Soll ich das wirklich essen?
Das Angebot in Supermärkten kann überfordern. Der „Nutri-Score“ soll Konsumenten helfen, die richtigen Entscheidungen beim Einkauf zu treffen. Aber häufig ist er unverständlich und verwirrend.
Auf den Punkt gebracht
- Was kaufen? Die EU will eine obligatorische Kennzeichnung von Nährwerten auf Lebensmitteln.
- Von A bis E. In den Regalen setzt sich der Nutri-Score durch, dessen Skala von einem grünen A bis zu einem roten E reicht.
- Das Problem. Allerdings: Der Nutri-Score vergleicht nur in Produktgruppen, es gibt Cerealien mit grünem A und Nüsse mit rotem E.
- Ist es sinnvoll? Eine Lebensmittelkennzeichnung wäre durchaus sinnvoll, sofern sie wissenschaftlich überprüft und wirksam ist.
Zu viel, zu fett, zu zuckerreich – eine übermäßige Fett- und Kalorienzufuhr ist der Grundstein für Übergewicht und Adipositas. Erkrankungen des Herz-Kreislauf-Systems wie Bluthochdruck, koronare Herzkrankheit und ischämischer Schlaganfall sowie Stoffwechsel-Erkrankungen wie Typ-2-Diabetes sind oft unweigerlich die Folge. Übergewicht und Adipositas sind nicht nur ein individuelles, sondern auch ein gesellschaftliches Problem.
Mehr aus dem Dossier
Laut OECD-Bericht aus dem Jahr 2019 werden die OECD-Länder im Durchschnitt in den nächsten dreißig Jahren 8,4 Prozent ihres gesamten Gesundheitsbudgets für die Behandlung der Folgen von Übergewicht ausgeben. Der Einsatz von Public-Health-Strategien im Kampf gegen Übergewicht, Adipositas und deren Folgen ist daher auch ein regierungspolitisches Anliegen.
Ein Beispiel für so eine Public-Health-Strategie ist die Einführung der verpflichtenden Lebensmittelkennzeichnung. Seit 2016 müssen die meisten verpackten Lebensmittel mit einer leicht verständlichen und lesbaren Nährwertdeklaration versehen sein. Sie befindet sich in tabellarischer Form auf der Rückseite der Verpackung und liefert zuverlässige und vergleichbare Informationen pro 100 Gramm enthaltenes Lebensmittel. Eine Verzehrsempfehlung wird dabei allerdings nicht abgegeben.
Braucht es eine Konsumempfehlung?
In Verbraucherstudien konnte wiederholt gezeigt werden, dass die übliche Nährwertkennzeichnung auf der Verpackungsrückseite für viele Konsumenten wenig hilfreich ist. Besonders bildungsferne Schichten haben oft Schwierigkeiten mit der Interpretation der tabellarischen Darstellung. Immer häufiger wird daher auf eine vereinfachte Art der Nährwertkennzeichnung auf der Vorderseite verpackter Lebensmittel – Front-of-pack-labelling (FOP) – gesetzt, die auch eine Konsumempfehlung enthält.
Damit sollen zusätzliche Informationen geliefert werden, die die Konsumenten bei der Wahl gesundheitsförderlicher Lebensmittel unterstützen. Das zweite Ziel einer FOP-Kennzeichnung besteht darin, dass hiermit Anreize für Lebensmittelproduzenten geschaffen werden, ihre Produkte durch Rezepturänderung gesünder zu gestalten. Es gibt eine Reihe von verschiedenen FOP-Kennzeichnungsmodellen wie zum Beispiel den Nutri-Score, die Nutrinform-Batterie, die Nährwert-Ampel und das Healthy-Choice-Symbol.
WAs sagt der Nutri-Score aus?
