Was kostet die Stadtflucht?

Seitdem es die Städte gibt, punkten sie damit, dass es dort alles an einem Ort gibt. Das hält den Preis der Stadtflucht immer noch hoch. Zu hoch.

Spiegelung von Stephandom und weiteren alten Gebäuden in der Fassade des Haas-Hauses in Wien. Das Bild ist Teil eines Beitrags über Stadtflucht und das Leben in der Stadt im Gegensatz zum Land – vor allem in ökonomischer Hinsicht.
Der Stephansplatz in Wien im Spiegel des Haashauses. © Getty Images
×

Auf den Punkt gebracht

  • Alles an einem Ort. Unternehmen, Ausbildung, Nahversorgung und Dienstleistungen sind in Städten konzentriert.
  • Alle an einem Ort. Ballungsräume verfügen entsprechend über viele Arbeitsplätze, somit sind auch die Arbeitnehmer dort.
  • Preis des Transports. Wer Ballungsräume verlässt, aber weiterhin dort arbeitet, muss mit höheren Kosten fürs Pendeln rechnen.
  • Preis des Wohnens. Wohnkosten, Fahrtkosten sowie der Arbeitsplatz sind Preisfaktoren, die die Landlust dämpfen oder fördern.

Kurz vor unserer Hochzeit fragte ich meine Frau: „Wie wünscht Du dir, dass wir leben sollen?“ Ihre Antwort war: „In einem Häuschen mit Garten in Wien am Stephansplatz“. Diesen Wunsch konnte ich ihr leider nicht erfüllen. Aber ich konnte wenigstens erklären, warum das nicht geht.

Mehr über Preise

Seit der Pandemie scheinen immer mehr Leute derartigen Wünschen nachzuhängen. Aber unsere Wohnpräferenzen sind nur die eine Seite der Gleichung. Die Restriktionen, die wir dabei eingehen, die andere. Wir müssen die Dinge, die wir zum Leben brauchen, an unserem Wohnort zusammenbringen und sie uns auch leisten können.

Arbeiten, Einkaufen, Schule, soziale Kontakte und Erholung sind nur einige der wichtigsten Funktionen, um die es dabei geht. Diese unter einen Hut zu bringen und dabei noch mit dem vorhandenen Zeitbudget und dem Einkommen auszukommen, ist die Herausforderung.

Erfolgsrezept Konzentration

Dabei sind die Möglichkeiten zu arbeiten räumlich stark konzentriert. Im Stadtzentrum von Wien, im ersten Bezirk, gibt es fast fünfzehnmal so viele Jobs wie wohnhafte Erwerbstätige. Knapp 115.000 Jobs, das sind immerhin 12 Prozent aller Jobs in Wien, stehen nur 7.800 Erwerbstätige gegenüber. Gehen wir vom Stadtzentrum weg, so gleicht sich dieses Verhältnis an.

Foto des Wiener Stephansplatzes mit vielen Menschen, die zu Fuß gehen. Das Bild ist Teil eines Beitrags über die Kosten des Lebens in der Stadt und auf dem Land.
Der Stephansplatz in Wien um 1914 mit dem Kaufhaus Rothberger. © Getty Images

In den Außenbezirken und im städtischen Umland dreht es sich um. In Floridsdorf stehen 70.000 Erwerbstätigen nur 55.000 Jobs gegenüber. Für die Unternehmen ist es vorteilhaft, sich in der Nähe von Büros, Geschäften, Dienstleistern und so weiter anzusiedeln und verkehrstechnisch gut erreichbar zu sein. An diesen Orten gibt es ein hoch spezialisiertes Angebot, und so können sich die Unternehmen selbst auch spezialisieren.

Die Konzentration ermöglicht auch eine spezialisierte Infrastruktur, die es anderswo meist nicht gibt. Um wirtschaftlich betrieben werden zu können, braucht diese üblicherweise ein gewisses Mindestmaß an Nachfrage. Nur mit genügend Nachfrage rechnen sich ein Flughafen, die Anbindung an das hochwertige Bahnnetz, Theater, Museen, Universitäten und Forschungseinrichtungen.

