Wettrüsten 2.0: Nordkorea gegen Südkorea
Nordkorea wird in Seoul schon lange nicht mehr als ernsthafte Bedrohung wahrgenommen. Russlands Angriffskrieg auf die Ukraine könnte das ändern – mit Folgen für ganz Ostasien.
Auf den Punkt gebracht
- Spaltung. Seit 1953 gilt auf der koreanischen Halbinsel ein Waffenstillstand. Friedensabkommen zwischen den beiden Ländern wurde aber keines geschlossen.
- Drohgebärden. Zuletzt haben die Spannungen wieder zugenommen. Angesichts nordkoreanischer Atomwaffentests blieb Seoul aber gelassen.
- Abkehr. Russlands Angriff auf die Ukraine lässt die Hoffnungen auf eine freiwillige Denuklearisierung des Nordens nun endgültig schwinden.
- Wettrüsten. Auch Südkorea könnte sich nun zum Zwecke der Abschreckung dazu entscheiden, atomar aufzurüsten – und diverse Nachahmer in der Region finden.
Was hat das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine mit der Lage auf der koreanischen Halbinsel gemeinsam? Vielleicht mehr, als man auf den ersten Blick ahnen würde, denn es gibt zunehmend Parallelen.
Nordkorea ist eines der Länder, in denen seit mehr als 70 Jahren eine einzelne Person über enorme und kaum von Institutionen eingeschränkte Macht verfügt. Das Land befindet sich in völliger wirtschaftlicher Isolation vom Westen und ist dementsprechend unterentwickelt. Kim ll-sung, Großvater des heutigen Diktators Kim Jong-un, versuchte 1950, eine Wiedervereinigung des nach dem Zweiten Weltkrieg willkürlich geteilten Landes auf militärischem Wege zu erzwingen. Nach drei Wochen hatte er es fast geschafft – dann kam der Gegenschlag der Amerikaner. Drei Jahre und etwa vier Millionen Tote später kam es zu einem Waffenstillstand, der nun seit 69 Jahren ohne Friedensabkommen besteht.
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Geteiltes Land
Die Demokratisierung Südkoreas und der enorme wirtschaftliche Aufschwung, den das Land seit Ende der 1980er-Jahre erlebt hat, machen die Gefahr eines südkoreanischen Überfalls auf den Norden – eine Option, die zuvor in Seoul durchaus offen diskutiert wurde – relativ gering. Aktuelle Bedrohungsszenarien gehen daher meist von einem Angriff Nordkoreas aus.
Betrachtet man jedoch die geringe Bedeutung, die dem kriegerischen Nachbarn im südkoreanischen Präsidentschaftswahlkampf 2022 zuteil wurde, wird deutlich: In Südkorea haben die Jahrzehnte des relativen Friedens und des wirtschaftlichen Wohlstands gewirkt. Nordkorea wird mehr als lästiger Störfaktor denn als ernsthafte Bedrohung wahrgenommen. In Umfragen sinken daher seit Jahren die Pro-Stimmen zur Notwendigkeit einer Wiedervereinigung. Eine friedliche Teilung würde vor allem der jüngeren Generation völlig genügen.
Zahlen & Fakten
Familienzusammenführungen: Politisches Druckmittel des Nordens
- Der Koreakrieg dauerte von 1950-1953 und endete ohne Friedensabkommen. Nord- und Südkorea sind durch eine demilitarisierte Zone voneinander getrennt; weder freier Personenverkehr noch eine Kommunikation zwischen den beiden Ländern ist erlaubt.
- Durch den Krieg wurden tausende Familien voneinander getrennt – ohne Chance auf Wiedervereinigung. Nordkoreanische Bürger dürfen das Land weder verlassen noch selber ihren Wohnort bestimmen.
- Im Zuge der südkoreanischen „Sonnenscheinpolitik“ der 2000er-Jahre, bei der sich um einen Austausch mit dem nördlichen Nachbarn bemüht wurde, wurden erstmals Familienzusammenführungen ermöglicht: eine einmalige Gelegenheit für Angehörige getrennter Familien, sich im Grenzgebiet für einige Tage wiederzusehen.
- Nach Angaben des Ministeriums für Wiedervereinigung in Seoul registrierten sich ursprünglich 132.000 Südkoreaner für die Familienzusammenführungen. Die Plätze werden per Zufallsprinzip verlost; wer einmal ausgewählt wurde, kann sich nicht wieder bewerben.
- Die letzte Wiedervereinigung fand 2015 statt; seither scheitern neue Versuche an Pjöngjang, das politischen Nutzen aus den Familienzusammenführungen ziehen will. Derweil schwinden die Hoffnungen auf ein Wiedersehen unter den Betroffenen: Berichten zufolge sterben jeden Monat zwischen 300 und 400 Personen auf der Wiedervereinigungsliste aus Altersgründen.