Im Rahmen der EU-Strategie „Vom Erzeuger zum Verbraucher“ schlug die Europäische Kommission eine obligatorische Nährwertkennzeichnung auf der Vorderseite von Verpackungen vor, um den Konsum von Lebensmitteln mit hohem Salz-, Zucker- und/oder Fettgehalt einzuschränken. Da viele EU-Länder bereits über entsprechende Systeme verfügen, löste dies eine hitzige Debatte darüber aus, welches FOP-Label einheitlich implementiert werden soll. Ein im Fokus stehender Kandidat ist der Nutri-Score, der 2017 in Frankreich erstmals eingeführt wurde.
Je niedriger die Gesamtpunktzahl eines Produkts am Ende ist, desto besser ist das Nährwertprofil und damit das Ergebnis der Nutri-Score-Bewertung.
Der Nutri-Score liefert eine Gesamtbewertung eines verarbeiteten Lebensmittels. Diese wird auf einer Farbskala von A (dunkelgrün; günstigstes Nährwertprofil) bis E (rot; sehr ungünstiges Nährwertprofil) dargestellt. Woher kommt das Ergebnis? Auf der Grundlage einer speziellen Berechnungsmethode werden Punkte für bestimmte Nährstoffe und Zutaten vergeben. Energie, Zucker, gesättigte Fettsäuren und Natrium erhöhen die Gesamtpunktzahl. Proteine, Ballaststoffe und der Anteil von Obst, Gemüse und Hülsenfrüchten verringern die Gesamtpunktzahl.
Die Berechnung erfolgt immer auf der Grundlage von 100 Gramm oder 100 Milligramm eines Lebensmittels oder Getränks. Je niedriger die Gesamtpunktzahl eines Produkts am Ende ist, desto besser ist das Nährwertprofil und damit das Ergebnis der Nutri-Score-Bewertung. Dieses System ist produktgruppenspezifisch, was bedeutet, dass für die Bewertung von Getränken, Käse und zugesetzten Fetten leicht unterschiedliche Algorithmen verwendet werden.
Kritik am Nutri-Score
Leider ist der Nutri-Score nicht so klar und einfach, wie er auf den ersten Blick erscheinen mag. Ohne entsprechendes Hintergrundwissen ist er weder ausreichend verständlich noch eine zuverlässige Hilfe bei der Produktauswahl. Folgende Kritikpunkte können angeführt werden:
- Beim Nutri-Score werden bestimmte Nährwertfaktoren überbewertet, während andere wichtige Faktoren und gesundheitsrelevante Produktbestandteile unbeachtet bleiben. So werden beim aktuellen Berechnungsmodell Süßstoffe nicht berücksichtigt, obwohl immer mehr Studienergebnisse auf Gesundheitsrisiken durch regelmäßigen Süßstoffkonsum hindeuten. Auch andere unvorteilhafte Zusatzstoffe wie zum Beispiel Farbstoffe und Konservierungsmittel werden nicht bewertet. Auf der anderen Seite werden gesundheitsfördernde Bestandteile wie zum Beispiel sekundäre Pflanzenstoffe und Probiotika nicht miteinbezogen.
- Die Portionsgröße bleibt unberücksichtigt. Der Nutri-Score wird – unabhängig von der vorgesehenen bzw. üblicherweise konsumierten Portionsgröße – immer für 100 g bzw. ml berechnet. Allerdings wird zum Beispiel eine Tiefkühlpizza in deutlich größeren Mengen verzehrt als etwa Öl oder Ketchup.
- Der Nutri-Score dient ausschließlich innerhalb einer Produktgruppe (zum Beispiel Joghurtprodukte) als Vergleichs- und Orientierungskriterium, ist jedoch nicht produktgruppenübergreifend anwendbar (z.B. sind Frühstückscerealien mit grünem Nutri-Score A nicht zwangsläufig gesünder als mit einem roten E bewertete Nüsse).
- Eine genaue Bewertung eines Lebensmittels oder Getränks ist nur mit der Kenntnis der genauen Rezeptur möglich, weshalb im Wesentlichen nur die Produzenten selbst in der Lage sind, den Nutri-Score zu berechnen, während er für Verbraucher nicht ausreichend nachvollziehbar ist.