Aus Vorteil wird Nachteil

Wien ist dabei kein Sonderfall. Eine derartige Konzentration wirtschaftlicher Aktivitäten finden wir in praktisch jeder Stadt. In der Regionalökonomik nennen wir die Kräfte, die zu dieser Konzentration führen, „Ballungseffekte“ oder „positive Agglomerationseffekte“. Sie sind der Grund dafür, dass es überhaupt Städte gibt. Denn das Zusammensitzen hat nicht nur Vorteile. Es führt auch zu höheren Grundstückspreisen und Mieten, zu Staus, Lärm, Luftverschmutzung und eingeschränkten Erholungsmöglichkeiten.

Weil aber die positiven Agglomerationseffekte die negativen überwiegen, gibt es, seit der Mensch sesshaft wurde, Städte und darum werden uns diese auch in absehbarer Zukunft erhalten bleiben. Denn auch wenn einzelne von ihnen mit einer ganzen Reihe an Problemen kämpfen und Herausforderungen bewältigen müssen, sind Städte doch ein Jahrtausende altes Erfolgsmodell. Nach allen Prognosen nach werden sich in Zukunft noch mehr Menschen und wirtschaftliche Aktivitäten in den Städten konzentrieren.

Mutieren wir zu Landbewohnern?

Natürlich gibt es ständig Verschiebungen. Unternehmen wandern aus den Städten ab, weil sie zum Beispiel mehr Platz für die Produktion benötigen. Andere Unternehmen wandern zu oder wachsen an ihrem bestehenden Standort. Veränderungen bei Bahn, U-Bahn und Straßenanbindungen verteilen die Vor- und Nachteile zwischen den einzelnen Standorten in der Stadt ständig um. Am Ende des Tages scheinen aber die positiven Effekte der Ballung die negativen zu überwiegen.

×

Zahlen & Fakten

Weg aus der Stadt

  • Wer kann und die entsprechenden Bedingungen vorfindet, verlässt die Stadt.
  • Der Trend ist nicht neu und zeigt sich in Österreich ebenso wie in Deutschland. Doch die Stadtflucht führt meist in die regionalen Zentren. Der Grund sind die Arbeitsplätze. Auch Unternehmen brauchen die Nähe zur Stadt. Die Daten stammen von Statistik Austria.

Könnten die neue Sehnsucht nach dem Leben auf dem Land, die Möglichkeit von Teleworking, die neue Bescheidenheit die Skala vielleicht zum Kippen bringen? Ist es vielleicht eine der Spätfolgen der Pandemie, dass wir alle zu Landbewohnern mutieren?

Vielen ländlichen Gemeinden wäre diese Veränderung nur zu wünschen. Denn sie verlieren eher an Bevölkerung und mit den Einwohnern verlieren sie nach dem Postamt und dem Polizeiposten auch noch den praktischen Arzt, den Nahversorger und irgendwann das letzte Gasthaus. Es ist zwar keineswegs sicher, dass diese Einrichtungen jemals wieder zurückgeholt werden können, ein signifikanter Zustrom von Stadtflüchtlingen würde aber zumindest der Hoffnung darauf neue Nahrung geben.

Das sagt die Stadtökonomik

Allerdings stehen die Chancen dafür eher schlecht. Denn die Präferenzen für ein Leben auf dem Land sind nur die eine Seite der Gleichung. Auf der anderen Seite stehen die Restriktionen. Die Stadtökonomik bildet dieses Spannungsfeld in ihrem Grundmodell sehr schön ab.

Wie jedes Modell versucht auch dieses, die Zusammenhänge zu vereinfachen, um so die wichtigsten Mechanismen klarer herauszuarbeiten. Das Grundmodell der Stadtökonomik vereinfacht die Sache insofern als dass es annimmt, die wirtschaftlichen Aktivitäten seien vollständig im Stadtzentrum, dem „Central Business District“ (CBD), konzentriert.

