Ohne Waffen keine Autonomie
Die USA werden in Zukunft wohl nicht mehr für Europas Sicherheit sorgen. Die EU muss endlich selbst aktiv werden und in die eigene Verteidigung investieren.
Auf den Punkt gebracht
- Wirtschaftlichkeit. Die USA werden sich künftig auf den indopazifischen Raum konzentrieren, um sich chinesischen Expansionsgelüsten entgegenzustellen.
- Sicherheit. Mangelnde finanzielle Ressourcen und die Knappheit an militärischen Fähigkeiten sind das Grundübel europäischer Verteidigung.
- Gemeinschaftsprojekt. Ein Haupthindernis bei der Stärkung gemeinsamer Rüstungskooperation stellen die unterschiedlichen Exportregime dar.
- Aufrüstung. In Zukunft darf sich Europa nicht mehr allein auf die USA verlassen, sondern muss selbst deutlich mehr in seine Verteidigung investieren.
Man mag es sich gar nicht vorstellen: Wo stünden die russischen Streitkräfte heute, hätten die Amerikaner nach dem Überfall Putins auf die Ukraine im Februar 2022 nicht eingegriffen und für die Europäer die Kastanien aus dem Feuer geholt? Die USA liefern der Ukraine mehr Waffen als sämtliche europäischen Länder zusammen. Es ist nur Spekulation, aber vielleicht hätten die Russen nach Mariupol auch Odessa eingenommen – womit der Weg frei gewesen wäre, um die Republik Moldau anzugreifen.
Nach dem Fall der Ukraine und der Republik Moldau hätte Putin seine Aufmerksamkeit sicher auch auf die baltischen Staaten gerichtet. Den Zerfall der Sowjetunion hat er immer als die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts dargestellt; die Rückkehr zu imperialer Größe ist Putins erklärtes Ziel.
Die USA ziehen sich zurück
Heute steht der russische Präsident vor dem Scherbenhaufen seiner Politik. Seine außenpolitischen Ziele hat er verfehlt, seine Macht im eigenen Land ist brüchig geworden, einen ersten Staatsstreich konnte er nur unter Gesichtsverlust abwehren. Putin hat sich vom freien Europa losgesagt und ist zum Juniorpartner Chinas verkommen. John McCains Vorhersage erfüllt sich: Russland wird zur Tankstelle Chinas.
Aber wäre die Situation heute die gleiche ohne die massive Unterstützung der USA? Oder, um die Uhr zurückzudrehen: Wie sähe der Balkan heute aus, wenn nicht amerikanische Truppen dem Morden Miloševićs im ehemaligen Jugoslawien ein Ende gesetzt hätten? Die nächste Frage drängt sich auf: Können wir damit rechnen, dass die Amerikaner auch in Zukunft in Europa einspringen? Die Wahrscheinlichkeit, dass die Amerikaner den Europäern unter die Arme greifen werden, wenn diese wieder mal in der Bredouille sind, sinkt kontinuierlich. Das hat mehrere Gründe:
Die Amerikaner haben mit eigenen Herausforderungen zu Hause zu kämpfen. Vieles liegt im Argen – das öffentliche Bildungssystem, das Gesundheitswesen, die Infrastruktur. Die sozialen Fragen verlangen Aufmerksamkeit und Geld. In den USA sind die Einkommensunterschiede riesig, die Gesellschaft driftet auseinander. Die amerikanische Demokratie hat den versuchten Staatsstreich am 6. Jänner 2021 überlebt, aber dass es überhaupt so weit kommen konnte, stimmt bedenklich. Und die Umfrageergebnisse, die Donald Trump im Rennen um die nächste Präsidentschaft weit vorne sehen, jagen einem den Schauer über den Rücken.
Höchste Zeit für eine EU-Armee?
