Über die Zuversicht

Die Wege von Fortschritt und Zuversicht haben sich getrennt. Der Weg des Fortschritts verdunkelte sich, die Zuversicht aber blieb, wie sie nun einmal ist: hell, fröhlich, optimistisch. 

Foto eines Mannes vor einem geöffneten Kühlschrank, der lächelnd über seine Schulter in die Kamera blickt. Das Bild ist Teil eines Textes über Zuversicht.
Zuversicht im Mainstream 1965. © Getty Images

In den Sechzigerjahren wurde es Mode, sich „im Weggehen“ fotografieren zu lassen. Der oder die Porträtierte schaute über die Schulter in die Kamera und lächelte. Es sah aus, als hätte der Fotograf gerufen – aber schon war man weg. Eilig. Freudig. Flott. Der Fortschritt begann. Niemand wollte ihn verpassen.

Die Zuversicht ist wie das Meer. Sie bietet alles. Aus ihr kommt alles. Aber wir können auch darin untergehen.

Jeder Schritt im Fortschritt ist ein Beginn. Das ist sein Zauber und macht ihn am Anfang so lustig – und mit der Zeit so beschwerlich. Man wird weitsichtig und stolpert über das Naheliegende. Abgesehen davon geht es im Fortschritt aufwärts, da kommt man ins Schnaufen. Der Fortschritt nach dem Krieg war kein Weitergehen auf einem Weg, er war ein immerwährender Neubeginn. „Von jetzt an!“, das war die Devise. Die Zukunft war so nah wie noch nie.

Auch die Zuversicht ist Sicht ins Weite, und das Weite ist bekanntlich die Zukunft. Die Köpfe des Fortschritts und der Zuversicht zeigen in die gleiche Richtung. Und auch die Zuversicht startet täglich neu.

Das Lächeln auf den Fotografien war ein zuversichtliches Lächeln: Es geht voran, und ich will dabei sein. Ich will dabei sein, und ich werde dabei sein. Der erste Teil des Satzes ist Wunsch, der zweite Glaube. Wunsch und Glaube in eins ergibt Zuversicht. Können wir uns auf diese Definition einigen?

Eine Zeitlang marschierten Fortschritt und Zuversicht gemeinsam. Dann zweigten ihre Wege voneinander ab. Der Weg des Fortschritts verdunkelte sich, die Zuversicht aber blieb, wie sie nun einmal ist: hell, fröhlich, optimistisch. Die Gutmeinenden sagten, die Zuversichtlichen sind naiv, die Böswilligen nannten sie dumm. 

Optimistischer Dur-Akkord

Auf dem Weg des Fortschritts herrscht Gedränge, da gehen viele, da geht man nicht, da wird gegangen; da marschiert das Kollektiv, ob mit ruhigem festen Schritt und zugleich brüllend oder im smarten, schmerzlich optimierten Wettlauf mit Maschinen und Pillen und gesundem Essen aller Art. Auf dem Weg der Zuversicht dagegen geht immer nur einer.

Und der spricht im Konjunktiv – „als hänge der Erfolg lediglich von ihm selbst ab“, wie der Pädagoge des Bürgertums, Wilhelm von Humboldt, predigte. Der Zuversichtliche trägt das Gewicht der Welt, und es ist ihm leichter als der Goldklumpen dem Hans im Glück.

Der mir so liebe Charles Bukowski, der zärtlichste Rabauke, seit es Rabauken gibt, der singt dazu die Terz – der Mensch brauche nur drei Dinge: Zuversicht, Übung, Glück – das ist die pragmatische Version von Glaube, Liebe, Hoffnung. Einer fehlt noch zum Dreigesang. Wenn erlaubt, noch einmal einer meiner Lieblinge, der Philosoph Ralph Waldo Emerson: „Der Lauf der Dinge lehrt uns allenthalben Zuversicht.“ Schon haben wir einen klaren, optimistischen Dur-Akkord. Mehr Gutes als Zuversicht war nie zu erwarten.

Kein Preis für Pessimisten

Der Pessimist dagegen hat immer und auf alle Fälle recht. Nur – was hat er davon? Er ist der Besserwisser. Man hat ihn vorher nicht gemocht, und man mag ihn nachher erst recht nicht. Er fühle sich der Wahrheit verpflichtet – damit versucht er, sich herauszuwinden. Er habe das Problem verstanden und deshalb nicht auf die Zuversicht setzen können. Nein, er gewinnt damit keinen Preis. Seine einzige Chance besteht darin, sich als Melancholiker zu präsentieren.

Fortschritt und Zuversicht sind der Melancholie gleichermaßen gleichgültig. Der Blick nach vorne gibt der Melancholie die Bestätigung: Die Vergangenheit ist vergangen. So versinkt der Pessimist in der Tautologie. Und was ist Tautologie anderes als dumpfe Dummheit.

Die Zuversicht ist wie das Meer. Sie bietet alles. Aus ihr kommt alles. Sie ist schön, und sie kann uns ein Gefühl von Unendlichkeit geben. Ihr Rauschen hebt unser Herz. Ihr Duft berauscht uns. Aber wir können auch darin untergehen. 

Calpurnia bittet Cäsar, ihren Gatten, nicht zur Senatsversammlung zu gehen, sie ahnt, dass ihm dort große Gefahr droht. Cäsar entgegnet, er sei gefährlicher als jede Gefahr, er und die Gefahr, sie beide seien Löwen, am selben Tag geworfen, aber er sei der stärkere. Das ist die Weisheit aller Herrschenden: dass sogar die Gefahr sich vor ihnen duckt. Calpurnia prophezeit dem Imperator Roms: Deine Weisheit geht in der Zuversicht unter.

Und wenn es so ist? Wenn mein Verstand am Ende in der Zuversicht versinkt? Wäre das ein so schlechter Untergang? Oder wäre bittere Gewissheit besser? Wer immer mich auch hört – mach, dass ich lachend sterbe! 

Foto einer jungen Frau auf einem Busbahnhof, die Trauben isst und über die Schulter in die Kamera blickt.
Zuversicht in der Subkultur 1969. Diese Frau ist auf dem Weg nach Woodstock. © Getty Images

Philosophie sei Sterben lernen, sagt Michel de Montaigne, Zeitgenosse von Shakespeare und Cervantes. Philosophie ist nicht nur reine Vernunft. Montaigne hat ihr die Erzählung zur Seite gestellt. Die Erzählung kennt immer eine andere Möglichkeit. Jede Erzählung ist ein Bericht im Konjunktiv, und der Konjunktiv, was ist er anderes als der Modus der Zuversicht: „Es könnte sein.“

Der Verstand zeigt uns die Grenzen auf, seine Argumente lassen sich nicht widerlegen, sie sind logisch. Der Verstand rechnet uns vor, du kannst maximal 5 von 10 erreichen. Die Zuversicht sagt: Ich will und kann wenigstens 9. Am Ende schaffen wir 7. Darin besteht die Magie der Zuversicht.

Mehr Michael Köhlmeier

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