Algorithmus des Nutri-Score wird aktualisiert
Derzeit wird der Algorithmus für den Nutri-Score aktualisiert, um den aktuellen Ernährungsrichtlinien besser zu entsprechen (zum Beispiel werden bei Getränken Süßstoffe berücksichtigt, Salz- und Zuckergehalt wird stärker gewichtet etc.). Durch diese Anpassungen wird der Nutri-Score erheblich verändert. Dies führt zu einem weitgehend neuen Berechnungssystem, das jedoch noch nicht in seiner praktischen Anwendung auf die Lebensmittelauswahl der einzelnen Verbraucher getestet wurde. Der neue Algorithmus wird im Januar 2024 mit einer zweijährigen Übergangszeit in Kraft treten, in der es möglich sein wird, dass ein und dasselbe Lebensmittel mit unterschiedlichen Nutri-Score-Bewertungen am Markt zu finden ist. Dies kann zu einer gewissen Verwirrung bei den Verbrauchern führen.
Die Vermeidung von Produkten mit roter Kennzeichnung kann dazu führen, dass der Konsum bestimmter Lebensmittel, die reich an essenziellen Nährstoffen sind, reduziert wird.
Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Verwendung von Algorithmen zur Erstellung einer Nährwertbewertung kann dazu führen, dass die Auswirkungen bestimmter Nährwertfaktoren wie gesättigte Fettsäuren und Energie überbewertet werden, während andere wichtige Merkmale wie Portionsgröße, Zubereitungsmethoden zu Hause und ganzheitliche Aspekte der Ernährung übersehen werden. Dies kann die Konsumentinnen und Konsumenten dazu verleiten, grün gefärbten „Etiketten“ zu sehr zu vertrauen, was zu unausgewogenen Ernährungsentscheidungen führen kann. Die Vermeidung von Produkten mit roter Kennzeichnung kann umgekehrt dazu führen, dass der Konsum bestimmter Lebensmittel (wie Käse oder Öle), die reich an essenziellen Nährstoffen und besonders wichtig für spezielle Bevölkerungsgruppen wie Kinder, Schwangere oder ältere Erwachsene sind, reduziert wird. Dies könnte die eigentliche Absicht der Europäischen Kommission verfehlen, die Verbraucherinnen und Verbraucher dahingehend zu unterstützen, sich auf Grundlage leicht zugänglicher und zuverlässiger Informationen für eine gesunde und ausgewogene Ernährung zu entscheiden.
Welche Maßnahmen braucht es?
Die Einführung einer obligatorischen FOP-Kennzeichnung ist, wenn wissenschaftlich überprüft und wirksam, jedenfalls als wünschenswert einzustufen. Abseits davon könnten der WHO zufolge mehrere politische Maßnahmen, die auf die umweltbedingten und kommerziellen Determinanten einer schlechten Ernährung abzielen, dazu beitragen die Adipositas-Epidemie zu bekämpfen, Ungleichheiten in der Ernährung zu beseitigen und ökologisch nachhaltige Lebensmittelsysteme zu schaffen. Hierzu zählen Rezepturänderungen von Lebensmitteln, Einschränkung der Werbung für bestimmte Lebensmittelgruppen und Personengruppen (zum Beispiel Werbung, die sich gezielt an Kinder richtet), Kampagnen in den Massenmedien, Bereitstellung gesunder Mahlzeiten in Schulen bzw. an Arbeitsplätzen, Regelungen zur Kennzeichnung in Speisekarten, Aufklärung der Eltern und Portionskontrolle.
Conclusio
In der Diskussion um eine Lebensmittelkennzeichnung setzt sich der Nutri-Score aufgrund seiner Verbreitung derzeit durch. Aber es häuft sich die Kritik: Weil nur Produkte innerhalb einer Produktgruppe verglichen werden, kann es passieren, dass gesunde Produkte ungesund – Nüsse wegen ihres Fettgehalts – und ungesunde gesund – die gesündeste unter den Fertigpizzas – erscheinen.