Fortschritt verboten

Europa stolpert bei der Energiewende über eine Politik, der Kontrolle und Regulierung wichtiger sind als Unternehmergeist. Das unterminiert Wohlstand und Demokratie.

Eine große Hand kommt aus dem Weltall und stellt Windräder auf, wobei Atommeiler umgestoßen werden. Das Bild ist Teil eines Beitrags über die bremsende Rolle von Bürokratie.
Europa baut Windräder, statt auf Atomkraft zu setzen. © Andreas Leitner
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Auf den Punkt gebracht

  • Abhängigkeit. Die Infrastruktur der Energiewende beruht auf Komponenten, die China herstellt, Europa ist kein wettbewerbsfähiger Standort.
  • Fehlentscheidung. Statt Innovationen wie Atomkraft und Fracking auszubauen, hat man in Europa Atomkraftwerke abgebaut und verhindert Fracking.
  • Supernanny. Die Vorliebe für Bürokratie zeigt, dass der Staat lieber kontrolliert, als zu fördern. Darunter leidet auf Dauer der ganze Kontinent.
  • Inflation. Dass die Inflation in Europa so hoch ist, liegt daran, dass in Europa zu wenig produziert aber sehr viel konsumiert wird.

Manche Ärgernisse, unter denen die Bewohner moderner Industriestaaten ächzen, sind viel älter, als man denken würde. So beschäftigte sich der französische Philosoph Alexis de Tocqueville schon im Jahr 1840 mit dem, was wir heute als „Nanny-Staat“ bezeichnen: einer Überregulierung sämtlicher Lebensbereiche, die den Bürgern jede Eigenverantwortung nimmt und sie in kindlicher Abhängigkeit hält.

Mehr Staats- und Bürokratie-Kritik

Der Staat schicke sich an, zur väterlichen Figur zu werden, die durch ihre Fürsorge immer mehr Menschen in ihren Bann ziehe, erkannte de Tocqueville. Wer sich dem widersetze, werde gefügig gemacht – nicht mit Gewalt, sondern mit kleinlichen Regulierungen, welche selbst den originellsten Geist in die Verzweiflung treiben würden.

Der Staat „zerstört nicht, er verhindert die Schaffung von Neuem, er tyrannisiert nicht, er stellt sich in den Weg, er schränkt ein, er entkräftet, er betäubt, und schließlich reduziert er jede Nation auf eine Herde von furchtsamen und betriebsamen Schafen, mit dem Staat als Hirten“.

Bürokratie behindert Innovation

Diese Diagnose trifft heute mehr denn je zu. Europa hat seine wirtschaftliche Führungsrolle auch deshalb verloren, weil die kreativen und innovativen Energien seiner Bürger sukzessive behindert wurden. Man klagt hier gerne über den exzessiven Reichtum der amerikanischen Tech-Milliardäre Musk, Bezos und Zuckerberg, vergisst dabei jedoch, dass die Abwesenheit solcher Milliardäre auf dem alten Kontinent weniger mit einer gerechteren Verteilung zu tun hat als mit als dem Verschlafen der digitalen Revolution.

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Zahlen & Fakten

Die meisten der hundert größten europäischen Konzerne wurden vor den 1980ern gegründet, und während in den USA Facebook, Amazon und eBay entstanden, stand Europa still. Selbst als China mit Alibaba und WeChat nachzog und eigene digitale Zahlungssysteme entwickelte, führte das bei uns nicht zu erhöhter Betriebsamkeit.

Unter den zehn größten Investoren in Forschung und Entwicklung befinden sich ein deutsches (VW), ein südkoreanisches (Samsung), ein chinesisches (Huawei) und ein schweizerisches (Roche) Unternehmen – die restlichen sechs sind in amerikanischer Hand, mit Amazon und Alphabet an der Spitze. Der Zukunftsmarkt AI (künstliche Intelligenz) wird von zehn amerikanischen Unternehmen dominiert, und es dürfte niemanden überraschen, dass die Software ChatGPT von einem 2015 im Silicon Valley gegründeten Unternehmen entwickelt wurde.

Auch wenn es ohne Zweifel Ausnahmen gibt, steht Europa bei den Zukunftstechnologien nicht in der vordersten Reihe. Nur in den Bereichen Regulierung und Datenschutz sind wir führend. Das ist zweifellos auch wichtig, aber ein nachhaltiges Wirtschaftsmodell lässt sich darauf nicht aufbauen. Es reicht nicht, das zu regulieren, was andere entwickelt haben. Richtig wäre, zuerst in der Entwicklung zur Weltspitze aufzuschließen und sich nachher über Regularien Gedanken zu machen.

Schildbürgerstreiche

Dieselben Schwächen offenbaren sich auch in der Energiepolitik. So wie wir Europäer gerne Facebook, Twitter, Instagram, TikTok und Amazon nutzen, ohne uns darüber Gedanken zu machen, wer diese Software eigentlich kontrolliert, begeisterten wir uns auch für Erdgas, ohne allzu viel über dessen Herkunft nachzudenken.

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Zahlen & Fakten

In den USA läuft das ganz anders. Dort begann mit dem Fracking-Boom vor 15 Jahren eine Revolution, die wesentlich zur Überwindung der Rezession von 2008 beitrug und die USA vom größten Energiekonsumenten zum größten Energieproduzenten der Welt machte. Fracking ist keine unproblematische Technologie, für die amerikanische Wirtschaft überwiegen jedoch die Vorteile. In Europa hingegen versuchte man wie so oft eine Kombination aus Verbot und Umgehung. So gibt es seit 2011 Fracking-Verbote in zahlreichen europäischen Staaten. Das war übrigens just das Jahr, in dem Nord Stream 1 in Betrieb ging und der Ausstieg Deutschlands aus der Kernkraft beschlossen wurde.

