Oh, Du Europa!
Europa wird gerne kleingeredet. Wir empfehlen hier Bücher, die erzählen, was an der Europäischen Union gut ist – und wie sie noch viel besser werden könnte.
Europa war lange ein wüster Kontinent, auf dem sich Nationalstaaten in regelmäßigen Abständen die Köpfe einschlugen. Das letzte Mal im Zweiten Weltkrieg. Mit der Idee eines vereinten Europas haben die interkontinentalen Konflikte ein Ende gefunden. Deshalb nennt Robert Menasse diese politische Idee „nachnational“ und bezeichnet sie als einzigartig in der Geschichte der Menschheit. Nach 77 Jahren ist der Friede in der EU selbstverständlich geworden. Und nationale Tendenzen werden wieder stärker, Verteidigung wurde vernachlässigt, Strukturen ausgehöhlt. Wenn die EU weiter ein Work in Progress sein soll, sollte weitergedacht werden. Vier Bücher über die inneren Schwächen der Staatengemeinschaft, ihre geopolitische Neuausrichtung und die Notwendigkeit für mehr Wehrhaftigkeit in Zeiten, in denen alte imperialistische Muster aus dem Osten wieder stärker werden.
Buchtipp 1
Konstruktive Kritik
Robert Menasse: Die Welt von Morgen. Nicht immer nur schimpfen, sondern genau hinsehen: Mit diesem Anspruch erforscht der österreichische Schriftsteller Robert Menasse den Status quo der Europäischen Union. Klingt sperrig, ist aber tatsächlich ein leichtfüßiger Essay in 38 Kapiteln, in denen kenntnis- und anekdotenreich alle Vorzüge und Belastungen der europäischen Gemeinschaft pointiert formuliert werden.
Menasse erinnert an die Anfänge der EU und führt aus, wie und warum der aufkeimende Nationalismus eine existenzielle Bedrohung ist. In Kapitel 26 legt er subtile Strategien der EU-Gegner offen; Worte wie Subsidiaritätsprinzip oder Nettozahler unterwandern das Zusammenwachsen Europas. Dem setzt Menasse die Idee eines „nach-nationalen Europas“ entgegen und sieht darin die einzige Chance zur Bewältigung der aktuell multiplen Krisen. Dabei hält er sich mit Kritik an der EU nicht zurück, hat aber stets Lösungen parat. Das ist inspirierend, diskussionswürdig und kann stolz machen, etwa dann, wenn er ausführt, warum Europa Avantgarde ist.
Suhrkamp, 24,50 Euro
Buchtipp 2
Die Idee seines Lebens
Christoph Leitl: Europa und ich. Rückblicke auf politische Karrieren sind ein eigenes Genre im Sachbuchsektor. Auch Christoph Leitl, ehemals Präsident der österreichischen Wirtschaftskammer, unternimmt nun eine Zeitreise und erzählt anekdotenreich die Entwicklung der Europäischen Union, bei der er live dabei war. Wandel durch Handel und persönliche Beziehungen ortet er als wichtige Tools für Frieden und Wohlstand.
Heute sieht er Bedrohungen durch Nationalismus und das Einstimmigkeitsprinzip bei wichtigen Entscheidungen auf europäischer Ebene. „Da beißt sich der EU-Hund in den Schwanz“, gibt er zu Protokoll. Bei solchen Sätzen blitzt die Hemdsärmeligkeit durch, für die Leitl bekannt ist. Schade nur, dass er wichtige Ereignisse wie Wladimir Putins viel beachteten Besuch in der Wirtschaftskammer 2018 (damals unter Leitls Ägide) in dieser Biografie unkommentiert lässt. Dabei wären es doch genau solche Reflexionen, die Lebensrückblicke zu Lehrstücken für zukünftige Generationen machen könnten.
Ecowing, 25 Euro
Buchtipp 3
Europa verteidigen
Erich Vad. Abschreckend oder erschreckend. Europa ohne Sicherheit. In Europa ist Krieg und seit 21. Februar 2022 sind militärstrategische Überlegungen zum medialen Mainstream geworden. Die zentrale Frage seit damals: Wann ist der Spuk wieder vorbei? Erich Vad scheint in dieser Frage kraft seiner Biografie ein kompetenter Auskunftsgeber zu sein. Er war General der deutschen Bundeswehr, hat in der NATO und im deutschen Verteidigungsministerium gearbeitet und war zuletzt Berater von Angela Merkel. Es mag deshalb kein Wunder sein, dass er ab der ersten Seite pessimistisch ist.
Russland ist groß, Russland ist in der Übermacht, Russland hat Atombomben. Deshalb muss eine politische Lösung her und moralische Kategorien wie Gut und Böse nicht zielführend – es spiegelt die deutsche Haltung der Vergangenheit, die auf Handel setzte. So gesehen ist Vads Buch ein historisches Dokument; wenn es um Lösungen geht, setzt er auf ein Vereinigtes Europa und eine gemeinsame Verteidigungspolitik und plädiert für Unabhängigkeit – auch von den USA. Beim Lesen ergibt sich in jedem Kapitel aber dann doch wieder eine Aussichtslosigkeit. Vad als Kenner der Realpolitik findet immer eher Hindernisse als Lösungen. Aber vielleicht liegt gerade in dieser Sammlung auch eine Kraft alte Denkschienen zu verlassen und Neues zu wagen.
Westend Verlag, 25,50 Euro
Buchtipp 4
Gemeinsame Kassa
Gabriel Felbermayr. Europa muss sich rechnen. Ökonomen halten sich an Zahlen, um die Welt zu begreifen. Ganz in diesem Sinne macht sich Gabriel Felbermayr auf, die Europäische Union nach marktwirtschaftlichen Kriterien zu durchleuchten. Als Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung fällt es ihm leicht, mit den relevanten Zahlen zu jonglieren.
Er rechnet vor, was die europäische Staatengemeinschaft wert ist, schätzt den EU-Binnenmarkt auf 500 Milliarden Euro – mit viel ungenutztem Potenzial. Allein das macht ihn schon zum bekennenden Europäer. Doch er macht auch klar, dass dieser theoretisch wertvolle Markt nur dann weiterbestehen kann, wenn in den nächsten Jahren umfassende Reformen angestoßen werden. Der Binnenmarkt allein ist nicht genug, sagt er, um das geopolitische Gewicht zu bewahren; er plädiert für gemeinsame Steuern, Budget- und Geldpolitik. In ihnen sieht er größeres Potenzial als in politischen Strategien, betont er immer wieder und sieht darin sogar Hebel, um in Asylfragen zu Lösungen zu kommen. Ökonomen an die Macht, das ist sein Motto – für wirtschaftlich Vorgebildete eine lösungsorientierte Lektüre.
Brandstätter Verlag. 21 Euro
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