Der Fall der woken Mauer

Donald Trumps Politik stößt entweder auf stürmische Begeisterung oder wütende Ablehnung. Der Grund für die überschießenden Emotionen: Trump begeht Tabubrüche.

Die Illustration zeigt eine große Menschenmenge in einem Stadion, die gegen Donald Trump protestiert, der im Vordergrund zu sehen ist. Viele halten Schilder hoch, darunter eines mit der Aufschrift "TRUMP GO HOME". Eine Frau hebt energisch die Faust und trägt ein T-Shirt mit einem Anti-Trump-Slogan. Das Bild illustriert einen Kommentar über Trumps Tabubrüche und wie er damit für heftige Emotionen sorgt.
Praktisch jeder Satz des neuen US-Präsidenten provoziert stürmische Reaktionen – begeisterte Zustimmung oder empörte Ablehnung. © Roland Vorlaufer

Ob sie ihm nun wohlgesinnt sind oder nicht: Kaum ein Politikwissenschaftler bezweifelt, dass Donald Trump mit seiner Politik einen völlig neuen Kurs einschlägt. Sie setzt sich radikal vom Politikverständnis seiner Vorgänger ab. Und von jenem seiner europäischen Kollegen. 

Trump ist wohl der meistdiskutierte US-Präsident der jüngeren Geschichte. Kaum ein Satz von ihm, der nicht medial Wort für Wort auseinandergenommen wird. Die Reaktionen darauf sind heftig: Anhänger jubeln ihm zu, Kritiker können ihre Wut und Abscheu kaum verbergen. Trumps Aussagen emotionalisieren. Dafür wurde in den USA sogar ein eigener Begriff entwickelt: Das Trump derangement syndrome (auf Deutsch Trump-Verwirrungs-Syndrom, ein politikwissenschaftlicher, kein psychologischer Begriff) bezeichnet die heftige, von Emotionen geprägte Abneigung gegen jede Äußerung des Präsidenten. 

Gemein ist diesen Abwehrreaktionen, dass sie sich nicht rational und inhaltlich mit Trumps Positionen zu Migration, Wirtschaft oder Sicherheitspolitik auseinandersetzen, sondern sich auf die Person Trump beziehen. Der Journalist Charles Krauthammer hatte ein solches „Symptom“ bereits während der Präsidentschaft von George W. Bush ausgemacht. Was er damals darüber schrieb, gilt heute noch viel stärker für Donald Trump. Das Syndrom sei „der akute Ausbruch von Paranoia bei ansonsten normalen Menschen als Reaktion auf die Politik, die Präsidentschaft, ja die bloße Existenz von George W. Bush“. Die aggressive Abwehrhaltung gegen jede Äußerung von Donald Trump nimmt fast schon pathologische Züge an. 

Trump sagt, was nicht mehr gesagt werden darf. Und was doch viele Menschen denken.

Warum ist das so? Warum bringt der US-Präsident so viele Menschen dermaßen in Rage? Trump sagt, was nicht mehr gesagt werden darf. Und was doch viele Menschen denken. Seine Politik richtet sich gegen den woken Zeitgeist und einen Meinungsterror, der seit Jahren den politischen Diskurs durchsetzt. Dies löst in der Bevölkerung zwei extrem unterschiedliche Reaktionen aus: Die einen fühlen eine neue Freiheit, endlich wieder sagen zu dürfen, was sie denken. Die anderen fühlen sich bedroht, weil gegen eine etablierte Ordnung verstoßen wird. 

Der Bruch der Ordnung 

Das Wort „Tabu“ brachte der britische Seefahrer James Cook im 18. Jahrhundert von den polynesischen Tongainseln nach Europa. Er erfasste als einer der Ersten die Bedeutung von Tabus für das Zusammenleben in archaischen Gesellschaften. Tabus regelten das Verhalten der Menschen in Bezug auf Personen, Gegenstände und Orte. Wer ein Tabu brach, musste mit sozialen Konsequenzen oder übernatürlichen Strafen rechnen. Die Idee des Tabus diente dazu, die soziale Ordnung aufrechtzuerhalten. Wer es verletzte, musste sich einer rituellen Reinigung unterziehen. 

