Warum die Krym „russisch“ wurde

Bis zum Krym-Krieg im 19. Jahrhundert konnte die Halbinsel sein was sie wollte. Dann musste sie russisch werden. Der Grund? Die Erfindung der „Russen“.

Romantisches Gemälde, das eine Gruppe orientalisch gekleideter Frauen zeigt. die um einen Brunnen sitzen, sich im Wasser spiegeln während Bedienstete ihnen Luft zufächeln. Im Hintergrund sitzt eine junge Frau im Fenstersturz allein und hält den Kopf gesenkt. Das Bild ist Teil eines Beitrags über die geschixhte der Krym und ihrer Bedeutung für Russland.
Karl Briullov „Der Brunnen von Bachtschyssaraj“ (1849). Das Bild nimmt Bezug auf das 1822 entstandene gleichnamige Gedicht von Alexander Puschkin und kann exemplarisch für die Stilisierung der Krym als „exotisch“ oder „mystisch“ stehen. Der Brunnen befindet sich im Khan-Palast von Bachtschyssaraj aus dem 16. Jahrhundert, der Sitz der Khan (Herrscher) über das Khanat der Krym. © Getty Images
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Auf den Punkt gebracht

  • Imaginäre Zwischenwelt. Bis zum Krym-Krieg war die Halbinsel für den Zeitgeist ein exotischer Kontaktpunkt zwischen Ost und West.
  • Geschichte als Instrument. Ausgewählte historische Ereignisse wurden bedeutsam, als Russland im 19. Jahrhundert ein „russisches Volk“ popularisierte.
  • Geschichte als Legitimation. Mit der Geschichte wurde die politische Gewalt gegen die multiethnische und multikulturelle Bevölkerung der Halbinsel gerechtfertigt.
  • Spiegel-Beziehung. Die Genese der „russischen Krym“ ist zugleich die Genese einer „russischen Identität“ – zum Teil in Abgrenzung zu Europa.

Fjodor Michailowitsch Dostojewski (1844-1881), Schriftsteller von Weltgeltung, Antisemit und einer der Vordenker des späteren Eurasismus, stellte kurz vor seinem Tod die rhetorische Frage nach der Bedeutung Asiens für Russland. Er kam zu dem Schluss, Asien werde „unser Schicksal sein, vielleicht ist genau Asien unser Hauptausweg“. Gemeint war der Ausweg aus Europa, das der Russe Dostojekwski für Asien hielt. Und das war nicht als Kompliment gemeint! Immerhin hielt Dostojewski fest: „In Asien sind auch wir Europäer.“

Mehr Geschichte

Was hat Dostojewski mit der Krym zu tun? In den ersten Jahrzehnten nach der (ersten) Annexion des unter osmanischer Oberhoheit (Suzeränität) stehenden Krym-Chanats im Jahr 1783 galt gebildeten Europäern — einschließlich der Zarin Katharina II. – die Halbinsel als Teil eines imaginierten Asiens auf europäischem Boden, halb gefährlich, halb ein Abbild der Erzählungen aus „Tausendundeine Nacht“, die zu der Zeit populär waren. Parallel identifizierte die europäische Öffentlichkeit die Krym als Schauplatz der klassischen Sagenwelt, als den Ort, wo „Iphigenie auf Tauris“ zwischen (europäischer) Zivilisation und (asiatischer) Barbarei agierte.

Das Zarenreich hatte Dank Katharina und ihrer Nachfolger diesen Mythenraum, als dessen Teil man sich verstand, für sich und Europa gesichert. Zugleich galt die Krym wegen der tatarisch-osmanischen Oberhoheit historisch, politisch und emotional als ein Teil Asiens und als rückständig.

Die zarisch-europäische Herrschaft über das Nordufer des Schwarzen Meeres seit dem letzten Viertel des 18. Jahrhunderts wurde gesamteuropäisch überwiegend begrüßt. Erst einige Jahrzehnte später sollten Intellektuelle wie Dostojewski oder der Naturwissenschaftler Nikolaj J. Danilevskij (1822-1885) die Rettung Russlands in der Hinwendung nach Asien – in einer essentialisierten Vorstellung davon – suchen.

Mythen über die Krym

Nicht erst in den beiden Weltkriegen, sondern bereits nach dem Krym-Krieg (1853-1856), begann sich das russische Sprechen über die Krym zu verändern: Im Zentrum stand nicht mehr der Stolz, einen in ganz Europa geschätzten antiken Locus gesichert zu haben, sondern die Auffassung, dass man schon vor dem Jahr 1.000 eng mit der Halbinsel verbunden gewesen sei. Zudem wurde das „asisatische“ Element der Krym-Geschichte diskursiv und statistisch weniger betont. Krymtataren verließen ihre Heimat bis in die 1860er Jahre aus religiösen und ökonomischen Gründen en masse Richtung Osmanisches Reich.