Der Ukrainekrieg macht nun einen Stopp der Gasimporte aus Russland notwendig, doch weil in die eigene Förderung kaum investiert wurde, muss Europa amerikanisches Flüssiggas kaufen – zu einem wesentlich höheren Preis als das zuvor verfügbare Pipelinegas.

Die neue Abhängigkeit

Man sollte denken, diese Erfahrung wäre Grund genug, um ein Umdenken einzuleiten. Leider nein – die von Europa betriebene Energiewende führt direkt in die nächste Abhängigkeit: Unter den zehn größten Herstellern von Batterien für Elektrofahrzeuge befinden sich sechs in China, drei in Südkorea und einer in Japan.

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Zahlen & Fakten

Abgemeldet ist Europa auch in der Halbleitertechnologie, die von China, Japan, Südkorea, Taiwan und den USA dominiert wird. Das gleiche Bild zeigt sich bei den Komponenten für Wind- und Solarenergie: Fast 90 Prozent der Photovoltaikanlagen in Deutschland sind Importe aus China – das bei den Ressourcen zur Herstellung erneuerbarer Energien dominanter ist als die OPEC im globalen Rohölmarkt.

Die Ankündigung von Politikern, man werde diese Industrien nach Europa zurückholen, ist nur schwer mit der Realität in Einklang zu bringen. Denn gleichzeitig findet ein Exodus vieler Unternehmen in die USA oder nach Asien statt, wo sie bessere Bedingungen vorfinden. Der europäische Wirtschaftsraum wird in den Schlüsselindustrien der Zukunft zunehmend wettbewerbsunfähig.

Vielen Europäern sind etwa Saudi-Arabien oder die Vereinigten Arabischen Emirate bis heute nur als Rohstoffexporteure oder Urlaubsziele ein Begriff, aber in der Region weht ein anderer Wind. Abu Dhabi feierte kürzlich den in Rekordzeit in Betrieb genommen dritten Reaktor des Atomkraftwerkes Barakah, der vom südkoreanischen Konzern KEPCO gebaut wurde.

Auch in dieser Technologie hat Europa längst keinen Führungsanspruch mehr. Selbst die in der EU geplanten neuen Kernkraftwerke werden von amerikanischen und südkoreanischen Unternehmen (in Polen) oder dem russischen Konzern Rosatom (in Ungarn) gebaut. Saudi-Arabien verfügt laut Schätzungen über bis zu fünf Prozent der weltweiten Uran-Reserven und plant ebenfalls, in die Kernenergie einzusteigen. Man hat dort verstanden, dass wirtschaftliche Entwicklung eng mit leistbarer Energie verknüpft ist und es ein Fehler wäre, sich nur auf eine Energieform zu beschränken.

Kontinent der Regulation

In den meisten europäischen Hauptstädten scheint man gedanklich noch in den 1950ern zu leben, als es für den Westen keine Konkurrenz gab und halb Europa hinter dem Eisernen Vorhang vom Rest der Welt abgeschottet war. Doch diese für Westeuropa glorreichen Zeiten sind vorbei. Ein Wirtschaftsraum mit schrumpfender Produktions- und Innovationskraft wird irgendwann seinen Wohlstand verlieren.

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Zahlen & Fakten

Von einem Kontinent der Erfinder wurde Europa zum Kontinent der Regulatoren, wo jeder Flughafen, jede Energietrasse und jeder Staudamm über ein Jahrzehnt an Planung benötigen und Vorschriften jegliche Innovation ausbremsen. Wenn viel konsumiert, aber nur begrenzt produziert wird, muss fast zwangsläufig Inflation entstehen – wie wir es jetzt erleben.

Doch statt sich all dieser strukturellen Defizite anzunehmen, fällt die Politik zurück in ihre Rolle als Gouvernante und bemüht sich um Symptombekämpfung, statt die Probleme an der Wurzel zu packen. Energiepreisbremsen, Teuerungsbonus, Verbote von Mietanpassungen oder das Versprechen einer Viertagewoche mit vollem Lohnausgleich sind dafür die besten Belege.

Gelangt die Kontrollmacht des Staates an ihre Grenzen, kann auch die Demokratie schnell in eine Krise geraten. Denn irgendwann schlägt die Unzufriedenheit der Bürger in Wut auf das System um, das sie für ihre persönliche Misere verantwortlich machen. Es geht also nicht nur um die wirtschaftliche Zukunft Europas, sondern auch um die politische Stabilität.

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Conclusio

Bürokratie statt Innovation, Nanny-Staat anstatt Eigenverantwortung: In seinem jetzigen Korsett wird Europa an Wohlstand einbüßen. Dabei herrscht hier kein Mangel an klugen Köpfen, man hat im Moment aber ein „Anreiz“-System, das deren Entfaltung verhindert. Die aktuellen Defizite könnten mit Reformen im Bildungssektor und einem raschen Bürokratieabbau behoben werden. Die Stärke Europas während der Renaissance und Aufklärung war es, ungeniert von anderen zu lernen. Man sollte sich dessen auch heute wieder besinnen, denn es gibt keinen Grund, warum Brüssel und Wien nicht so gut verwaltet sein könnten wie Singapur oder dass die Universität Wien nicht mit Cambridge oder Harvard mithalten könnte. Den entsprechenden politischen Willen vorausgesetzt, wäre ein europäischer Wiederaufstieg durchaus möglich.

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