Wege in die Katastrophe

Drei Faktoren machen den Krieg in der Ukraine zu einem der gefährlichsten seit langer Zeit. Eine totale Niederlage Russlands könnte schlimme Folgen haben.

Auf einer mit KI generierten fotorealistischen Illustration ist eine verwüstete Stadt, teils brennend, teils überflutet, zu sehen. Das Bild illustriert einen Beitrag über Krieg und Frieden.
Atomkrieg: Ein falscher Schritt, und die Welt, wie wir sie kennen, geht unter. © AI-Artist / Florence Wibowo
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Auf den Punkt gebracht

  • Risikofaktoren. Entscheidend für die Gefahr eines Krieges sind die strategische Bedeutung des Konflikts, ausländische Interventionen und das Waffenarsenal.
  • Rückständigkeit. Russlands eingeschränkter Zugang zum Meer war ein Grund dafür, dass das Land stets rückständig blieb.
  • Interventionen. Sowohl Russland als auch die Ukraine haben im aktuellen Konflikt Unterstützung aus dem Ausland – teils wirtschaftlich, teils diplomatisch.
  • Atomkrieg. Im Fall des Ukrainekriegs wäre das gefährlichste Szenario eine totale Niederlage Russlands, die dazu führt, dass Putin im Kreml Atomwaffen einsetzt.

Bewaffnete Konflikte sind gefährlich für die darin verwickelten Menschen, das ist eine Binsenweisheit. Doch das Risiko ist nicht in jedem Fall gleich groß. Es gibt Situationen, von denen eine besonders große Gefahr ausgeht. Entscheidend sind dafür drei Faktoren: die strategische Bedeutung des Konflikts, allfällige ausländische Interventionen und das vorhandene Waffenarsenal.

Drei Risikofaktoren

Strategische Bedeutung hat ein Krieg, wenn die Feindseligkeiten wichtige Quellen für Nahrungsmittel, Energie, Rohstoffe, Transportwege und Ähnliches abzuschneiden drohen. In der Zeit nach 1945 sind die besten Beispiele dafür vielleicht der arabisch-israelische Krieg von 1973, die sowjetische Invasion in Afghanistan 1979, die irakische Invasion im Iran 1980 und die irakische Invasion in Kuwait 1990. Sie alle führten zu einem dramatischen Anstieg des Ölpreises.

Der zweite Faktor, der oft die Folge des ersten ist, sind ausländische Interventionen. So geschehen zum Beispiel 1950 (als die USA beschlossen, ihre Streitkräfte nach Korea zu schicken, um den südlichen Teil des Landes vor der Besetzung durch den Norden zu bewahren), 1965 (als die erste Brigade amerikanischer Marinesoldaten in Südvietnam landete) und 1979 (als die Sowjetunion in Afghanistan intervenierte). Eine solche Intervention birgt nicht nur die Gefahr einer Eskalation, sie ist bereits eine Eskalation. Allzu oft vergrößert sie das Ausmaß eines Konflikts und die Zahl seiner Opfer, wodurch es schwieriger wird, ihn zu kontrollieren.

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Zahlen & Fakten

Der dritte Faktor ist das Fehlen oder Vorhandensein moderner Waffen, insbesondere von Atomwaffen, in den Händen der Konfliktparteien. Sofern diese in ausreichender Zahl vorhanden sind, können sie die unmittelbare Zerstörung ganzer Stadtteile, Städte und sogar Länder bewirken. Nuklearwaffen in der Hand des Gegners schränken naturgemäß den eigenen Aktionsradius ein; in manchen Fällen sogar die Fähigkeit, überhaupt Krieg zu führen, da der Einsatz solcher Waffen einem Selbstmord gleichkommen könnte.

Das Interesse Russlands

Der russisch-ukrainische Krieg enthält Elemente aller drei Faktoren. Die Ukraine ist ein großes Land mit (vor dem Krieg) etwa 40 Millionen Einwohnern. Sie ist der weltweit größte Lieferant von Pflanzenöl und einer der größten Exporteure von Weizen. Wenn die Preise für diese Grundnahrungsmittel steigen, kommt es in vielen Entwicklungsländern zu Engpässen – mit schwer kontrollierbaren sozialen und politischen Konsequenzen.

Russland mit der Ukraine ist ein Imperium. Russland ohne die Ukraine ist nur ein Staat unter vielen, wenn auch ein riesiger und sehr mächtiger.