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Zahlen & Fakten

Eine Sepia-farbene frühe Fotografie von Roger Fenton, einem britischen Fotografen, der durch die Fotos des Kry-Krieges berühmt wurde. Das Foto zeigt zwei Soldaten der französischen Truppen, die auf einem kleinen Wall sitzen und sich ernst unterhalten. Der Soldat links im Bild ist möglicherweise ein Angehöriger der osmanischen Truppen oder hat sich die Kleidung und insbesondere den Fez (Tarboosh) geliehen. Oder aber es handelt sich um einen Gehilfen. Letzteres wird so im Bildtitel ausgewiesen. Das Bild ist Teil eines Beitrags über die Geschichte der Krym.
Menschen in leeren Landschaften: Der französische General Cisse mit „Aide-de-Camp“ 1855, Foto von Roger Fenton. Der Jurist war noch Hobby-Fotograf, auch wenn er offiziell von der britischen Krone entsandt worden war. © Getty Images

Krieg im Bild

  • Der Krym-Krieg (1854-1856) gilt als der erste „moderne“ Krieg aufgrund der Waffen, die zum Einsatz kommen (u.a. Sprenggranaten, Unterwasserminen), der Transport- (Dampfschiffe, Eisenbahn) und Kommunikationsmittel (Telegraph und Fotografie). Es ist der erste Krieg, der fotografisch festgehalten wird. Der von Prinz Albert (Vereinigtes Königreich) entsandte Roger Fenton bricht am 20. Februar 1855 auf. Er fotografierte allerdings keine Kampfhandlungen, dafür war die Ausrüstung zu schwer und außerdem hatte er die strikte Order „no dead bodies“ abzubilden.
  • Fentos Bildkomposition entspricht daher ganz der Studiofotografie der Zeit. Seine Darstellung des Krieges ist unrealistisch und unvollständig, da der Krieg nicht nur auf der Halbinsel stattfand, sondern sich bis nach Sibirien erstreckte. Dennoch gilt Fenton als der erste Kriegsfotograf.
  • Die eigentlichen Bilder von Schlachten, Toten und Verwundeten erreichten die Öffentlichkeiten in Paris und London durch die noch junge Lithografie und durch Malerei. Der Medienwechsel passierte erst später durch den Amerikanischen Bürgerkrieg 1861 bis 1865 und im Ersten Weltkrieg, der fotografisch sehr gut dokumentiert ist.
  • Zu den Ursachen des Krieges auf der Krym zählen religiöse Konflikte der christlichen Religionen in Jerusalem, die fragile europäische Ordnung nach dem Wiener Congress 1815 und die Konkurrenz um (koloniale) Handelsrouten.

Während St. Petersburg die tatarische Auswanderung anfänglich kritisch beobachtete, begrüßten gutgestellte Landbesitzer, auch solche tartarischer Herkunft, diese. Der staatlich geförderte Zuzug von Slaven, vor allen Dingen von Russen, aber auch Ukrainern sowie Bulgaren, wurde gefördert. Dazu passte die an Bedeutung gewinnende Erzählung, dass die Halbinsel „eigentlich“ schon seit dem Mittelalter russisch gewesen sei oder zumindest starke Berührungspunkte mit der sich heute wieder in aller Munde befindlichen „Russischen Welt“ habe.

Bis heute wird zum Beispiel von russischer Seite immer wieder auf ein Ereignis verwiesen, das, folgen wir der „Nestorchronik“ und damit der maßgeblichen Quelle für die Geschichte der ostslavischen Rus´, um das Jahr 988 auf der damals teilweise byzantinischen Halbinsel stattgefunden haben soll.

Dieser Erzählung zufolge führte der Kyjiwer Großfürst Vladimir erst einen Feldzug gegen Chersones, nahm dann das östliche Christentum an und heiratete eine purpurgeborene kaiserliche Schwester. Damit sei die Rus´ in den Kreis der zivilisierten Völker eingetreten, so die seit dem 19. Jahrhundert dominierende Interpretation der Taufe.

An diese Interpretation knüpft auch der russische Präsident Wladimir Putin immer wieder an, um die Annexion der Krym zu rechtfertigen. So etwa in der Ansprache vor der Föderalen Versammlung am 4. Dezember 2014, einige Monate nach der völkerrechtswidrigen Übernahme der Halbinsel. Er betonte „die große sakrale und zivilisatorische Bedeutung“, welche die Krim für Russland habe. Sie sei so wichtig „wie der Tempelberg in Jerusalem für Juden und Muslime“.