Psychologisch gesehen entsteht dieser emotionale Konflikt im Umgang mit Tabus. Trump bricht zahlreiche moderne Tabus der Political Correctness. Und ein Tabubruch löst in den meisten Menschen zunächst eine emotionale Abwehrreaktion aus. Der Mensch möchte das Bestehende erhalten. Selbst wenn diese Tabubrüche gerechtfertigt sind oder sogar unvermeidbar. 

Tabus wurden nicht schriftlich festgehalten, sie waren Werte, tief im Glauben der Gemeinschaft verwurzelt. Gesetzestexte oder Exekutive brauchte es nicht. Denn in einem Volk wie jenem der Tongaer war die soziale Ächtung die größtmögliche Strafe. 

Schutz vor offenen Konflikten 

Viele archaische Tabus sind weder willkürlich noch sinnlos. Es gibt hinreichend rationale Gründe, um bestimmte Dinge oder Verhaltensweisen als „tabu“ zu markieren: Zum Beispiel gibt es weniger Krankheiten, wenn menschliche Exkremente auf Abstand gehalten werden. Für die Toten wird in der Regel ein eigener, abgesonderter Bereich vorgesehen. Schimpfwörter sind zwar nicht ganz verboten, aber in vielen Kontexten tabu. Überhaupt erleichtern Regeln der höflichen Sprache das Miteinander, verhüten den Ausdruck von Aggression in Beziehungen und schützen so vor offenen Konflikten. Lüge, Diebstahl, Mord und Ehebruch stellen in praktisch allen Kulturen der Erde ein Tabu dar. 

Im jüdisch-christlichen Kontext sind diese Verhaltensverbote in den biblischen Zehn Geboten schriftlich festgehalten. Darüber hinaus gibt es in jeder Gesellschaft eine Reihe von kulturspezifischen Tabus, die einem Außenstehenden absurd und unnötig vorkommen mögen. Schweinefleisch gilt Juden und Muslimen als „treif“ (nicht koscher) oder „haram“. In Indien wird die linke Hand als unrein betrachtet. Daher gilt es als äußerst respektlos, jemand anderem Essen oder einen Gegenstand mit der linken Hand zu reichen. In Japan ist es unerhört, des Nachts zu pfeifen, denn man befürchtet, dass dadurch böse Geister oder Unglück angelockt werden könnten. 

Tabus sind ein Ausdruck eines geteilten Wertesystems, das den gemeinschaftlichen Zusammenhalt ermöglicht. Zugleich markieren Tabus klare Abgrenzungen nach außen. Wer gegen ein Tabu verstößt, riskiert, ausgestoßen zu werden. Tabus erleichtern das Miteinander, weil sie einem das Nachdenken über richtiges Verhalten ersparen. Viele der herkömmlichen, über Jahrhunderte gereiften Tabus sind überaus nützlich und haben eine bedeutende gesellschaftliche und psychologische Funktion. 

Nützliche und unnütze Tabus

Tabus können ihre Funktion aber auch verlieren, oder es können völlig sinnlose neu entwickelt und propagiert werden. Dann ist die Zeit gekommen, sie zu hinterfragen. Hilfreich ist hier die Suche nach ihrem tieferen Sinn und ihrer Funktionalität. Daraus folgt die Unterscheidung zwischen sinnvollen, funktionalen und sinnlosen, dysfunktionalen Tabus. Von letzteren haben wir neuerdings eine ganze Menge. 

Funktionale Tabus machen den Menschen frei. Sie bieten ihm Orientierung, ordnen seine Intuitionen und befreien ihn von moralischen Irrwegen und Sackgassen. Das Inzestverbot und das Tötungstabu etwa hindern den Menschen nicht daran, sein volles Potenzial zu entfalten, sondern ermöglichen es ihm erst. 

