Über den Charme
Man kann alle möglichen Eigenschaften mit Disziplin kontrollieren, vielleicht sogar bezwingen und antrainieren. Der Charme aber ist gegeben. Er ist ein Geschenk.
Zur Firmung wünschte ich mir als Paten meinen Onkel Gerhard. Er war der jüngere Bruder meiner Mutter und das Idol meiner Kindheit. Alles an ihm erschien mir nachahmenswert.
Am Nachmittag saßen wir bei Kaffee und Kuchen, Vater, Mutter, meine Schwester, unsere Großmutter, ich. Mein Onkel Gerhard saß mir gegenüber, tipptopp gekleidet wie immer, neuer Anzug, dreiteilig, schwarz, schwarz-weiß gestreiftes Hemd, Krawatte mit roten Kreisen und gelben Flammen. Diesmal war er allein gekommen, nicht in Frauenbegleitung, der Tag gehöre mir allein, hatte er gesagt und hat mir ein Stilett geschenkt.
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Meine Mutter hatte eine ihrer unübertrefflichen Buttercremetorten gebacken, unübertrefflich süß und unübertrefflich fett. Mein Vater, der immer ein wenig eifersüchtig und nahe am Beleidigtsein war, wenn sein Schwager uns besuchte, wollte mit dessen Esprit mithalten und servierte die Torte, als wäre sie ein Ufo aus dem Weltall. Die Torte rutschte vom Tablett, und statt auf dem Tisch landete sie auf dem Anzug meines Onkels. Der fette Brei erstreckte sich vom Brustbein über den Bauch bis auf die Oberschenkel.
Ich hatte zufällig in diesem Moment meinen Onkel im Blick, und ich sah nicht den kleinsten Anflug von Ärger, nicht einmal Erstaunen. Ich sah Amüsement, ja Begeisterung, Begeisterung, dass ihm etwas widerfahren war, mit dem er nicht gerechnet hatte, eine Sensation, die es verdiente, sich darüber zu freuen. Er fuhr mit seinem Zeigefinger in die Tortenmasse, schleckte den Finger bedächtig ab und sagte zu meiner Mutter: „Paula, du hast dich wieder einmal übertroffen!“ Dann rückte er mit dem Sessel vorsichtig ein Stück vom Tisch ab. „Bitte“, sagte er, „bedient euch!“ Und wir, was taten wir? Meine Mutter, unsere Großmutter, meine Schwester, ich und schließlich auch mein Vater, wir gruppierten uns um ihn herum, jeder mit einer Kuchengabel in der einen, der Kaffeetasse in der anderen Hand, und aßen von der Torte, die seinen Anzug bedeckte und rettungslos ruiniert hatte.
Mein Vorbild Onkel Gerhard
Damals dachte ich: So wie mein Onkel Gerhard will ich einmal werden. Ich hätte nicht genau beschreiben können, was ich damit meinte. Ich habe mein Leben lang darüber nachgedacht. Ich dachte: Ich möchte Charme besitzen.
Charme ist ein guter Fahrplan für die Schwachen. Er hat etwas Heiliges.
Was aber ist Charme? Es ist traurig – es nützt nämlich nichts, wenn man sich darum bemüht. Man kann alle möglichen schlechten Eigenschaften mit Disziplin und Geistesgegenwart kontrollieren, vielleicht sogar bezwingen; man kann sich umgekehrt manche gute Eigenschaften antrainieren, wie etwa Geduld oder Aufmerksamkeit oder Höflichkeit – der Charme aber ist gegeben, oder er ist nicht gegeben. Er ist ein Geschenk. Es kann einer nicht beschließen, charmant zu sein.
Wer aber verschenkt Charme? Wer ist so ungerecht, dass er den einen bevorzugt, den anderen aber nicht? Und es sind nicht immer die Guten die Charmanten und die Bösen die Uncharmanten, das wissen wir. Charme sei ein guter Fahrplan für die Schwachen. So habe ich gelesen. Charme hat etwas Heiliges. Der Charmante ist unantastbar. Er ist unverwundbar. Er spürt die Wunden nicht, er nimmt sie als interessante Verzierungen.
Der Nagel im Herzen Satans
Charme kann Eifersucht erregen, Neid, Missgunst, ja sogar Hass. In der Erzählung Billy Budd berichtet Herman Melville von einem jungen Matrosen, der mit dieser rätselhaftesten Eigenschaft des Menschen ausgestattet ist, zu der wohl auch gehört, dass sich der Betreffende dieser Bevorzugung gar nicht bewusst ist. Der Bootsmann John Claggart fühlt sich durch Billys Liebenswürdigkeit verletzt, er fühlt sich in einem metaphysischen Sinn verletzt. Er hasst den jungen, bei allen so beliebten Mann, beschuldigt ihn schließlich der Meuterei. Billy will sich wehren, er stottert und schlägt zu. Der Bootsmann stirbt, Billy wird gehängt. Ich vermute, die Aussage, Charme sei ein guter Fahrplan für den Schwachen, gründet auf der aussichtslosen Eifersucht des metaphysisch zu kurz Gekommenen. „Ich bin nicht erwählt worden wie der da.“ Das ist der Nagel im Herzen Satans.
Er hatte der bösen Hälfte des 20. Jahrhunderts nichts weiter entgegenzusetzen vermocht als seinen Charme.
Mein Onkel Gerhard ist nicht verschont worden von Schicksalsschlägen. Sein Leben lang hatte er massive gesundheitliche Probleme. Irgendwann, es war ein oder zwei Jahre vor seinem Tod, telefonierte ich mit ihm, ich fragte, wie es ihm gehe. Ich wusste, man hatte ihm eine Niere herausgeschnitten und nun auch die Prostata. Er lachte und sagte: „Michael, mein ganzes Leben haben alle auf mich eingeredet, ich müsse etwas gegen mein Übergewicht tun, da dachte ich mir, gut, lasse ich mir nach und nach das eine oder andere Stück herausschneiden, dann wiege ich weniger.“
Er sagte das ohne Bitterkeit, aber auch ohne Hoffärtigkeit, weil er damit einen Superwitz gelandet haben könnte; er sagte es fröhlich, mit fröhlichem Erstaunen und fröhlichem Interesse.
Mein Onkel Gerhard hat seine Kindheit und -Jugend während des Elends einer Diktatur und des Elends eines Weltkriegs verbracht. Er hatte der bösen Hälfte des 20. Jahrhunderts nichts weiter entgegenzusetzen vermocht als seinen Charme. Der hat ihn geführt. Er hat gesiegt.