Zwei jüngere Kinder und eine Frau gehen hintereinander schwer bepackt auf einer unbefestigten Schotterstraße.
1944 bei Sewastopol: Nach dem Ende der deutschen Besatzung kehren Menschen in ihre (zerstörten) Häuser zurück. © Getty Images

Auch aus anderen nationalen Kontexten sind solche sprachlichen Manöver zur Legitimation territorialer Expansion wohlbekannt und keinesfalls eine russische Spezialität. Interessant in Bezug auf die Krym ist, dass sich während der deutschen Besatzung 1941 bis 1944 auch führende Nationalsozialisten wie der „Reichsminister für die besetzten Ostgebiete“ Alfred Rosenberg und ebenso Adolf Hitler selbst an leicht zu wiederlegenden historischen Rechtfertigungen versuchten: Die Halbinsel sei seit der Mitte des 2. Jahrhunderts von „gotischen Deutschen“ bewohnt gewesen und somit an das „Dritte Reich“ anzugliedern. Derartige Einbindungen in nationale Narrative funktionierten und funktionieren zumindest phasenweise.

Die Krym und die Krym-Tartaren

Nach dem Rückzug deutscher und rumänischer Truppen von der Halbinsel im April 1944 kehrte keinesfalls Frieden ein. Die weitläufigen Zerstörungen, die Shoa und der immense Blutzoll der übrigen Einwohner sollten noch lange das Leben prägen.

Die historisch multi-ethnische und multikulturelle Halbinsel veränderte sich grundlegend, forderte das wiederinstallierte sowjetische Regime doch weitere Opfer: Nach der Rückeroberung durch die Rote Armee beschuldigte die sowjetische Führung die etwa 200.000 Krym-Tartaren der Massenkollaboration mit den Nationalsozialisten, was nur teilweise der Wahrheit entsprach. Ihre Deportation, zumeist nach Usbekistan, wurde so gerechtfertigt.

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Zahlen & Fakten

Eine belebte Promenade in Jalta am Schwarzen Meer. Viele Menschen gehen in Sommerkleidung, blicken auf das Meer und essen Eis.
Die Promenade in Jalta in den 1970er Jahren. © Getty Images

Eine sehr kurze Geschichte der Krym

  • Von Skelett-Funden in der Nähe von Semferopol, in der Kiik Koba Höhle, weiß man, dass Gebiet seit mindestens 73.000 Jahren besiedelt ist. Von griechischen Siedlungen an den Küsten sind heute noch Ruinen erhalten, zum Beispiel Chersonesos und Pantikapaion – diese wurden wie die meisten Städte bzw. Siedlungen auf der Krym nicht von den Griechen gegründet, sondern durch die von den Griechen als „Skythen“ bezeichneten Gruppen. Mythologische Namen der Krym sind Tavria, Tauris beziehungsweise Taurien. Immer wieder versuchte man, diese Bezeichnungen wiederzubeleben, was aber nie gelang.
  • Teile der Krym gehörten kurzfristig zur Peripherie des Römischen Reiches, Hunnen wie Goten siedelten sich an oder zogen durch. Alle hinterließen Spuren.
  • Die Krym von Byzanz war multireligiös: Es gab bald jüdische, später christliche und noch später auch muslimische Gemeinden. Im 13. Jahrhundert bestimmte die Goldene Horde über die Krym, nach ihrem Zerfall entstand um 1430 das Krym-Khanat der Krym-Tartaren, das weite Teile der heutigen Ukraine umfasste, 1475 aber ein Vasallenstaat des Osmanischen Reichs wurde.
  • Erst im 18. und 19. Jahrhundert setzten Versuche der Homogenesierung der bunten Krym ein. Katharina II. erklärt nach dem russisch-türkischen Krieg die Halbinsel 1783 als russisch. Die Physiokratin treibt Militarisierung und Industrialisierung, insbesondere von der Landwirtschaft voran. Ihre Politik verdrängt die Tartaren durch Anwerbung von Italienern, Griechen und Bulgaren.
  • 1918, nach 1. Weltkrieg und Oktoberrevolution, erklärt sich die Ukraine für unabhängig, auf der Krym regiert kurzfristig eine provisorische Regierung. 1921 wird die Ukraine in die UdSSR eingegliedert.
  • Zwischen 1941 und 1944 ermordeten die deutsche Wehrmacht und SS mit Unterstützung der rumänischen Verbündeten die gesamte jüdische Bevölkerung der Halbinsel sowie Sinti und Romni.
  • 1944 und 1945 ordnete Stalin die Deportation von 200.000 Krym-Tartaren in den Osten der Sowjetunion. Das Trauma heißt in der kollektiven Erinnerung sürgün.
  • Die Krym erhielt innerhalb der Ukraine eine gewisse Autonomie. 1992 verabschiedete das Parlament eine eigene Verfassung. Der Hafen von Sewastopol wurde 1997 auf zehn Jahre an die Russische Föderation verpachtet – und spielt eine Rolle in diversen Gasstreits.
  • 2014 annektiert Russland das ukrainische Territorium und schafft das Parlament ab.

