Warum wir eine Leitkultur brauchen

Das jüdisch-christlich geprägte Europa wird vom Islam herausgefordert. Will der Kontinent seine freien Gesellschaften bewahren, muss er sich auf seine Werte besinnen.

Menschen in einer Einkaufsstraße in Wien. Das Bild illustriert einen Kommentar über die Dringlichkeit einer Leitkultur in Europa.
Ob man den Begriff „Leitkultur“ mag oder nicht, eine gesellschaftliche Übereinkunft wird immer dringlicher. © Getty Images

Über 40 Prozent aller Kinder in Wiens öffentlichen Volks- und Mittelschulen sind Muslime. Man liegt nicht falsch, wenn man diesen Umstand als integrationspolitische Herausforderung betrachtet. Das wirft die Frage auf, in welche Gesellschaft, in welche Kultur diese Kinder eigentlich integriert werden sollen. Reden wir also über Leitkultur.

Der Begriff wurde vor mehr als einem Vierteljahrhundert von Bassam Tibi in die Debatte eingeführt. Der Professor für internationale Beziehungen in Göttingen hat islamisch geprägte Migrationsmilieus studiert und beschäftigte sich schon früh mit den Voraussetzungen für ein friedliches Zusammenleben in demokratischen Einwanderungsgesellschaften. Bereits in den 1990er-Jahren zeigte Tibi als einer der Ersten jene Probleme auf, die inzwischen besorgniserregende Dimensionen angenommen haben. Die Frage, die er stellte, lautete: „Werden Muslime europäische Bürger, oder werden sie Europa islamisieren?“

Ein verpönter Begriff

Im deutschsprachigen Raum stieß der Begriff „Leitkultur“, insbesondere im politisch linken Spektrum, auf Unverständnis, Ablehnung und Häme. Dabei hatte der in Damaskus geborene Politikwissenschaftler niemals Lederhosen oder Wiener Schnitzel im Sinn, sondern einen verbindlichen Wertekonsens auf Basis der kulturellen Moderne: Vorrang der Vernunft vor religiöser Offenbarung, Trennung von Religion und Staat, Demokratie, Pluralismus und Toleranz.

Es ging Tibi gerade darum, jenseits von nationalistischen oder völkischen Vorstellungen ein Konzept zu erstellen, nach dem jeder Mensch etwa österreichischer, deutscher oder französischer Citoyen werden kann, indem er die Werte der pluralistischen europäischen Gesellschaft akzeptiert und sich loyal zu ihrer Verfassung verhält.

Jedes funktionierende Gemeinwesen beruht auf einer Übereinkunft, die sich aus der Summe der kulturellen Errungenschaften der Menschen in einem bestimmten geografischen Raum zusammensetzt, aus ihrer Geschichte und aus dem, was der Autor und Historiker Yuval Noah Harari „gemeinsame Erzählungen“ nennt, die Menschen zu größeren Gruppen und schließlich zu komplexen Gesellschaften verbinden.

Daher gibt es überall auf der Welt gemeinschaftsstiftende Narrative. Wo der Islam vorherrscht, stellt der Gründungsmythos aus der Biografie des Propheten die gemeinsame Erzählung dar – und eine auf der Scharia aufbauende Ordnung die islamische Leitkultur. Diese bringt ein Gesellschaftssystem hervor, das von Kollektivismus, Intoleranz, Abwertung anderer, der Unterordnung der Frau unter den Mann und Menschenrechtsverletzung geprägt ist.

Was ist nun demgegenüber die europäische Leitkultur, welche die Menschen Europas über nationale und regionale Eigenheiten hinweg miteinander verbindet? Hier kommt ein weiterer Begriff ins Spiel, der nicht minder umstritten ist wie jener der Leitkultur: die jüdisch-christliche Tradition.

Das islamische Leitbild ist von Unterordnung der Frau, Kollektivismus und Intoleranz geprägt.

Um eine Kritik gleich vorwegzunehmen: Mit „jüdisch-christlicher Tradition“ ist nicht ein wie auch immer geartetes oder gar funktionierendes Zusammenleben und -wirken von Juden und Christen im Laufe der Geschichte gemeint, denn ein solches hat es nicht gegeben. Die Geschichte der jahrhundertealten Judenfeindschaft und des modernen Antisemitismus ist bekannt. Der Begriff dient nicht zu deren Beschönigung. Er bezeichnet vielmehr eine geistesgeschichtliche Entwicklung, die in den Überlegungen der alten Israeliten und in der griechischen Philosophie ihren Ausgang nahm.

Aufgrund seiner Entstehung in einem griechischen Umfeld wurde das frühe Christentum vom Naturrechtsgedanken der Stoa und von der jüdischen Geistesgeschichte beeinflusst, aus der es unmittelbar hervorging und in die es sich durch die Übernahme der hebräischen Bibel als Altes Testament selbst stellte. Das ist es, was gemeinhin als „die jüdisch-christlichen Wurzeln der abendländischen Kultur“ bezeichnet wird. Der Begriff drückt somit den Rückgriff der christlichen Theologie – und in ihrer Folge der abendländischen Philosophie – auf einen Fundus theologisch-philosophischer Ideen aus, die der jüdischen Geistesgeschichte entstammen.

Kollektiv oder Individuum

In der europäischen Kultur, und nur in dieser, flossen drei Entwicklungen zusammen: die Begrenzung von Herrschaft, das Heraustreten des Individuums aus dem Kollektiv und die Verschiebung des theozentrischen Weltbilds (das Gott in den Mittelpunkt stellt) hin zum anthropozentrischen (das den Menschen in den Mittelpunkt stellt). Auf dem langen und steinigen Weg der europäischen Ideengeschichte wurde, anders als etwa in islamischen Gesellschaften, das Individuum aus seinen kollektivistischen Bindungen befreit und mit einer ihm eigenen Würde und unveräußerlichen Rechten ausgestattet. Herrschaft wurde bei uns zurückgedrängt und eingehegt.

Dieser Weg verlief nicht ohne Rückschläge. Mit der Befreiung des Individuums wurden in Gestalt politischer Ideologien auch jene Kräfte geboren, die das Individuum wieder in den Schoß der Kollektive zurückdrängen wollen. Die Auseinandersetzung zwischen beiden Bestrebungen ist Teil der europäischen Geschichte der letzten zwei Jahrhunderte, vom jakobinischen Terror bis zu den Verbrechen der großen ideologischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts.

Die Einwanderung setzt Europa zu

Und diese Auseinandersetzung hält bis heute an. Durch Einwanderung konservativer und fundamentalistischer Milieus islamischer Länder ist Europa eine neue Herausforderung erwachsen, die sich aktuell als die vielleicht größte Bedrohung europäischer Gesellschaften erweist.

Man mag den Begriff „Leitkultur“ akzeptieren oder nicht, der Bedarf nach einer gesellschaftlichen Übereinkunft, wie auch immer sie genannt wird, stellt sich mit zunehmender Dringlichkeit. Durch eine vollkommen unausgewogene Einwanderungspolitik prallen diametral entgegengesetzte gesellschaftliche Vorstellungen aufeinander. Die massive Einwanderung aus islamischen Ländern führt zu Konflikten, die geeignet sind, das friedliche Zusammenleben nachhaltig zu stören.

Beitrag „Leitkultur als Integrationskonzept“ von Prof. Dr. Bassam Tibi erschienen auf bpb.de

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