Auch die strategische Bedeutung der Ukraine kann kaum überschätzt werden. Würde Russland die Ukraine kontrollieren, könnte es das Schwarze Meer beherrschen und verhindern, dass jemand eine weitere Front in dieser Richtung eröffnet. Ohne Kontrolle über die Ukraine ist dies sehr viel schwieriger, wenn nicht gar unmöglich. Während des Kalten Krieges betrug die Entfernung zwischen der Ost-West-Grenze und Moskau etwa 2.000 Kilometer Luftlinie. Sollte die NATO der Ukraine den Beitritt gestatten, würde sich die Entfernung auf etwas weniger als 1.000 Kilometer verringern. 

Auf einer mit KI generierten fotorealistischen Illustration sind Kriegsschiffe auf dem Schwarzen Meer zu sehen. Das Bild illustriert einen Beitrag über Krieg und Frieden.
Russland kann das Schwarze Meer nur beherrschen, wenn es die Ukraine kontrolliert. © AI-Artist / Florence Wibowo

Kurz: Russland mit der Ukraine ist ein Imperium. Russland ohne die Ukraine ist nur ein Staat unter vielen, wenn auch ein riesiger und dank seines Nuklearwaffenarsenals ein sehr mächtiger. 

Nie wieder leichte Beute

Russland hat keine natürlichen Grenzen, sodass allein die Kontrolle seiner 22.407 Kilometer langen Landgrenze eine gewaltige Herausforderung darstellt. Ein Großteil des südlichen Teils ist gebirgig und schwer zu durchqueren. Doch die nördliche Hälfte birgt abgesehen von einer Reihe großer, flacher und langsam fließender Flüsse kaum Hindernisse für einen Angreifer, der aus dem Westen oder Osten kommt.

Und das ist nicht nur eine Frage der Geografie: Russlands eingeschränkter Zugang zum Meer war ein Grund dafür, dass das Land stets rückständig blieb, wie schon Peter der Große und Stalin erkannten. Diese Rückständigkeit ermöglicht es erst den Mongolen, dann den Osmanen, später den Polen und Litauern, den Schweden, den Franzosen, den Anglo-Franzosen auf der Krim (1853–56), den Japanern (1904/05 und 1939) und zuletzt den Deutschen (1914–18 und 1941–45), ihre Herrschaft über große Teile des Landes zu errichten oder wenigstens diesen Versuch zu unternehmen.

Ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist eine Sache, ein Krieg zwischen Russland und der NATO eine ganz andere.

In diese Reihe passt auch der Bürgerkrieg in den Jahren 1918–21, der einen Tiefpunkt in der Geschichte des Landes markierte. Russland galt damals als leichte Beute, weshalb die meisten der oben genannten Länder Truppen entsandten. Auch Amerikaner, Esten (die beinahe St. Petersburg erobert hätten), Rumänen, Italiener und sogar Griechen versuchten ihr Glück. In so eine Situation wollen die Russen nie wieder kommen.

Auch heute ist das Eingreifen des Auslands einer der Hauptgründe für die enorme Gefahr, die von diesem Konflikt ausgeht. Ein Krieg zwischen Russland und der Ukraine ist eine Sache, ein Krieg zwischen Russland und der NATO eine ganz andere. Dies gilt umso mehr, als auch Russland nicht allein dasteht: Einige andere Länder – China, Iran und die Türkei – haben diplomatische Unterstützung gewährt und Wirtschaftsvereinbarungen unterzeichnet, die es Russland ermöglichten, vom Westen verhängte Sanktionen zu umgehen; in einigen Fällen haben sie Putin auch Waffen verkauft. Gegen Russland im Einsatz sind westliche Waffen, die von westlich ausgebildeten Besatzungen bedient werden. Nach und nach werden auf beiden Seiten des Konflikts Fakten geschaffen, die zu einem dritten Weltkrieg führen könnten.

Die Wirkung der Atomwaffen

Seit 1949 haben Nuklearwaffen die Geopolitik auf zwei widersprüchliche Arten beeinflusst: Zum einen verhinderte das sogenannte Gleichgewicht des Schreckens im Kalten Krieg zweifellos die Eskalation vieler internationaler Krisen. Das galt nicht nur für Konflikte zwischen den USA und der UdSSR, sondern auch für jene, an denen kleinere Mächte wie Indien und Pakistan beteiligt waren.