Auch andere, in der damaligen Diktion als ‚fremd‘ bezeichnete Nationalitäten wie die Krym-Griechen wurden in den Osten der Sowjetunion deportiert. Die meisten von ihnen durften erst im Nachgang der Entstalinisierung von 1956 und nach der sogenannten Geheimrede Nikita Chruščevs (1894-1971) in die Heimat zurückkehren.

Das galt aber nicht für die krymtatarische Bevölkerung, deren Schicksal von sowjetischen Dissidenten thematisiert wurde und die 1967 vom Präsidium des Obersten Sowjets per Dekret vom Vorwurf des kollektiven Verrats freigesprochen wurden. Das Recht auf die legale Rückkehr oder gar die Rückgabe von Land war damit nicht verbunden.

Olga Knipper-Tschechowa auf einem Spaziergang mit zwei weiteren Personen in einer mediterran anmutenden Landschaft. Das Foto wurde 1949 auf der Krym aufgenommen.
Auf der Krym, circa 1949: Die Schauspielerin Olga Knipper-Tschechowa (1868-1959) auf einem Spaziergang. Ihr verstorbener Mann, Anton Tschechow, lebte zeitweise auf der Krym wie auch viele andere Literaten und Künstler, kritisierte das Leben in Jalta aber als provinziell. © Getty Images

Erst das Ende der Sowjetunion änderte dies und führte zu Konflikten mit der slavischen Bevölkerung, die auch deshalb die (zweite) Annexion der Halbinsel durch eine russische Macht 2014 euphorisch begrüßten. Exakte Zahlen fehlen, aber nach Schätzungen haben 2014 nach der Annexion über 10.000 Krymtataren die Halbinsel in Richtung ukrainisches Festland, Türkei oder Nordamerika verlassen; die in der Ukraine verbliebenen hatten die dortigen zivilgesellschaftlichen und demokratischen Entwicklungen – die Orange Revolution 2003/2004 und den Euromajdan 2013/2014 – entschieden unterstützt. Wie viele Krym-Tataren seit Februar 2022 noch auf der Krim leben oder in die russländischen Streitkräfte eingezogen wurden, ist nicht feststellbar.

Der Mythos vom Geschenk

Die sowohl erinnerungspolitisch relevante als auch aktuell immer wieder diskutierte Frage, wer denn legitime Ansprüche auf die Krym erheben dürfe, wird von den meisten Völkerrechtlern und Völkerrechtlerinnen eindeutig beantwortet: Die Halbinsel ist Teil des ukrainischen Staates und hatte als autonome Republik gewisse Befugnisse. Wie war es dazu gekommen?

1954 war die Krim aus der Russländischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik (RSFSR) herausgelöst und von der Ukrainischen Sowjetrepublik verwaltet worden, als eine Art Morgengabe. Das barg einige ökonomische und logistische Vorteile, da es zum Beispiel mit der RSFSR keine Landverbindung gab. Vor allem sollte damit der Vertrag von Perejaslav von 1654 feierlich bestätigt werden. Russischerseits wird dieser Vertrag bis heute als Treueid der Zaporoher Kosaken auf den russischen Zaren Alexei I. interpretiert, als die Vereinigung zweier Brudervölker. Solang die Sowjetunion existierte, war dies nicht sonderlich wichtig, nach dem Zerfall aber sehr wohl.

Ein Frau in einer roten Windjacke beugt sich zu einem Delphin im Wasser hinunter und spricht mit ihm. Neben ihr steht ein blauer Eimer, daneben liegen ein pinkfarbener und ein grüner Ball. Das Bild wurde 1992 auf der Krym aufgenommen.
Sewastopol, 15. April 1992: Der Delphin ist ausgebildet, um Minen aufzuspüren. Die „Kriegsdelphine“ waren Teil eines in der UdSSR begonnenen Programms. © Getty Images

Debatten über die Legalität der sogenannten Chruščevschen Schenkung (die keine war), Konflikte über die Aufteilung der Schwarzmeerflotte, die Nutzung Sevastopols als russische Militärbasis sowie Auseinandersetzungen zwischen den mehrheitlich russophonen, slawischen Krymbewohnern und den aus Zentralasien heimkehrenden Tataren prägten die Jahre zwischen 1991 und 2014.