Moralische Narzissten, die ihre eigene Gerechtigkeit gerne zur Schau stellen, haben eine Vorliebe für dysfunktionale Tabus.

Dysfunktionale Tabus hingegen stören die freie persönliche Entwicklung. Häufig werden sie in Form von Denk- und Sprechverboten als verdecktes Instrument zur Verhaltenskontrolle eingesetzt. So beschneiden sie Denken, Fühlen und Handeln der Massen, um ideologische Ziele zu verfolgen. Es ist zum Beispiel in weiten Kreisen bereits verpönt, den biologischen Unterschied zwischen Männern und Frauen zu erwähnen. Das kritische Hinterfragen wird geächtet und voller Empörung zurückgewiesen.

Moralische Narzissten, die ihre eigene Gerechtigkeit gerne zur Schau stellen, haben eine besondere Vorliebe für – meist selbst gestrickte – dysfunktionale Tabus. Sie kreischen laut und voller Empörung auf, wenn jemand eines ihrer neuen Tabus bricht, das in der ideologischen Suppenküche von Spindoktoren künstlich synthetisiert wurde und für die Menschen keinen Mehrwert bietet. Normalbürger werden als Verbrecher dargestellt, weil sie mit ihrem angeblich unverantwortlichen Lebensstil die Klima-Apokalypse befördern. Wer ein „Zigeunerschnitzel“ oder einen „Mohr im Hemd“ bestellt, wird als Rassist an den Pranger gestellt. Wer auf das Binnen-I verzichtet, gilt schnell als Sexist. Tugend- und Tabuwächter verstecken ihre Machtgier hinter einer Fassade der Gerechtigkeit.

Die berechtigte Sorge um ein konstantes Klima auf unserem Planeten kann so zu einer Klimareligion degenerieren, die den Menschen in die Knie zwingt und ihm blutige Opfer abverlangt. Nicht mehr der Mensch steht im Zentrum der Schöpfung, sondern eine willkürlich festgelegte Temperatur. Ebenso kann die wichtige und richtige Sorge um die Gleichberechtigung zwischen Mann und Frau zu einer hysterischen Ideologie werden, die keinen rationalen Widerspruch duldet und biologische Fakten tabuisiert. 

Freie Bürger oder willenlose Mitläufer? 

Natürliche Tabus orientieren sich an einer objektiven Wahrheit und geben uns Menschen damit eine innere Orientierung. Das ist ihre Funktion. Es gibt nicht viele dieser funktionalen Tabus. Sie beschneiden nicht unnötig unsere Freiheit, sondern beziehen sich auf Grundlagen des menschlichen Zusammenlebens. Ihre Beachtung hilft uns, unsere menschliche Natur weiterzuentwickeln und zu verbessern. 

Die Illustration zeigt Donald Trump, der eine rote Kappe mit der Aufschrift "MAKE AMERICA GREAT" trägt und eine Wand mit einem Vorschlaghammer durchbricht. Die Wand ist bröckelnd und es entsteht ein großes Loch. Das Bild illustriert einen Kommentar darüber, wie Trump mit Tabus bricht und damit für heftige Emotionen sorgt.
Warum sorgt Donald Trump für derart heftige Emotionen? Weil er moderne Tabus bricht, meint der Psychiater und Autor Raphael M. Bonelli. © Roland Vorlaufer

Dysfunktionale Tabus hingegen sind künstlich gemachte Produkte politischer Interessen, die der einzelne Mensch nicht braucht und die ihn knebeln und missbrauchen. Sie machen aus dem freien Bürger einen willenlosen Mitläufer, der seine Handlungen nicht mehr autonom reflektieren kann. Dysfunktionale Tabus einen die Gesellschaft nicht, sondern spalten und zersetzen sie in verschiedene Lager. Sie helfen nicht dabei, die menschliche Natur zu entfalten, sondern pressen uns in ein enges Korsett aus Denkverboten. 