Auf der anderen Seite machten Atomwaffen internationale Krisen viel gefährlicher. Ein falscher Schritt, und die Welt, wie wir sie kennen, geht unter. Wer seine Hoffnung in die Raketenabwehr setzt, täuscht sich. Wenn ein atomarer Angriff mit den richtigen Trägern und in ausreichendem Umfang erfolgt, ist keine der heute existierenden Abwehrmaßnahmen in der Lage, das Land zu retten, dem der Angriff gilt.

Zwei Szenarien für das Ende

Der russisch-ukrainische Krieg ist jetzt schon brandgefährlich, zwei Szenarien könnten ihn noch viel gefährlicher machen.

Szenario 1: Russland vernichtet die Streitkräfte der Ukraine, Kiew und andere wichtige Städte werden besetzt, Selenskyj und seine Regierung beseitigt. Eine andere Führung, russisch oder prorussisch, tritt an deren Stelle, das Land wird Russland ganz oder teilweise einverleibt. Die USA sind des Krieges überdrüssig und befürchten eine mögliche chinesische Invasion Taiwans. Auf Betreiben von Donald Trump und gefolgt vom Rest der NATO, findet sich der Westen mit dem Ergebnis ab und beendet seine Unterstützung für eine Regierung, die nicht mehr existiert. Unter der Annahme, dass die Russen wissen, wo sie aufhören müssen, und ihren Sieg nicht ausnutzen, um in weitere Länder Osteuropas einzumarschieren (zum Beispiel in die baltischen Staaten, Polen oder Moldawien), wäre dies noch das optimistische der beiden Szenarien.

Eine totale Niederlage Russland in der Ukraine wäre das gefährlichste Szenario.

Szenario 2: Die russische Armee erleidet entweder eine vernichtende Niederlage – eine Möglichkeit, die unwahrscheinlich erscheint –, oder sie beginnt infolge von Inkompetenz, Korruption und dem schieren Kampfunwillen ihrer Truppen zu zerfallen. Das würde zwar den Krieg beenden; Putin müsste in diesem Fall wohl Friedensvorschläge unterbreiten, die von der Ukraine und der NATO akzeptiert werden können. Oder seine Untergebenen würden eine Art Putsch veranstalten, ihn absetzen und mit ähnlichen Vorschlägen aufwarten. In jedem Fall ist die Gefahr groß, dass eine Niederlage zum Zerfall Russlands führen würde.

Warten auf die Gelegenheit

Wie der Begriff Föderation schon andeutet, ist Russland kein einheitliches Land. Laut einer qualifizierten Schätzung sind von den 144 Millionen Einwohnern nur 103 Millionen ethnische Russen. Die restlichen 41 Millionen setzen sich je nach Definition aus 120 bis 170 Nationalitäten und ethnischen Gruppen zusammen. Einige davon warten nur auf eine Gelegenheit, sich von Moskaus Joch zu befreien. Angesichts eines solchen Szenarios könnte ein neuer Herrscher im Kreml – in die Enge getrieben und nicht gewillt, dem Zerfall seines Landes zuzusehen – versucht sein, als letztes Mittel Atomwaffen einzusetzen. Zunächst als Warnung, dann vielleicht gegen echte Ziele.

Es gibt mehrere Möglichkeiten, einen gefährlichen Krieg noch gefährlicher zu machen. Die Eskalation beginnt mit der Unterbrechung der Kommunikation und des Wirtschaftslebens und setzt sich fort, wenn andere Länder in den Kampf eingreifen. Im Fall des Ukrainekriegs wäre das gefährlichste Szenario eine totale Niederlage Russlands, die dazu führt, dass Putin oder sein Nachfolger im Kreml Atomwaffen einsetzt. Dann gnade uns Gott.

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Conclusio

Drei Faktoren machen Putins Angriffskrieg auf die Ukraine brandgefährlich: Der Krieg hat strategische Bedeutung und droht, Quellen für Nahrungsmittel, Energie, Rohstoffe, Transportwege und Ähnliches abzuschneiden. Ausländische Interventionen führen oft dazu, dass sich ein Konflikt vergrößert und schwerer kontrollierbar wird. Das vorhandene Waffenarsenal der beteiligten Kriegsparteien, insbesondere Atomwaffen. Der russisch-ukrainische Krieg könnte noch gefährlicher werden. Das gefährlichste Szenario wäre eine totale Niederlage Russlands, die dazu führt, dass Putin oder sein Nachfolger im Kreml Atomwaffen einsetzt.

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