Südkorea bleibt cool
Selbst die ersten Atomwaffentests Nordkoreas 2006 haben daran nichts ändern können. Da Seoul mit seinen 12 Millionen Einwohnern auch in Reichweite konventioneller nordkoreanischer Geschütze liegt, werden die Atomwaffen im südkoreanischen Mainstream eher als Signal an Japan und die USA wahrgenommen. Mitunter verstehen kluge Köpfe deren Wirkung auch als Absicherung Kim Jong-un’s gegen eine zu große Fürsorglichkeit des großen Bruders China. In jedem Falle wäre ein Angriff Nordkoreas auf Südkorea aufgrund der Bündnisse mit Japan und den USA sowie der in der Region stationierten Truppen für Pjöngjang selbstmörderisch und gilt daher als sehr unwahrscheinlich.
Putins Überfall auf die Ukraine dürfte allerdings die Pläne zum Abzug der US-Truppen aus Südkorea ganz tief in der Schublade verschwinden lassen. Eine freiwillige Denuklearisierung im Norden ist noch unwahrscheinlicher geworden, als sie es ohnehin schon war. Doch Diktatoren sind unberechenbar. Eine entscheidende Frage, die sich derzeit stellt, ist: Wäre auch eine atomar bewaffnete Ukraine zum Opfer Putins geworden?
Vor allem in Seoul und in Tokio wird man nun diskutieren, ob die bisherige Zurückhaltung aufgegeben werden sollte. Beide Länder haben das technische Potenzial, binnen kürzester Zeit Atomwaffen zu produzieren. Südkorea ist in den 1970er-Jahren von den USA daran gehindert worden. In Japan war bisher trotz intensiver werdender Vorstöße konservativer Kräfte noch immer die Erinnerung an Hiroshima und Nagasaki ein starker innenpolitischer Faktor. Das könnte sich nun ändern.
Nachahmer in Ostasien
Die Folgen eines atomaren Wettrüstens in Ostasien wären fatal, zumal sich dieses primär gegen China richten würde – trotz der zu erwartenden Dementis. Die gegenseitige Bedrohung würde steigen, und es gäbe eine Zahl an möglichen Nachahmern. Vietnam und die Philippinen liegen bereits mit China im Streit um das Südchinesische Meer. Taiwan macht sich Sorgen um die Unterstützung durch die USA, Australien fühlt sich geografisch isoliert. Indonesien wird nicht zurückstecken wollen, Malaysia auch nicht, und in Myanmar herrscht ohnehin eine Militärjunta. Mehr Atomwaffen bedeuten schließlich auch ein höheres Risiko für Unfälle und Proliferation – also dafür, dass solche Waffen in die Hände von Terroristen geraten, die diese dann nach Europa bringen. Der Kreis würde sich schließen.
Südkorea und Japan haben das technische Potenzial, binnen kürzester Zeit Atomwaffen zu produzieren.
Vor diesem düsteren Hintergrund zeigt sich, wie falsch es wäre, die Ereignisse in der Ukraine isoliert zu betrachten. Bei aller Abscheu bedeutet eine verantwortungsvolle Politik auch, dass man die Motive des Aggressors Russland und möglicher Nachahmer versteht – nicht, um sie zu rechtfertigen, sondern um weitere Katastrophen zu verhindern. Wenn Nordkorea sich durch amerikanische Militärmanöver bedroht oder durch wirtschaftliche Sanktionen angegriffen fühlt, dann kann man das weiterhin schulterzuckend abtun und auf das internationale Recht, moralische Überlegenheit und UN-Resolutionen verweisen. Nur: Wollen wir den Preis dafür bezahlen, falls sich erneut ein Diktator anders verhält, als wir Analysten es aus der trügerischen Sicherheit unserer Studierstuben vorhergesagt haben?
Conclusio
Südkorea sah im Atomwaffenprogramm Nordkoreas bis zuletzt keine ernstzunehmende Bedrohung. Mit dem Überfall Russlands auf die Ukraine könnte sich das nun ändern – immerhin hätte eine atomare Bewaffnung der Ukraine einen Angriff potenziell verhindern können. Sollte Südkorea, das sich in den vergangenen Jahrzehnten einer Politik der Denuklearisierung verschrieben hatte, ein eigenes Atomwaffenprogramm auf die Beine stellen, hätte das eine Signalwirkung für den gesamten ostasiatischen Raum. Nicht nur Nordkorea, sondern auch China könnte sich davon provoziert fühlen. Der Ukraine-Krieg darf daher nicht als isoliertes Ereignis gesehen werden, sondern muss als Teil des geopolitischen Weltgeschehens betrachtet werden.