Über das Alleinsein
Das Alleinsein, das einen verzaubert, fand ich am jüdischen Friedhof in Hohenems. Buch, Notizblock, Bleistift und Zigaretten verhinderten, dass dabei Langeweile aufkam.
„Das ganze Unglück der Menschen rührt allein daher, dass sie nicht ruhig in einem Zimmer zu bleiben vermögen.“ Diesen Satz kannte ich, lange bevor ich wusste, dass er vom französischen Philosophen Blaise Pascal stammt. Er gehörte zum Ermahnungsreservat meiner Mutter. Sie sagte ihn manchmal laut vor sich hin – ohne Adressaten, in unserer Familie war nämlich niemand, der Alleinsein nicht ausgehalten hätte. Bei uns war es eher umgekehrt, jeder sehnte sich nach einem Zimmer für sich allein. Immerhin erkannte meine Mutter, dass Gefahr besteht, wenn einer immer jemanden um sich herum haben muss.
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In den Schulferien war ich manchmal tagelang allein. Meine Mutter war gehbehindert, sie konnte sich nur mithilfe eines Stützapparats, später nur noch im Rollstuhl bewegen. Drei Schritte zurück, und ich war ihrem Zugriff entzogen. Das hatte zur Folge, dass meine Mutter mir vertrauen musste, und das hatte zur Folge, dass ich ihr Vertrauen nicht missbrauchte.
Der jüdische Notar aus Coburg
Ich war ein liebevoll verwahrlostes Kind. Etwas Besseres gibt es nicht. Wenn ich über einen ganzen Tag allein sein wollte, begab ich mich regelmäßig auf den jüdischen Friedhof. Der lag außerhalb von Hohenems, meiner Heimatstadt in Vorarlberg, und war von einer Mauer umgeben. Dass aus den Bäumen, die hier wachsen, Bleistifte gemacht werden sollen – das wurde erzählt. Die Bleistifte, die so gut riechen, wenn man sie spitzt. Ich wusste Bescheid über den Holocaust. Meine Mutter erzählte von ihrem ehemaligen Chef, der war Notar gewesen und Jude. Sie hatte ihn gern gemocht, verehrt, vielleicht war sie ja auch ein bisschen verliebt gewesen in ihn. Das war in Coburg gewesen, dieser kleinen Stadt im nördlichen Bayern, in Franken.
Das war, als sie noch gehen konnte wie jeder andere Mensch auch. In Coburg waren die Nazis stark. Der Chef meiner Mutter wurde durch die Stadt getrieben und blutig geschlagen. Aber er konnte rechtzeitig nach Amerika fliehen. Nach dem Krieg, so erzählte meine Mutter, sei er gebeten worden zurückzukehren, man habe ihm das Amt des Oberbürgermeisters angeboten. Er lehnte ab. Meine Mutter gab ihm recht. Er soll gesagt haben, er wolle kein einsamer Mann in einer Amtsstube sein.
Über das Schämen
Vor den Nazis hatte sich meine Mutter gegraust, als wäre das Böse ein stinkender Dreck. Auch in Hohenems haben Juden gelebt. Und auch in Hohenems hatten die Nazis ihre Anhänger. Als ich ein Kind war, konnte man am Felsen des Schlossbergs das Hakenkreuz hervorscheinen sehen, wenn es regnete. Manchmal bringt es eben nicht die Sonne ans Licht, sondern der Regen. Später gab es dann Farben, die besser deckten. Überall im bösen Reich hat man die Synagogen angezündet, in Hohenems hat man ein Feuerwehrhaus daraus gemacht. Aber ich weiß immer noch, wo die Stelle mit dem Hakenkreuz war, dort ist jetzt ein gräulicher Fleck.
Es gibt solches und solches Alleinsein. Das eine ist ein normales, das andere ein verzaubertes, das eine ist von dieser Welt, das andere nicht. Das andere fand ich auf dem jüdischen Friedhof. Ich habe mir nicht die Mühe gemacht, den Schlüssel bei der Firma Otten abzuholen. Der Friedhof musste abgesperrt werden, weil man fürchtete, irgendwelche Neonazi-Idioten könnten dort ihren Unfug treiben. Ich kletterte über die Mauer.
Alleinsein ist nicht gleich Einsamkeit
Ein Buch hatte ich dabei und mein Notizbuch und einen Bleistift und Zigaretten. Diese vier Dinge verhinderten, dass aus dem Alleinsein die Langeweile der Einsamkeit wurde. In die Sonne setzte ich mich oder in den Schatten der Grabsteine oder der Bäume und träumte und schrieb und las und rauchte. Mit dreizehn hatte ich mir das Rauchen angewöhnt. Der Gedanke, dass Bäume nach ihrem Absterben zu Bleistiften verarbeitet werden, gefiel mir, aber bitte, dachte ich, nicht meine Bäume hier. Ich kratzte an der Rinde und hielt die Nase daran.
Eine oder zwei Stunden am Tag möchte ich, dass mir niemand zuschaut, wie ich mich mit mir allein wohlfühle.
Diese Nachmittage waren Glück. Ich las die Namen auf den Grabsteinen, schrieb sie in mein Büchlein. Es war mein glückliches, verzaubertes Alleinsein. Es roch gut, nicht nur nach dem Harz der Bäume, auch nach den Abgasen von der Straße her. Meine Mutter hatte Heimweh nach Coburg, sie war meinem Vater in die Fremde gefolgt. Autoabgase liebte sie. Sie riechen nach Stadt, sagte sie. Das größte Grauen darf manchmal durchatmen. Wie beim Fangenspielen. Eine Minute lang darf mir niemand etwas Böses tun.
Allein sein und allein gelassen werden
Wenigstens eine oder zwei Stunden am Tag möchte ich, dass mir niemand zuschaut, wie ich mich mit mir allein wohlfühle. Von Greta Garbo angeblich stammt der Satz: „Ich habe nie gesagt, ich will allein sein, ich sagte: Ich will allein gelassen werden. Das ist ein Riesenunterschied.“ Das ist es.
Vor wenigen Tagen habe ich wieder einmal den jüdischen Friedhof in Hohenems besucht. Ich habe mir den Schlüssel geben lassen. Lieber wäre ich über die Mauer geklettert. Aber das schaffe ich wahrscheinlich nicht mehr. Ich habe mich unter die alten Zedern gesetzt, auch das Buch, das ich in jenem fernen Sommer gelesen habe, hatte ich dabei, noch dieselbe Ausgabe: „Früchte des Zorns“ von John Steinbeck. Nur das Rauchen, das Rauchen, habe ich mir schon lange abgewöhnt. Irgendwie finde ich das schade.