Die amerikanische Außen- und -Sicherheitspolitik wird sich künftig – und dies ist eines der wenigen Themen, bei denen in den USA überparteilicher Konsens herrscht – auf den indopazifischen Raum konzentrieren, um sich den chinesischen Expansionsgelüsten entgegenzustellen. Dies ist auch im ureigensten europäischen Interesse. Wir wollen die Freiheit der Schifffahrt erhalten, die Handelsströme und Lieferketten sollen möglichst ungestört bleiben, damit unsere Wirtschaft weiter floriert.
Präsident Trump hatte bereits den Finger in die Wunde gelegt – wie in sehr viel diplomatischerer Art auch sein Vorgänger und sein Nachfolger: Die Amerikaner akzeptieren nicht mehr, dass sie an vorderster Front die europäische Sicherheit garantieren und mehr als drei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben sollen, während wir Europäer – allen voran Deutschland – seit Jahren den politischen Willen nicht aufbringen, Geld für das Militär in die Hand zu nehmen. Das im Jahr 2014 feierlich von allen NATO-Partnern unter dem Eindruck der russischen Annexion der Krim vereinbarte Zwei-Prozent-Ziel wird deutlich verfehlt. Auch der geplante Haushalt der deutschen Bundesregierung für 2024 verharrt bei Verteidigungsausgaben in Höhe von 1,5 Prozent des BIP. Kaschiert wird dieser Mangel durch Ausgaben aus dem beschlossenen Sondervermögen.
Das Grundübel europäischer Verteidigung
Wenn die dafür vereinbarten 100 Milliarden ausgegeben sind, wird das Problem wieder offen zutage treten; es sei denn, der politische Wille, grundsätzlich etwas zu ändern, setzt sich endlich durch. Das gilt für die größte europäische Volkswirtschaft Deutschland und für die meisten anderen ebenfalls. Nur die Balten, Polen und Griechen erledigen bisher ihre Hausaufgaben.
Europäische Sicherheit wird durch die NATO garantiert. Die EU ist bis heute ein Papiertiger geblieben.
Mangelnde finanzielle Ressourcen und die daraus resultierende Knappheit an militärischen Fähigkeiten sind das Grundübel europäischer Verteidigung. Ohne Waffen gibt es keine Autonomie. Das ist sehr einfach. Das kann man auch mit Sonntagsreden nicht kaschieren. Natürlich geht es um Geld, aber nicht ausschließlich. Es fehlt auch an Strukturen. Europäische Sicherheit wird seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs durch die NATO garantiert. Die EU erhebt zwar den gleichen Anspruch, ist aber bis heute ein Papiertiger geblieben. Es gibt kein eigenes europäisches Hauptquartier, keine europäische Eingreiftruppe, geschweige denn eine europäische Armee.
Die USA als großer Bruder
Dahinter steckt die realistische Einschätzung, dass nur die NATO mit ihrer Führungsmacht USA unsere Sicherheit garantieren kann. Wie hilflos Europa ist, zeigte sich vor zwei Jahren auf peinliche Weise, als es darum ging, europäische Staatsangehörige aus Kabul zu bergen. Europa verfügte nicht einmal über die notwendigen Kapazitäten, einen einzelnen Flughafen zu sichern, um die Ausreise sicherzustellen. Die USA mussten übernehmen.
Das darf nicht so bleiben. Europa muss ein eigenes Hauptquartier haben, das solche Einsätze lenken kann, und eine schlagkräftige Einsatztruppe, um die Einsätze durchzuführen. Erst wenn diese Aufgaben erledigt sind, darf man beginnen, von einer europäischen Armee zu träumen.
Auch die zahlreichen Doppelgleisigkeiten in der Beschaffung müssen abgestellt werden. Die Europäer nutzen etwa fünfmal so viele verschiedene Großwaffensysteme wie die USA. Eine Konzentration auf einige wenige Systeme ist dringend notwendig. Es müsste zu einer vernünftigen Arbeitsteilung und einer grenzübergreifenden Zusammenarbeit kommen. Leider gibt es dafür kaum politischen Willen.
