer in einem ländlichen Teil Berlins. Eine Familie mit Kind geht durch ein Tor in der Mauer. Dahinter ist viel Grün zu sehen, eine Schrebergartensiedlung.
Schrebergartenglück an der Berliner Mauer: Stadtflucht in die Exklave Spandau, Berlin 1978. Die Wohnungsnot war in Westberlin zu der Zeit groß, im Stadtteil Kreuzberg wurden viele Häuser besetzt, die schon zum Abriss vorgesehen waren. © Getty Images

Dieser Verdrängungseffekt durch die Mietpreise erklärt auch, warum der Trend zum „Landleben“ schon vor der Pandemie einsetzte, und zeigt, dass es in der Regel keine romantische Sehnsucht nach dem autonomen Leben im Grünen ist, die die Menschen ins Umland zieht.

Diese Pendelbewegungen und Konjunkturen – hohe Mieten, Suburbaninsierung, sinkende Mieten, Re-Urbanisierung, steigende Mieten, Suburbanisierung usw. usf. – gibt es vermutlich schon seit den 1970er Jahren, zumindest deuten die historischen Daten darauf hin. Bis dahin ging die Binnenwanderung in der Regel mit Verdichtung und Urbanisierung einher.

Homeoffice und Rückzieher

Die aktuelle Entwicklung ist allerdings trotz der vertrauten Muster interessant: Zum einen wirkt die Erfahrung der Pandemie nach – anders als in den Jahrzehnten zuvor ist Homeoffice eine Option. Erstmals bieten viele Unternehmen ihren Mitarbeitern und Mitarbeiterinnen die Möglichkeit, auch von zu Hause zu arbeiten. Dies hat es zuvor noch nie in dem Ausmaß gegeben.

Allerdings: Erste Analysen zeigen, dass ein Umzug weg vom Arbeitsplatz erst ab vier Tagen Homeoffice von den Arbeitenden in Betracht gezogen wird.

Neben dem Arbeitsplatz gibt es noch ein weiteres gewichtiges Argument, das viele Menschen nach wie vor im Umland einer Stadt oder auch in der Stadt selbst hält: die Kinderbetreuung. Es sind überwiegend die jungen Familien, die wegen des größeren Platzbedarfs und der hohen Mieten aus der Stadt wegziehen, aber wegen fehlender Infrastruktur auf dem „echten Land“ dann im Umland bleiben.

Diese Altersgruppe der 30 bis 49jährigen ist in Deutschland neben den 18 bis 29jährigen die mobilste. Während die jüngeren vor allem wegen Ausbildung und Studium oft den Wohnort wechseln, geht es bei den mittleren Jahrgängen ab 30 vor allem um die Familiengründung und so prägt diese Altersgruppe auch den aktuellen „Trend aufs Land“.

Dort, wo wirklich „aufs Land“ gezogen wird, sind es oft diejenigen, die auf dem Land aufwuchsen, die es aber durch Studium, Ausbildung und Job zuerst in die Stadt verschlagen hat. Anders formuliert: Es kommt seltener vor, dass jemand, der in der Stadt sozialisiert wurde, aufs „unbekannte“ Land zieht, es sei denn der Partner oder die Partnerin ist ein Landei und möchte zurück in die Heimat ziehen.

Und es gibt sie doch, die Stadtflucht

Die Motive der Stadtflucht, die es ja durchaus gibt – es gibt ja speziell in Ostdeutschland Initiativen, junge Menschen in den ländlichen Raum zu holen, die durchaus auch erfolgreich sind, wenn auch nicht in dem Umfang, den sich viele ländliche Gemeinden wünschen – sind weitgehend unbekannt. Umzüge werden in Deutschland durch das Melderegister erfasst, die Gründe für den Umzug muss man nicht angeben.

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Zahlen & Fakten

Fotos von Reihenhäusern mit Garage und Vorgarten. Das Bild ist Teil eines Beitrags über Suburbanisierung und Stadtflucht.
Ein neuer Vorort von Berlin 2019. © Getty Images

Nostalgie der Vororte – Lieder der Stadt III

  • Arcade Fire haben den Suburbs gleich ein ganzes Album gewidmet. Der titelgebende Song des Albums, The Suburbs, handelt vom Aufwachsen in den Zwischenorten, die nicht Stadt sind und nicht Land – Orte zwischen Langeweile und Abenteuer, Regeln und Freiheit.

In the suburbs I, I learned to drive
And you told me we'd never survive
Grab your mother's keys, we're leaving
You always seemed so sure
That one day we'd be fighting
In a suburban war
Your part of town against mine
I saw you standing on the opposite shore
But by the time the first bombs fell
We were already bored
We were already, already bored
Sometimes I can't believe it
I'm moving past the feeling
Sometimes I can't believe it
I'm moving past the feeling again
The kids want to be so hard
But in my dreams we're still screaming
And running through the yard
When all of the walls that they built
In the seventies finally fall
And all of the houses they built
In the seventies finally fall
Meant nothing at all?
Meant nothing at all
It meant nothing
Sometimes I can't believe it
I'm moving past the feeling
Sometimes I can't believe it
I'm moving past the feeling
And into the night
So can you understand
Why I want a daughter while I'm still young?
I want to hold her hand
And show her some beauty
Before this damage is done
But if it's too much to ask
If it's too much to ask
Then send me a son
Under the overpass
In the parking lot, we're still waiting
It's already passed
So move your feet from hot pavement
And into the grass
'Cause it's already passed
It's already, already passed
Sometimes I can't believe it
I'm moving past the feeling
Sometimes I can't believe it
I'm moving past the feeling again
I'm moving past the feeling
I'm moving past the feeling
In my dreams we're still screaming
We're still screaming
We're still screaming

Die Motive kennen wir also nur durch Befragungen. Da sind die Trends eindeutig: Rund ein Drittel der Städter und Städterinnen möchte lieber auf dem Land leben oder zumindest in einem Haus mit Garten. Es ist meistens der Arbeitsplatz, der diese Gruppe dennoch in der Stadt hält. Sollte ein Recht auf Homeoffice gesetzlich verankert werden, könnte es sein, dass aus dieser Gruppe einige den Umzug aufs Land wagen.

Das ist allerdings ein bisschen in die Glaskugel geblickt: Die wenigsten werden in eine wirklich abgeschiedene Gegend ziehen können. Insofern ist unsere Einschätzung, dass in den kommenden Jahren die ländlichen Regionen weiter eher an Einwohnern und Einwohnerinnen verlieren und das Umland der größeren Städte an Bevölkerung gewinnt.

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Conclusio

Binnenwanderung ist Konjunkturen unterworfen: Wenn in bestimmten Jahren die Speckgürtel um die Städte wachsen, ändert sich das Bild nach einiger Zeit wieder, und die Binnenwanderung führt wieder vermehrt in die Städte. Diese Zyklen sind abhängig vom Alter – Menschen in Ausbildungen gehen in die Stadt, werdende Eltern verlassen sie eher – und von den Mietpreisen in den Städten. Seit der Pandemie kommt das Homeoffice als Faktor hinzu. Allerdings ist noch nicht klar, ob diese Möglichkeit die Konjunkturzyklen verändert. Jedoch steht aus Umfragen fest: Ein Drittel der Städter und Städterinnen möchte lieber auf dem Land leben.

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