Ein weiteres kam hinzu: Der Ukraine gelang es seit der Unabhängigkeit nicht, das Land und die Krym zu einer wirtschaftlichen Erfolgsgeschichte werden zu lassen. Daher kam die Begeisterung, mit der sich die Mehrheit der slawischen Bevölkerung 2014 für den Anschluss an die Russländische Föderation aussprach – was das russische Vorgehen gegenüber der Ukraine aber keinesfalls rechtfertigt.

Die slawischen Bewohner hatten sich zudem im Referendum vom 1. Dezember 1991 mit 54 Prozent für den Status der Krym als Teil der unabhängigen Ukraine ausgesprochen, und sie besaß seit 1992 als einziges ukrainisches Gebiet den Status einer Autonomen Republik mit einem Regionalparlament und gewissen Hoheitsrechten im Bereich Finanzen, Verwaltung sowie Justiz.

Nach der Annexion von 2014 wurde die Halbinsel eines der 85 Unionssubjekte der Russländischen Föderation. Sevastopol hat, wie schon nach dem Zweiten Weltkrieg, als dritte Stadt nach Moskau und Sankt Petersburg den Status einer „Stadt föderalen Ranges“. Doch es bleibt festzuhalten: Völkerrechtlich ist die Halbinsel ein Bestandteil des ukrainischen Staates.

Die Bedeutung für die russische Identität

In der Rückschau stellt der Krymkrieg im russischen Diskurs eine Zäsur dar, da erstmalig über eine russische Nation, bestehend aus Männern wie Frauen, Adligen und Bauern, Kaufleuten und Soldaten, breit diskutiert wurde. Und dieses antipizierte „russische Volk“ hatte einen zerstörerischen Krieg gegen Europa und Asien ausgefochten – und zwar in Sevastopol und der übrigen Halbinsel. Darin liegt eine Wurzel des seit 2014 begonnen Ringens um dieses Gebiet.

Eine Gruppe von jungen Frauen hält Zettel mit einem blau-gelben Herz auf dem Voice of Unity und 1944 und Vote for Ukraine steht, hoch. Daneben das Logo des Eurovision Song Contest.
Kyjiw, 12. Mai 2016: Die Unterstützung für die krymtartarische Sängerin Jamala, die die Ukraine beim Eurovision Songcontest vertritt, ist ein politisches Statement – der Song Jamalas, „1944“, bezieht sich auf die Deportation Tausender Tataren durch Stalin und die Teilnahme am Songcontest manifestiert Zusammenhalt und pro-europäische Haltung. © Getty Images

Auch 2024 sind Russinnen und Russen mehrheitlich überzeugt, dass die Krym russisch sei. Krym naš – unsere Krym. Selbst die nicht überwältigend große Zahl der Putin-Gegner in der Russländischen Föderation teilen die Auffassung, dass die Halbinsel, die für Generationen Sowjetbürgerinnen und Sowjetbürgern gleich welcher Nationalität das mit Abstand beliebteste Urlaubsziel gewesen ist, keinesfalls zur Ukraine gehören dürfe.

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Conclusio

Dass die Halbinsel am Schwarzen Meer russisch sei, ist ein Mythos beziehungsweise ein Narrativ, das unter anderem als Ergebnis des Verhältnisses von Russland zu Europa zu verstehen ist, so die Rekonstruktion von Kerstin Jobst. Als ein multiethnisches und multikulturelles Gebiet unter der Oberhoheit des Osmanischen Reiches galt die Halbinsel nach der ersten Annexion zunächst als exotisches „Anderes“. Erst nach dem Krymkrieg begann die „Russifizierung“ der Halbinsel und zugleich der Versuch, dieses „russische Wesen“ durch die Geschichte zu belegen, denn erst dieser Krieg erschuf so etwas wie ein „russisches Volk“ in Abgrenzung zu Europa. In diesem Sinne hängt, so Jobst, auch die Identität der Russen als Russen an dem Mythos, die Krym sei russisch.

Der Beitrag von Kerstin Jobst zeigt darüber hinaus, dass „Nationen“ und „Völker“ Konstruktionen sind, die unter anderem mit Hilfe der Geschichte Relevanz und Wirksamkeit erhalten. Auf einer emotionalen Ebene ist für einen Großteil der russischen Bevölkerung die Halbinsel immer schon und immer noch russisch.

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