Ein funktionales, sinnvolles Tabu wäre etwa die Leugnung des Holocaust: Wir müssen definitiv nicht neu nachdenken und verhandeln, ob wirklich sechs Millionen Menschen grausam und systematisch ermordet wurden. Das steht fest. 

Dysfunktionale Tabus sind hingegen die Denkverbote in der Migrations- und Demographiedebatte, der Genderdiskussion, der Klimafrage, der Coronakrise und bei Themen wie Abtreibung und Religion. Zu all diesen Komplexen gibt es verschiedene berechtigte Standpunkte. Aus unterschiedlichen Expertisen und Perspektiven kann man gesellschaftlich einen gemeinsamen Lösungsweg erarbeiten, ohne den anderen Standpunkt gleich zu kriminalisieren. Hier sind Tabus, Diskriminierung und Cancel Culture kontraproduktiv, weil sie das Problem nicht lösen, sondern nur größer machen. 

Trump zerstört den Status quo 

Donald Trump bricht mit zahlreichen dysfunktionalen Tabus unserer Gegenwart, das ist an seiner Politik neu und polarisierend. In vielen Menschen löst er damit intuitiv eine Abwehrreaktion aus: Der bekannte Status quo soll erhalten bleiben. Selbst wenn er nicht mehr aufrechtzuerhalten ist und seine Verteidigung einen viel größeren Schaden mit sich bringt als seine Abschaffung. 

In seiner Rede auf der Münchner Sicherheitskonferenz am 14. Februar 2025 fasste der US-Vizepräsident J. D. Vance die Punkte der Trump-Politik präzise zusammen. Er sprach jene Themen an, die unser Leben bestimmen, von dysfunktionalen Tabus allerdings mit Denk- und Sprechverboten belegt werden: Massenmigration, Gender, Klima. Am meisten Empörung verursachten Vance’ Aussagen zur Meinungsfreiheit. 

Die woke Mauer bröckelt. Wir dürfen gespannt sein, was uns hinter dieser Mauer erwartet. 

„Was mich beunruhigt, ist die Bedrohung von innen: der Rückzug Europas von einigen seiner grundlegendsten Werte“, sagte Vance. Damit meinte er die Rede- und Gedankenfreiheit, die durch zahlreiche dysfunktionale Tabus in einen ideologisch sehr engen Meinungskorridor verwandelt wurde. Dabei kommt es zunehmend zu einer Entfremdung zwischen politischen Eliten und Bürgern. „Die Angst vor den eigenen Wählern“, so drückt Vance es aus, ist die Angst der Politiker vor der Zerstörung jener Tabus, die ihre politische Macht absichern. 

Donald Trump bricht radikal mit Tabus, die jahrzehntelang den politischen Diskurs dominierten – von Angela Merkels „Wir schaffen das“ bis zu Razzien von deutschen Behörden bei Menschen, die im Internet nicht opportune Meinungen äußern. Dafür wird der US-Präsident von seinen Fans gefeiert und von seinen Gegnern gefürchtet. Ob Trump sein Versprechen, eine neue Meinungsfreiheit zu etablieren, tatsächlich umsetzen oder bloß alte durch neue dysfunktionale Tabus ersetzen wird, muss sich allerdings erst zeigen. Trump ist der Vorbote einer Zeitenwende. Dysfunktionale, längst überholte Tabus beginnen langsam zu verschwinden. Die woke Mauer bröckelt. Wir dürfen gespannt sein, was uns hinter dieser Mauer erwartet. 

Tabu: Was wir nicht denken dürfen und warum
Raphael M. Bonelli zeigt die Bruchlinien einer Gesellschaft auf, die sich selbst als frei und tolerant versteht und doch keinen Raum für abweichende Meinungen lässt. edition a, € 21,– 

Mehr zum Thema

Unser Newsletter