Krieg und Frieden
Ist der Krieg unvermeidlich, vielleicht untrennbar mit der Spezies Mensch verknüpft? Vier Bücher über die Ursachen von Krieg und Frieden.

Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat den Krieg nach einer 70jährigen Phase des Friedens wieder nach Europa zurückgebracht – das war eine der ersten Reaktionen auf den russischen Überfall im Februar 2022, vergessend, dass in den 1990er Jahren der Jugoslawienkrieg Wunden schlug, die bis heute nicht verheilt sind und ebenso vergessend, dass Russland bereits 2014 die Krym annektierte. Die Bücher, die wir hier zum Thema Krieg und Frieden empfehlen, zeigen die Kontinuität des Krieges in der Geschichte der Menschheit und finden ganz unterschiedliche Antworten auf die Ursachen. Willkommen in kriegerischen Lektüren.
Buchtipp 1

Klassiker lesen
Lew Tolstoi. Krieg und Frieden. Sich in den Sommerferien einen Klassiker der Weltliteratur vorzunehmen, könnte ein guter Plan sein. Und wer Krieg und Frieden noch nicht gelesen hat, hat mit dem 2000 Seiten langen Roman eine der besten Lektüren vor sich. Grob betrachtet erzählt Lew Tolstoi die Geschichte von Napoléons Russlandfeldzug zwischen 1805 und 1812. Es ist ein historischer Roman, der die überaus komplizierte Weltpolitik von damals bis auf die Schlachtfelder von Borodino und Austerlitz rekonstruiert. Es ist aber auch die Geschichte davon, was Krieg mit den Menschen macht, insgesamt treten 300 Personen aus allen Schichten der damaligen Gesellschaft auf.
Die Haupthandlung erzählt Tolstoi jedoch aus Sicht von vier aristokratischen Familien der damaligen Zeit, den Besuchows, Balkonskis, den Rostows und Kuragins. Da geht es um Freundschaft, Rivalität, Anerkennung und Liebesgeschichten, aber auch um die Verantwortung und den Übermut in der Gesellschaft, den Sinn des Lebens, Religion und Politik, alles Themen, die im Angesicht des Krieges an Bedeutung zunehmen. Wer in Tolstois Universum eintaucht, ist im Bann einer vergangenen Zeit, findet jedoch in Anbetracht der aktuellen Konflikte Parallelen, die überaus aufschlussreich zum Verständnis der russischen Geschichte beitragen.
Tolstoi selbst verabscheute den Krieg, recherchierte minutiös und hat auf diesen 2000 Seiten einen Roman von immerwährender Gültigkeit geschaffen. Für die Lektüre empfiehlt sich die Übersetzung von Barbara Conrad, weil sie alte Geschichten in einen zeitgenössischen Rahmen bringt, was das Lesevergnügen noch um einiges besser macht.
Hanser, 71 Euro
Buchtipp 2

Ewiges Ringen
Tom Holland. Pax. Im Römischen Reich war so ziemlich alles anders als heute: Wer sich auf eine Zeitreise in die Welt eines Imperiums, permanent blutiger Machtkämpfe zwischen Herrschern an dessen Spitze und einer vollkommen selbstverständlichen Sklavenkultur begeben will, der sollte sich an den britischen Historiker Tom Holland halten.
Pax ist sein drittes Buch in einer Reihe und beschreibt eine Zeit, die gemeinhin als das Goldene Zeitalter des römischen Imperiums gilt. Konkret setzt die Erzählung mit der Ermordung des römischen Kaisers Nero im Jahre 69 n. Chr. ein. Das Reich erstreckte sich von Schottland bis Arabien, war nicht nur politisch, sondern auch kulturell und technologisch die stärkste Kraft. Ab der ersten Seite zieht einen diese für heutige Begriffe fremde Welt vollkommen in ihren Bann.
Denn so ziemlich alles war damals anders: das Menschenbild im Allgemeinen, die selbstverständlich ausgetragenen Machtkämpfe respektive Intrigen und Morde im Speziellen und die Praktiken des Liebes- bzw. Familienlebens sowieso.
Tom Holland ist bekannt dafür, seine historischen Bücher mit allerhand „Sex and crime“-Elementen auszustatten, er zelebriert Heldengeschichten, aber versteht es auch, Spannungsbögen zu erzeugen, die die Atmosphäre einer Epoche erlebbar machen. Fantastisch ist seine Nacherzählung des Ausbruchs des Vesuvs, der minutiös erzählt wird. Sonst geht es jedoch in erster Linie um blutrünstige Schlachten und allerhand interne Repression gegenüber den Minderheiten im eigenen Land.
Gut, dass diese Zeiten vorbei sind, mag sich der eine oder die andere beim Lesen denken. Obwohl: Macht haben ist im historischen und aktuellen Sinne eine anstrengende Sache, vielleicht aber in heutigen Demokratien nicht mehr lebensgefährlich wie in römischen Vorzeiten. Sicher ist: Pax, also Frieden, ist in Hollands Darstellung das Ergebnis ständiger Konflikte. Diese Erkenntnis ist das Ergebnis dieser fantastischen Zeitreise ins grausige alte Rom.
Klett-Cotta, 33,50 Euro
Buchtipp 3