Zwei Jungen sitzen am Rand einer Geschäftsstraße in Wien auf einem Handkarren und unterhalten sich. Die Aufnahme ist etwa von 1910. Die beiden Jungen fuhren mit dem Handkarren vermutlich Personen und Gepäck durch die Stadt.
Kinderarbeit in Wien, circa 1910. © Getty Images

Die Stadtbewohner und -bewohnerinnen – und das umfasst auch die Einpendler und Einpendlerinnen aus dem Umland – müssen daher fürs Arbeiten und alle anderen wirtschaftlichen Aktivitäten in den CBD fahren. Das entspricht zwar sicherlich nicht der Realität, streicht aber heraus, dass wir für unser Erwerbsleben und für unsere Versorgung an die Orte gebunden sind, wo das entsprechende Angebot verfügbar ist und dass dieses Angebot stark im Zentrum der Städte konzentriert ist.

Im Grundmodell der Stadtökonomik sind die Stadtbewohner an zwei Dingen interessiert: an einer großen Wohnung und an den anderen Versorgungsgütern. Von beidem haben sie lieber mehr als weniger. Allerdings können sie sich nicht beliebig viel davon leisten, denn sie haben auch eine Budgetrestriktion zu beachten.

Das Einkommen können sie fürs Wohnen und für Konsumgüter ausgeben, müssen aber auch die Fahrt zum Arbeiten in den CBD daraus bezahlen. Die Ausgaben für die Fahrt ins Zentrum sind umso höher, je größer die Entfernung ist und je höher die Transportkosten pro Kilometer sind. Die Kosten für das Wohnen ergeben sich aus der Größe der Wohnung und dem Quadratmeterpreis. Letzterer nimmt mit der Entfernung vom CBD ab.

Was das Landleben wert ist

Will unsere Stadtbewohnerin aufs Land ziehen, so steht sie, wenn sie ihren Arbeitsplatz beibehält, einem Trade-off gegenüber. Je weiter sie vom CBD wegzieht, umso mehr muss sie für die Fahrt ins Zentrum zahlen und umso niedriger wird ihr verfügbares Einkommen sein.

Die Kärntner Straße in Wien circa 1920. Einige Autos fahren Richtung Café Sacher und Stephansplatz, linker Hand die Oper. Einige Menschen gehen zu Fuß.
Wien 1920: Die Autos kommen. © Getty Images

Weil aber die Wohnkosten mit der Entfernung vom CBD sinken, kann sie sich eine etwas größere Wohnung leisten. Ab einem bestimmten Punkt wird das aber den Nachteil der höheren Fahrtkosten nicht mehr kompensieren. Die Stadtbewohnerin wird sich also überlegen müssen, wieviel an Einbußen beim Wohnen und bei anderen Konsumgütern ihr die Sehnsucht nach dem Land wert ist.

Natürlich kann die Stadtbewohnerin auch ihren Arbeitsplatz im CBD aufgeben und sich eine neue Arbeit suchen. Allerdings ist das nicht so einfach. Denn die Jobs sind ja, wie wir gesehen haben, in der Stadt konzentriert. Nach Wien pendeln beispielsweise 215.000 Arbeitskräfte, aber nur rund 85.000 Menschen pendeln aus Wien aus.

Die Konkurrenz um die Jobs am Land ist also hoch, abgesehen von den besseren Aufstiegschancen, die mit der wirtschaftlichen Konzentration in der Stadt einhergehen. Auch in diesem Fall geht also die Sehnsucht nach dem Land, so sie umgesetzt wird, mit Einbußen einher, die nicht allzu viele Stadtbewohner und -bewohnerinnen bereit sein werden, auf sich zu nehmen.

Unternehmen brauchen die Stadt

Aber vielleicht folgen ja auch die Arbeitsplätze den Arbeitskräften aufs Land. Immerhin lesen wir immer wieder vom Arbeitskräftemangel. Da wäre es doch sinnvoll, wenn die Unternehmen dorthin gingen, wo die Arbeitskräfte sind? In gewissen Ausmaß wird das auch passieren, allerdings nicht in großem Umfang. Denn einerseits brauchen Unternehmensverlagerungen einiges an Planung und daher Zeit und Geld.

Und andererseits sind die Unternehmen nicht von „Sehnsucht nach dem Land“ getrieben, sondern sitzen in der Stadt, weil alle die anderen Unternehmen, deren Nähe sie wirtschaftlich brauchen, auch in der Stadt sitzen. Sich erfolgreich aus dieser Bindung lösen, können wohl nur wenige Unternehmen mit ganz bestimmten Charakteristika. Die Unternehmen werden also kaum den Arbeitskräften aufs Land folgen, sondern eher in der Stadt bleiben und versuchen, die Arbeitskräfte als Pendler und Pendlerinnen anzulocken.