Die großen Misstrauen einander
Deutschland und Frankreich als die beiden größten und wirtschaftsstärksten EU-Mitglieder müssten mit gutem Beispiel vorangehen. Aber die zwei Partner verhaken sich immer wieder ineinander. Zwischen den Rüstungsunternehmen herrscht Misstrauen. Jeder befürchtet, bei einer Zusammenarbeit – wie sie etwa beim Kampfflugzeug der nächsten Generation oder beim Kampfpanzer der Zukunft geplant ist – über den Tisch gezogen zu werden und wichtige Technologien an den Konkurrenten zu verlieren.
Deutschland und Frankreich verhaken sich immer wieder ineinander.
Dieses Misstrauen kann nur überwunden werden, wenn die Politik Führung übernimmt, die Unternehmer an einen Tisch holt und jeden Schritt der Zusammenarbeit überwacht. Das kann nur gelingen, wenn die Regierungen einander vertrauen – was derzeit offenbar nicht der Fall ist. In Anbetracht der Bedrohungen durch Russland und China und des erwartbaren amerikanischen Rückzugs ist dieser Zustand sehr besorgniserregend.
Die Impulse, die in diesem Zusammenhang aus Brüssel kommen, sind zu begrüßen. Die Europäische Kommission und der Hohe Vertreter für die außenpolitische Zusammenarbeit bemühen sich sehr darum, die Kooperation zu stärken. So wird der gemeinsame Einkauf von Munition aus Brüssel gefördert; das Gleiche gilt für europäische Gemeinschaftsprojekte bei der Rüstungsproduktion. Für größere Projekte fehlen derzeit die finanziellen Mittel. Aber der Weg ist richtig.
Die strategische Autonomie Europas
Ein Haupthindernis bei der Stärkung gemeinsamer Rüstungskooperation stellen die unterschiedlichen Exportregime dar. Es gibt liberalere Länder wie Frankreich und restriktivere wie Deutschland. Gemeinschaftsprojekte kann es aber nur geben, wenn sich die teilnehmenden Regierungen vorab auf ein gemeinsames Regelwerk einigen. Hier ist einerseits die EU gefragt, solche verbindlichen Richtlinien zu erlassen. Es sind aber auch Mitgliedsländer wie Deutschland gefragt, sich auf diese vermeintlich lockereren Regeln einzulassen und nicht auf einem restriktiveren Sonderweg zu bestehen.
Zahlen & Fakten
Mit der Lieferung von hochmodernen Waffensystemen an die ukrainischen Streitkräfte hat die Bundesregierung bereits ein Prinzip deutscher Nachkriegspolitik über den Haufen geworfen: Angesichts des russischen Überfalls auf die Ukraine hat sich die Regierung von Bundeskanzler Olaf Scholz vom Grundsatz verabschiedet, keine Waffen in akute Konfliktregionen zu liefern. Beim Rüstungsexport wird die Bundesregierung noch einmal über ihren Schatten springen und sich nach europäischen Regeln richten müssen.
In seiner historischen Rede vor dem Deutschen Bundestag zu Beginn des Krieges hatte Bundeskanzler Olaf Scholz von einer Zeitenwende gesprochen. Diese Erkenntnis müssen Deutschland und seine europäischen Partner jetzt nur noch umsetzen. Die strategische Autonomie Europas darf auf Dauer keine Illusion bleiben.
Conclusio
Die Europäer – allen voran Deutschland – bringen seit Jahren nicht den politischen Willen auf, Geld für das Militär in die Hand zu nehmen. Zudem hakt es bei der Zusammenarbeit der europäischen Rüstungsindustrie, das Verhältnis von Frankreich und Deutschland ist von Misstrauen geprägt. Bisher haben die USA für Europa militärisch die Kastanien aus dem Feuer geholt. Doch die Wahrscheinlichkeit, dass das so bleibt, sinkt. In Zukunft darf sich Europa nicht mehr allein auf die USA verlassen, sondern muss selbst deutlich mehr in seine Verteidigung investieren. Für die Umsetzung der „Zeitenwende“ braucht es einen europäischen Kraftakt.