Einblick und Ausblick für Israel
Ron Leshem. Feuer. Seit 7. Oktober ist Krieg in Israel. Wer dachte, der Überfall der Hamas sei aus heiterem Himmel passiert, wird in dieser minutiösen Dokumentation der Ereignisse eines Besseren belehrt. Der israelische Schriftsteller und Drehbuchautor John Leshem macht sich auf eine umfassende Spurensuche, die zu diesem schrecklichen Massaker führte.
Das kann er aus drei Gründen: Erstens hat Leshem früher im israelischen Geheimdienst gearbeitet und damit Hintergrundwissen, mit dem sich das Versagen Israels sowohl bei der Früherkennung als auch am Tag des Massakers nachvollziehbar machen. Minutiös und streckenweise kaum erträglich lässt er die Ereignisse Revue passieren. Dabei ist Leshem auch persönlich betroffen, seine Tante und sein Cousin wurden von der Hamas ermordet. Zweitens: Leshem ist ein begnadeter Erzähler; sein Abriss der Geschichte Israels ist eine konzise und überaus prägnante Zusammenfassung des israelischen Selbstverständnisses. Und drittens: Damit gelingt ihm auch der historische Befund eines zutiefst gespaltenen Landes, in dem religiöse Extremisten die Demokratie aushöhlen und der Präsident Benjamin Netanyahu die eigene politische Karriere vor das Wohl des Landes stellt.
Bei aller Dramatik und Betroffenheit gelingt Leshem eine sachliche Darstellung, in der auch das Leid der Palästinenser nicht ausgespart bleibt. Als Verfechter des Friedens sieht er den einzigen Ausweg in einer politischen Lösung, die er seinem Land immer noch zutrauen will. Ein aufrüttelndes und erkenntnisreiches Buch zum Verständnis des gesamten Mittleren Ostens.
Rowohlt, 25 Euro
Buchtipp 4

Krieg für Anfänger
Carlo Masala. Warum die Welt keinen Frieden findet. Wer sich Frieden wünscht, sollte über die Natur von Kriegen nachdenken, und weil die Menschen in Europa das in den letzten 70 Jahren viel zu wenig gemacht haben, ist Carlo Masalas Essay Warum die Welt keinen Frieden findet ein ziemlich perfekter Einstieg.
Krieg, so seine Überzeugung, ist ein integrativer Bestandteil der menschlichen Natur und deshalb seit Menschengedenken eine Begleiterscheinung der Geschichte. Für Neueinsteiger in die Materie definiert er den Terminus, differenziert verschiedene Konfliktarten und verortet sie als innere und äußere Konflikte. Die für ihn treffendste Definition ist jene, dass Krieg eine andauernde, koordinierte Gewalt zwischen politischen Akteuren ist – und folglich auch nur politisch gelöst werden kann. Auf dieser Basis erklärt er, in welchen politischen Konstellationen Auseinandersetzungen entstehen und wendet seine Thesen auch gleich auf die heutigen Kriege an.
Wer Putins Angriffskrieg verstehen will, wird bei Masala viele Erklärungen finden. Seine Einsichten, was alles zu Kriegen führen kann, sind systemisch und wohl strukturiert. Dabei zitierte er stets namhafte Militärhistoriker und geht auch der Frage nach, was Kriege verhindern kann. Vieles von dem, was er anspricht, räumt mit simplen Vorurteilen auf. Etwa, dass Krieg immer nur ein Kampf um Ressourcen wäre oder ein Motor, um die Wirtschaft anzukurbeln oder Waffensysteme zu verbessern.
Das Buch geht auch darauf ein, was Kriege verhindern kann. Ein ganzes Kapitel ist dem „Frieden durch Handel“ gewidmet: Er entlarvt diese Strategie als Illusion, seine Abgeklärtheit ist erschreckend ernüchternd. Demokratie, zeigt Masala, schützt ebenso wenig vor Kriegen und auch Institutionen wie der UN-Sicherheitsrat, der Oberste Strafgerichtshof oder Schiedsgerichten sind zahnlos, wenn Konflikte eskalieren.
Wirklicher Frieden, so seine Überzeugung, funktionierte nur, wenn sich alle Staaten auf eine Weltregierung einigen würden. Und weil das illusorisch ist, beklagt er, dass die Kriegsbereitschaft in westlichen Ländern verschwindend klein geworden ist – er spricht deshalb von postheroischen Gesellschaften. Interessant auch seine These, dass nukleare Waffen erwiesenermaßen Frieden sichern, weil sie wegen ihrer abschreckenden Wirkung zu „politischen Waffen“ werden. Kurzum: Die Situation in der Welt ist mit den Augen Masalas betrachtet ziemlich aussichtslos. Sein Fazit ist deshalb die Aufforderung, sich an den Krieg wieder zu gewöhnen und sich auf die uralten Regeln des Kräftemessens zu besinnen. Für Friedensverwöhnte bringt das Buch finstere Aussichten, aber auch erhellende Einsichten, die das Weltgeschehen in ein klares Licht rücken.
Brandstätter Verlag, 21 Euro.
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