Stadtsehnsucht?

Aber, müssen die Arbeitskräfte überhaupt pendeln? Die höhere Akzeptanz von Teleworking ist sicher eine der wichtigsten Auswirkungen der Pandemie. Die genaue Ausgestaltung der Rahmenbedingungen ist noch größtenteils offen, die grundsätzlichen Auswirkungen auf die Stadt lassen sich anhand des Grundmodells aber ganz gut abschätzen.

×

Zahlen & Fakten

nachträglich kolorierte Aufnahme von Menschen, die unter großen Bäumen sitzen und Zeitung lesen. Die Männer tragen Strohhüte.
Wien 1910: Das Zweite Kaffeehaus auf der Prater Hauptallee. Kolorierte Fotografie. © Getty Images

„Da kenn ich mich aus“ – Lieder der Stadt IV

  • Als Hofrat Rudolf Sieczyński 1912 „Wien, Du Stadt meiner Träume“ schrieb, waren die darin besungenen „alten Häuser“ noch gar nicht so alt. Die Gründerzeit, die Wien seinen besonderen architektonischen Charakter schenkte, war erst gut 40 Jahre zuvor zu ihrer Blüte gelangt. Worauf sich die Wien-Sehnsucht genau bezieht, bleibt unklar, außer: „da bin i halt z'haus“.

Wien, Wien, nur du allein
Sollst stets die Stadt meiner Träume sein
Dort, wo die alten Häuser steh'n
Dort, wo die lieblichen Mädchen geh'n
Wien, Wien, nur du allein
Sollst stets die Stadt meiner Träume sein
Dort, wo ich glücklich und selig bin
Ist Wien, ist Wien, mein Wien
Mein Herz und mein Sinn
Schwärmt stets nur für Wien
Für Wien, wie es weint, wie es lacht
Da kenn ich mich aus
Ja, da bin i halt z'haus
Bei Tag und noch mehr bei der Nacht
Und keiner bleibt kalt
Ob jung oder alt
Der Wien, wie es wirklich ist, kennt
Müsst ich einmal fort
Von dem schönen Ort
Dann nimmt meine Sehnsucht kein End
Dann hört ich aus weiter Ferne ein Lied
Das klingt und singt
Das lockt und das zieht
Wien, Wien, nur du allein
Sollst stets die Stadt meiner Träume sein
Dort, wo die alten Häuser steh'n
Dort, wo die lieblichen Mädchen geh'n
Wien, Wien, nur du allein
Sollst stets die Stadt meiner Träume sein
Dort, wo ich glücklich und selig bin
Ist Wien, ist Wien, mein Wien

Die Möglichkeit des Teleworkings bedeutet einfach, dass die Stadtbewohnerin weniger oft ins Zentrum fahren muss. Das verringert die Transportkosten und führt dazu, dass die Stadtbewohnerin bereit ist, eine größere Entfernung vom CBD auf sich zu nehmen, auch weil sie sich dadurch eine größere Wohnung leisten kann. Weit verbreitetes Teleworking führt also dazu, dass sich die Städte stärker ins Umland ausbreiten und dass die Pendelentfernungen größer werden. Das sind aber dann die Veränderungen bei den Restriktionen und nicht die Präferenzen, also die „Sehnsucht nach dem Land“.

×

Conclusio

Wer kann, zieht aufs Land, doch die Stadt punktet immer noch mit den Vorteilen von Ballungszentren, denn nur dort sind Arbeitskräfte und Arbeitsplätze am selben Ort. Das Homeoffice setzt ein Fragezeichen hinter die Attraktivität der Zentren. Jedoch wird zu vergessen, dass auch Unternehmen vieles an die Stadt bindet. Sofern nicht auch die Infrastrukturen in die ländlichen Regionen wechseln können oder dort erhalten bleiben, sichern die Agglomerationseffekte den Städten ihre Anziehungskraft.

Mehr Landleben

Unser Newsletter